dbb magazin Soziale Selbstverwaltung | Sicherheit für Versicherte Interview | Andrea Nahles, Vorsitzende des Vorstandes der Bundesagentur für Arbeit Sozialversicherung | Selbstverwaltung braucht mehr Kompetenzen 3 | 2025 Zeitschrift für den öffentlichen Dienst
STARTER Klare Signale für ein starkes Gemeinwesen Gerade in Zeiten wirtschaftlicher Unsicherheit und geopolitischer Spannungen sind Einkommenserhöhungen für die Beschäftigten im öffentlichen Dienst nicht nur legitim, sondern dringend erforderlich. Unsere Kolleginnen und Kollegen leisten in allen Bereichen des öffentlichen Dienstes unverzichtbare Arbeit für die Gesellschaft. Wer erwartet, dass diese tragenden Säulen des Gemeinwohls stabil bleiben, muss für eine faire Entlohnung sorgen. Die Inflationsrate der vergangenen Jahre hat dazu geführt, dass die realen Einkommen vieler Beschäftigter gesunken sind: Steigende Mieten, Energiekosten und Lebensmittelpreise belasten hauptsächlich diejenigen, die ohnehin keine hohen Gehaltszuwächse zu verzeichnen haben. Ohne Anpassungen verlieren sie real an Kaufkraft. Zudem steht der öffentliche Dienst vor massiven Personalproblemen: Nachwuchskräfte sind schwer zu gewinnen, Fachkräfte wandern in die besser zahlende Privatwirtschaft ab. Ohne wettbewerbsfähige Löhne droht ein schleichender Funktionsverlust zentraler staatlicher Aufgaben. In Krisenzeiten zeigt sich, dass eine funktionierende Infrastruktur unverzichtbar ist. Aufrechterhalten und weiterentwickelt werden kann sie nur mit motivierten und fair entlohnten Beschäftigten. Deshalb ist es unverständlich, warum die Arbeitgeberseite in der laufenden Einkommensrunde für die Beschäftigten von Bund und Kommunen erneut an alten Ritualen festhält und kein Angebot vorlegt. Es geht nicht nur um Gerechtigkeit, sondern ebenso um eine weitsichtige wirtschafts- und gesellschaftspolitische Entscheidung. Wer den öffentlichen Dienst schwächt, schwächt das ganze Land. Dagegen protestieren die Beschäftigten und setzen mit ihren Demonstrationen und Warnstreiks klare Signale für gerechte Löhne und ein starkes Gemeinwesen. br 12 4 14 TOPTHEMA Soziale Selbstverwaltung 24 AKTUELL EINKOMMENSPOLITIK Einkommensrunde Bund und Kommunen: Kundgebung als Zeichen der Solidarität mit den Betroffenen des Anschlags von München 4 Warnstreiks, Kundgebungen, Demonstrationen: Selbstbewusst für bessere Arbeitsbedingungen 5 NACHRICHTEN Bürokratieabbau: Hemsing fordert klare Strukturen und ehrliche Aufgabenkritik 7 BILDUNG Bildungspolitische Gespräche: Beschäftigte garantieren Leistungsfähigkeit 9 VORGESTELLT Initiative für einen handlungsfähigen Staat: Mit Reformen zu neuem Vertrauen 10 FOKUS INTERVIEW Andrea Nahles, Vorsitzende des Vorstandes der Bundesagentur für Arbeit: Wir gestalten den Strukturwandel aktiv mit 12 DOSSIER SELBSTVERWALTUNG Sozialversicherung: Selbstverwaltung braucht mehr Kompetenzen und Verfassungsrang 14 Parlament der Deutschen Rentenversiche- rung: Ehrenamtlich für sozialen Frieden 17 Drei Fragen an dbb Vize Maik Wagner: Bürgernähe für die Selbstverwaltung 19 Versichertenberater: „Ich hab’ kein Helfersyndrom“ 20 ONLINE IT-Industrie: In den Krallen der amerikanischen Tech-Tiger 24 GESUNDHEIT Bundes-Klinik-Atlas: Wer die Wahl hat, muss sich informieren 28 MITBESTIMMUNG Gewerkschaftsarbeit im Betrieb: Digitales Zugangsrecht auf dem Prüfstand 30 SERVICE Impressum 41 KOMPAKT GEWERKSCHAFTEN 42 © Jan Brenner AKTUELL 3 dbb magazin | März 2025
EINKOMMENSPOLITIK Einkommensrunde Bund und Kommunen Kundgebung als Zeichen der Solidarität mit den Betroffenen des Anschlags von München Vor der zweiten Runde der Tarifverhandlungen für die Beschäftigten von Bund und Kommunen haben sich die Sozialpartner mit den Betroffenen des Anschlags von München solidarisiert. Arbeitgebende und Gewerkschaften versammelten sich am 17. Februar 2025 gemeinsam vor dem Verhandlungsort in Potsdam, um ein Zeichen der Solidarität zu setzen und ihrer Trauer und ihrem Ärger Ausdruck zu verleihen. Am Donnerstag zuvor war ein Mann aus Afghanistan in München mit seinem Auto in eine Demonstration der Gewerkschaft ver.di gefahren. Eine Mutter und ihre zweijährige Tochter kamen bei dem schrecklichen Anschlag ums Leben. Außerdem wurden über 30 Menschen teilweise schwer verletzt. Der dbb Verhandlungsführer Volker Geyer sagte: „Das feige Attentat zeigt, dass wir in diesen Zeiten in besonderer Weise gemeinsam herausgefordert sind. Unsere friedliche Art, die Arbeits- und Entgeltbedingungen für unsere Kolleginnen und Kollegen tarifautonom auszuhandeln, wird durch solche Gewalttaten infrage gestellt. Deshalb wünsche ich mir, dass aus unserer gemeinsamen Trauer am Ende auch gemeinsamer Mut erwächst, unsere demokratischen Rechte auch in Zukunft offensiv wahrzunehmen. Wer demnächst wieder für unsere Ziele auf die Straße geht, braucht mehr Mut als bisher. Denn er oder sie weiß auch, dass das Wahrnehmen demokratischer Rechte weltweit immer mehr bedroht ist.“ Ergebnislose Verhandlungen und weitere Warnstreiks Nachdem auch die zweite Verhandlungsrunde zwischen den Gewerkschaften und den Arbeitgebenden von Bund und Kommunen am Abend des 18. Februar ohne Ergebnis zu Ende gegangen war, kündigten dbb und ver.di eine neue Welle von Warnstreiks und Demonstrationen an. „Bund und Kommunen verweigern ein konkretes Verhandlungsangebot. Die Gewerkschaften werden den Druck jetzt erhöhen und landesweit Warnstreiks organisieren“, sagte dbb Verhandlungsführer Volker Geyer am 18. Februar 2025 in Potsdam. „Ohne weitere Warnstreiks kommen wir hier wohl nicht weiter. Die Arbeitgebenden blockieren eine Lösung und verkennen den Ernst der Lage. Statt mit uns über eine Verbesserung der Arbeits- und Einkommensbedingungen zu verhandeln, verweisen sie bei jedem inhaltlichen Punkt immer wieder nur auf ihre ‚leeren Kassen‘“, so Geyer weiter. Die Beschäftigten seien nicht verantwortlich für die Misere der öffentlichen Haushalte, und der dbb werde nicht zulassen, dass sie die Zeche zahlen. „Damit in der dritten Runde überhaupt die Chance auf einen Abschluss besteht, muss der Druck auf die Arbeitgeber deutlich erhöht werden. In den nächsten drei Wochen werden wir deshalb überall im Land Warnstreiks und Protestaktionen organisieren. Anders bekommen wir die Arbeitgebenden offensichtlich nicht aus ihrer Blockadehaltung.“ _ Volker Geyer, Karin Welge (VKA), Susi Lutz und Frank Werneke (beide ver.di, von links) gedachten der Opfer des Anschlags von München. © Kerstin Seipt (2) Auf der Suche nach konstruktiven Lösungen: dbb Verhandlungsführer Volker Geyer bei Beratungen in der dbb Verhandlungskommission. 4 AKTUELL dbb magazin | März 2025
Warnstreiks, Kundgebungen, Demonstrationen Selbstbewusst für bessere Arbeitsbedingungen Bundesweit haben Tausende Beschäftigte des öffentlichen Dienstes von Bund und Kommunen für höhere Einkommen und bessere Rahmenbedingungen ihrer Arbeit demonstriert. Das deutliche Signal an die Arbeitgeberseite: Wer eine zukunftsfähige Daseinsvorsorge will, muss ins Personal investieren. Bereits am 28. Januar hatten Beschäftigte mit einem ersten Warnstreik in Aachen ein lautstarkes Signal Richtung Arbeitgeber gesendet. „Der öffentliche Dienst ist am Limit“, warnte Herrmann-Josef Siebigteroth, Bundesvorsitzender der dbb Mitgliedsgewerkschaft VDStra. und stellvertretender Vorsitzender der Geschäftsführung der dbb Bundestarifkommission, vor 1 000 Teilnehmenden. „Angesichts der massiven Fachkräftelücke können es sich die Arbeitgeber nicht leisten, unsere berechtigten Forderungen zu ignorieren.“ Der Personalmangel sei nicht nur für den öffentlichen Dienst problematisch, sondern gefährde die Handlungsfähigkeit des Staates – und im Falle des Straßenbetriebsdienstes auch die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger. Ingo Bings, Landesvorstandsmitglied der komba gewerkschaft nrw, machte deutlich: „Um den öffentlichen Dienst zu stärken, müssen die Arbeitgeber endlich in die Beschäftigten investieren, statt sie permanent nur zu vertrösten.“ Ebenfalls rund 1 000 Kolleginnen und Kollegen beteiligten sich am 4. Februar an einem Warnstreik in Bonn. „Ernst gemeinte Wertschätzung, Attraktivität und Entlastung sind die Säulen der Forderungen für die Beschäftigten in dieser Einkommensrunde. Das braucht es, um den öffentlichen Dienst und seine Beschäftigten endlich nachhaltig zu stärken“, sagte die Vorsitzende der komba nrw, Sandra van Heemskerk. Der Vorsitzende der dbb jugend, Matthäus Fandrejewski, erklärte: „Von der wirtschaftlichen Unsicherheit, die leider aktuell für viele ein Thema ist, sind auch viele junge Menschen betroffen. Deshalb ist es entscheidend, dass Bund und Kommunen endlich mit den Ländern gleich © Friedhelm Windmüller © Roberto Pfeil © Ulrich Paeslack © Ulrich Paeslack Aachen, 28. Januar Bonn, 4. Februar Lüneburg, 12. Februar AKTUELL 5 dbb magazin | März 2025
Alle Aktionen, Bildergalerien und Hintergrundinfos: dbb.de/einkommensrunde Webtipp ziehen und die unbefristete Übernahme bei erfolgreicher Berufsausbildung garantieren. Alles andere ist angesichts des Fachkräftemangels nicht vermittelbar!“ In Peine, Salzgitter und Göttingen kam es am 5. Februar 2025 zu Protestaktionen. Alexander Zimbehl, 1. Landesvorsitzender dbb niedersachsen, sagte in Peine vor 900 Beschäftigten: „Die Zeiten des Sparkurses zulasten unserer Beschäftigten müssen endlich und ein für alle Mal vorbei sein! Unsere Kolleginnen und Kollegen haben es sich verdient, denn sie sind es, die dieses Land am Laufen halten!“ Zu Protesten im Gesundheitsbereich kam es am 12. Februar bei einem bundesweiten Krankenhaus-Aktionstag in Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Bayern. In Lüneburg demonstrierten Beschäftigte aus dem Gesundheitsbereich und den kommunalen Straßenmeistereien vor dem Psychiatrischen Krankenhaus. Andreas Hemsing, stellvertretender Bundesvorsitzender des dbb und Bundesvorsitzender der komba gewerkschaft, warnte vor den langfristigen Folgen der Blockadehaltung von Bundesinnenministerin Nancy Faeser und der Präsidentin der kommunalen Arbeitgeber, Karin Welge: „Diese Haltung spiegelt fehlende Wertschätzung wider und ist besorgniserregend. Uns fehlen bereits heute über 570 000 Menschen im öffentlichen Dienst, und die Stellen sind immer schwerer zu besetzen.“ Im bayerischen Ansbach demonstrierten am 13. Februar rund 1 000 Beschäftigte. „Alle klagen darüber, dass das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit des Staates und die Glaubwürdigkeit der Politik insgesamt abnehmen, aber niemand zieht die notwendigen Konsequenzen“, sagte dbb Verhandlungsführer Volker Geyer. „Die Konsequenz müssten Investitionen sein: Investitionen in Personal, damit der Staat seine Aufgaben wieder zuverlässig erledigen kann. Und gutes Personal bekommt man nur, wenn man gut bezahlt.“ Rainer Nachtigall, Vorsitzender des Bayerischen Beamtenbundes, pflichtete Geyer bei: „Es ist offensichtlich, dass beim öffentlichen Dienst eine enorme Personallücke klafft. Da wird es schwierig, allen Aufgaben gerecht zu werden.“ Eine weitere Kundgebung fand in Krefeld statt. Beschäftigte von Zoll und Bundespolizei hatten sich in ihrer Mittagspause am 13. Februar vor dem Frankfurter Hauptzollamt lautstark für höhere Einkommen und bessere Arbeitsbedingungen eingesetzt. „Zoll und Bundespolizei sind angesichts der aktuellen politischen Entwicklung am Limit – wie der gesamte öffentliche Dienst“, stellte Adelheid Tegeler, stellvertretende Bundesvorsitzende des BDZ Deutsche Zoll- und Finanzgewerkschaft und Mitglied der dbb Bundestarifkommission, fest. „Für die Beschäftigten bei Zoll und Bundespolizei erhöht sich die Arbeitsbelastung gerade massiv: Die Päckchenflut aus Asien für die einen und Aufgaben wie der Schutz der Grenzen für die anderen sorgen zusammen mit der stetig wachsenden Fachkräftelücke für härtere Arbeitsbedingungen“, so Tegeler. _ Pflegeschülerinnen und -schüler demonstrierten am 12. Februar in Erlangen. Krefeld, 13. Februar dbb Verhandlungsführer Volker Geyer am 13. Februar in Ansbach. Frankfurt, 13. Februar © Daniela Mortara © Benz + Heinig Fotografen © Monika Gillesen © Anestis Aslanidis 6 AKTUELL dbb magazin | März 2025
dbb gegen Verkauf von Post und Telekom Kritische Infrastruktur gehört unter staatliche Kontrolle dbb und DPVKOM weisen Vorschläge zum Verkauf der Bundesanteile an Post und Telekom zurück. Kritische Infrastruktur gehört unter staatliche Kontrolle. Der Vorschlag des Chefs der Monopolkommission der Bundesregierung, Tomaso Duso, auch die seit der Privatisierung beim Bund verbliebenen Anteile an Deutscher Telekom und Post zu verkaufen, stoßen beim dbb und der Kommunikationsgewerkschaft DPVKOM auf Widerstand. „Die kritische staatliche Infrastruktur muss unter staatlicher Kontrolle bleiben“, kritisierte dbb Vize Volker Geyer den Vorschlag, über den die Süddeutsche Zeitung berichtete (Ausgabe vom 12. Februar 2025). „Die Eigentumsverhältnisse bei Post und Telekom nur unter Aspekten der Wettbewerbsförderung zu sehen, ist falsch. Staatliche Kontrolle und Gemeinwohlorientierung sind mindestens ebenso wichtig, gerade bei der kritischen Infrastruktur.“ Christina Dahlhaus, Bundesvorsitzende der DPVKOM, schloss sich dieser Kritik an: „Es ist bald 30 Jahre her, dass die Telekom an die Börse gegangen ist. Bei der Post sind es 25 Jahre. Seither gelten in beiden Konzernen nur noch die Regeln des Wettbewerbs und der Gewinnmaximierung. Ich kann nicht sehen, dass das für die Kunden oder die Beschäftigten gut war, für die Aktionäre vielleicht. Staatliches Handeln sollte sich aber an den Interessen der Allgemeinheit orientieren, nicht an denen des Aktienmarkts.“ _ Bürokratieabbau Hemsing fordert klare Strukturen und ehrliche Aufgabenkritik Der stellvertretende dbb Bundesvorsitzende Andreas Hemsing hat am 21. Januar 2025 beim Thementag „Gesetze, Akten und Strukturen – wie Bürokratieabbau in der Praxis ankommt“ klare Strukturen und eine ehrliche Aufgabenkritik gefordert. Die Veranstaltung fand auf der OnlineDiskussionsplattform NeueStadt.org statt und wurde vom „Behörden Spiegel“ organisiert. Hemsing betonte, dass der Staat handlungsfähig bleiben müsse. „Die Umsetzung neuer Gesetze muss viel konsequenter als bisher mitgedacht werden“, sagte er. Er kritisierte, dass in der Vergangenheit der Zuwachs an Aufgaben und Regeln in der Verwaltung viele neue Hemmnisse geschaffen habe. „Bürokratieabbau darf nicht länger nur ein Schlagwort sein. Damit er in der Praxis ankommt, müssen klare Strukturen und die Einbeziehung aller Akteure in Bund, Ländern und Kommunen dahinterstehen“, forderte Hemsing. Er warnte, dass Frust entstehe, wenn Bürgerinnen und Bürger das Gefühl hätten, der Staat werde seinen Aufgaben nicht mehr gerecht. „Für Rechtssicherheit und gleichwertige Lebensverhältnisse braucht es Regeln, aber keine Überregulierung“, stellte Hemsing klar. Er forderte, dass Beschäftigte im öffentlichen Dienst neue Ermessensspielräume erhalten, was ein „gewisses Grundvertrauen“ seitens der Politik in die Verwaltung und ihre Mitarbeitenden voraussetze. Hemsing wies darauf hin, dass dies besonders auf kommunaler Ebene sichtbar werde, wo Gesetze nah am Bürger umgesetzt werden. Er betonte, dass Digitalisierung und neue Möglichkeiten durch künstliche Intelligenz (KI) aufgrund demografischer Faktoren nicht alle Belastungen durch überbordende Bürokratie auffangen könnten. „Digitalisierung ist ein enorm wichtiges Thema, das derzeit aufgrund der föderalen Struktur der Bundesrepublik aber nicht zentral gedacht wird“, kritisierte Hemsing, der auch Bundesvorsitzender der komba gewerkschaft für den Kommunal- und Landesdienst ist. Als Lösungsansätze brachte Hemsing die konsequente Anwendung von Praxistests für neue Gesetze und die Evaluierung alter Gesetze auf deren Praxistauglichkeit ins Spiel. Das liege nicht nur in der Verantwortung der Politik, sondern ebenso – Stichwort Fehlerkultur – in der Verantwortung der Führungskräfte in den Verwaltungen, die offen für interne Aufgabenkritik sein müssten. Ferner müssten die Stammdaten der Bürgerinnen und Bürger im Zuge der Digitalisierung endlich über alle Gebietskörperschaften hinweg im Sinne des Once-Only-Prinzips verfügbar sein, um Verwaltungsprozesse zu straffen. Mit Andreas Hemsing diskutierten Dorothea Störr-Ritter, Ratsmitglied Nationaler Normenkontrollrat, und Dr. Christian Ege, Staatssekretär a. D. und Gründer von BürokratEASY. _ Model-Foto: Colourbox.de © Unsplash.com/Mika Baumeister NACHRICHTEN AKTUELL 7 dbb magazin | März 2025
INITIATIVE Diversitätsstrategie der Bundesregierung Mehr Vielfalt im öffentlichen Dienst Die Bundesregierung hat mit ihrer neuen Diversitätsstrategie ein klares Zeichen gesetzt: Vielfalt im öffentlichen Dienst soll nicht nur gefördert, sondern auch strukturell verankert werden. Der dbb begrüßt diese Entwicklung ausdrücklich – insbesondere die stärkere Fokussierung auf die Personalgewinnung. Der Koalitionsvertrag für die 20. Legislaturperiode beinhaltete den Auftrag für eine „ganzheitliche DiversityStrategie mit konkreten Fördermaßnahmen, Zielvorgaben und Maßnahmen für einen Kulturwandel“. Der nun vorgelegte Strategieentwurf ist das Ergebnis eines zweijährigen Prozesses, in dem die ganzheitliche Diversitätsstrategie unter Beteiligung aller Bundesressorts und der gewerkschaftlichen Spitzenorganisationen von dbb und DGB sowie zahlreicher Beauftragter der Bundesregierung entwickelt wurde. „Der öffentliche Dienst ist in jeder Hinsicht vielfältig. Das gilt nicht nur für die unzähligen Arbeitsbereiche, das gilt natürlich auch für die Menschen im öffentlichen Dienst. Bei uns zählen nur Eignung, Befähigung und fachliche Leistung, nicht Herkunft, Religionszugehörigkeit oder sexuelle Orientierung“, sagte der dbb Bundesvorsitzende Ulrich Silberbach am 29. Januar 2025 in Berlin. „Mit der beschlossenen Diversitätsstrategie kann die Attraktivität der Bundesverwaltung für alle Bevölkerungsgruppen gesteigert werden. Das ist ein starkes Signal.“ Gerade angesichts des demografischen Wandels brauche der öffentliche Dienst neue Ansätze, um qualifizierte Bewerberinnen und Bewerber gezielt anzusprechen. Leistung bleibt entscheidend Gleichzeitig betont der dbb die Notwendigkeit, bei allen Diversitätsmaßnahmen den Leistungsgrundsatz nicht aus den Augen zu verlieren. Eignung, Befähigung und fachliche Leistung bleiben die zentralen Kriterien für den Zugang zum öffentlichen Dienst. „Entscheidend wird sein, dass dieser Anspruch auch in der Praxis konsequent umgesetzt wird – sowohl bei der Einstellung als auch in der Personalentwicklung“, so Silberbach. Beschäftigtennetzwerke einrichten, Zielvorgaben für mehr Vielfalt definieren, Chancengleichheit erhöhen – all das ist Teil des beschlossenen Pakets. Der dbb unterstütze jegliche Maßnahmen, um Menschen anzusprechen, die Interesse an einer Karriere in der Bundesverwaltung haben, betonte der Bundesvorsitzende. „Hierbei denke ich insbesondere an Menschen mit Einwanderungsgeschichte. Denn eine vielfaltsbewusste Personalstrategie wird auch der gesellschaftlichen Entwicklung gerecht.“ Neben der Personalgewinnung setzt die Strategie auch auf eine umfassende Organisationsentwicklung. Maßnahmen wie hauseigene Diversitätsstrategien, klare Zielvorgaben und Beschäftigtennetzwerke sollen für eine nachhaltige Veränderung sorgen. Der dbb unterstützt diese Ansätze grundsätzlich, weist jedoch darauf hin, dass die Personalvertretungen hierbei eine entscheidende Rolle spielen müssen und ihre gesetzlich verankerten Aufgaben und Rechte bei der Umsetzung stärker berücksichtigt werden sollten. Die neue Diversitätsstrategie ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Silberbach: „Jetzt müssen die Maßnahmen konsequent in die Personalentwicklung integriert werden. Vielfalt kann nur dann nachhaltig gefördert werden, wenn sie nicht nur als Absichtserklärung bestehen bleibt, sondern aktiv gelebt wird.“ _ Die ganzheitliche Diversitätsstrategie der Bundesregierung „Gemeinsam für mehr Vielfalt in der Bundesverwaltung“ als PDF: t1p.de/diversity_bund Webtipp © getty images/Unsplash.com 8 AKTUELL dbb magazin | März 2025
BILDUNG Bildungspolitische Gespräche Beschäftigte garantieren Leistungsfähigkeit Im Vorfeld der Bundestagswahl haben Expertinnen des dbb mit führenden Bildungspolitikern über Konzepte für eine nachhaltige Politik diskutiert. Wie zukunftsfähig ist das deutsche Bildungssystem? Diese Frage stand im Mittelpunkt eines länderübergreifenden Austauschs zwischen den Bildungsministerinnen aus Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein. Ergebnis war das Impulspapier „Bessere Bildung 2035“, das messbare Ziele, Indikatoren und Maßnahmen für die kommenden zehn Jahre vorschlägt. Im Gespräch mit Simone Fleischmann, stellvertretende Bundesvorsitzende des dbb und des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE), sowie mit Susanne Lin-Klitzing, Vorsitzende des Deutschen Philologenverbands (DPhV) und der dbb Fachkommission Schule, Bildung und Wissenschaft, nahm Karin Prien Stellung. Prien ist stellvertretende Bundesvorsitzende der CDU und Ministerin für Allgemeine und Berufliche Bildung, Wissenschaft, Forschung und Kultur in Schleswig-Holstein. Bildung im Wahlkampf vernachlässigt „Bildungsthemen haben im Wahlkampf eine erschreckend kleine Rolle gespielt“, kritisierte Simone Fleischmann am 17. Februar 2025. „Dabei sind die Folgen des überlasteten Bildungssystems längst Realität: Kitaplätze sind Mangelware, der Lehrkräftemangel führt zu Unterrichtsausfällen und die Beschäftigten arbeiten seit Jahren am Limit. Bildungsstudien liefern regelmäßig alarmierende Ergebnisse, doch der große Wurf bleibt aus.“ Susanne Lin-Klitzing betonte: „Als gewerkschaftliche Spitzenorganisation des öffentlichen Dienstes verstehen wir uns als kritisch-konstruktiver Partner der Politik. Wir benennen Probleme und treiben kluge Reformen voran. Die aktuellen parteiübergreifenden Vorschläge für ein besseres Bildungssystem bis 2035 sind eine gute Diskussionsgrundlage, müssen aber durch konkrete Maßnahmen untermauert werden.“ Zu den Vorschlägen gehören eine stärkere Verzahnung von Elementarbereich und Grundschule, eine gezielte Kompetenz- und Leistungsförderung sowie mehr Bildungsgerechtigkeit. Fleischmann forderte: „Die Kolleginnen und Kollegen an Kitas, Schulen und Hochschulen sind der Schlüssel zu einem zukunftsfähigen Bildungssystem. Sie erwarten zu Recht bessere Arbeitsbedingungen, die ihrer gesellschaftlichen Verantwortung gerecht werden.“ Eine bessere Personalausstattung, spürbare Entlastung, qualitativ hochwertige Aus-, Fort- und Weiterbildungen sowie eine angemessene Bezahlung seien die Basis eines leistungsfähigen Bildungssystems. Prien unterstrich die Bedeutung frühkindlicher Bildung und eines nahtlosen Übergangs von der Kita zur Grundschule. Sie bekannte sich zum Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung im Grundschulalter, lehnte jedoch verbindliche Qualitätsstandards ab. Die gemeinsame Erklärung von Bund und Ländern zum DigitalPakt 2.0 wertete sie als Verhandlungserfolg und betonte die Notwendigkeit rasch wirksamer Vereinbarungen. Handlungsbedarf bei digitaler Ausstattung Gegenüber Ria Schröder, bildungspolitische Sprecherin der FDPBundestagsfraktion, forderte Fleischmann am 30. Januar 2025 entschlossene Maßnahmen und umfangreiche Investitionen, um das Bildungspotenzial voll auszuschöpfen. Lin-Klitzing betonte: „Bildung ist Ländersache, kann aber nur gelingen, wenn alle Ebenen eng zusammenarbeiten.“ Bürokratische Hürden müssten abgebaut, die Kooperation effizienter gestaltet und die Finanzierung verstetigt werden: „Wir erwarten ein klares Bekenntnis der Politik zu einer bedarfsgerechten Ausstattung des Bildungssystems.“ Für eine bessere digitale Ausstattung der Schulen setzte sich Fleischmann am 4. Februar 2025 bei Thomas Jarzombek, bildungspolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, ein. „Bildungsgerechtigkeit erfordert einen hohen digitalen Standard in ganz Deutschland. Nur so können wir gleichwertige Bildungsangebote nachhaltig sichern“, erklärte die dbb Vertreterin. Bund und Länder hatten sich bereits im Dezember 2024 auf Eckpunkte für einen DigitalPakt 2.0 verständigt. Diese sind jedoch nicht bindend und hängen von späteren Haushaltsentscheidungen ab. Gespräche mit Bildungspolitikern der SPD sowie von Bündnis 90/ Die Grünen waren zum Redaktionsschluss für die Zeit nach der Bundestagswahl geplant. os © Jan Brenner Susanne Lin-Klitzing, Karin Prien und Simone Fleischmann (von links). AKTUELL 9 dbb magazin | März 2025
VORGESTELLT Initiative für einen handlungsfähigen Staat Mit Reformen zu neuem Vertrauen Fast 70 Prozent der Menschen glauben, dass der Staat mit seinen Aufgaben überfordert ist. Das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Handlungsfähigkeit des Staates befindet sich damit auf einem Tiefpunkt, so das Ergebnis der aktuellen dbb Bürgerbefragung. Eine neue überparteiliche Initiative möchte sich dieses Themas annehmen und in verschiedenen Arbeitsgruppen eine Antwort auf die Frage finden, wie unser Staat neue Spielräume erschließen kann. Mangelhafte Digitalisierung der Verwaltung, fehlende Kitaplätze, Kompetenzstreit zwischen Bund und Ländern, marode Infrastruktur: Die Gründe für den Vertrauensverlust der Bevölkerung in die staatliche Leistungs- und Handlungsfähigkeit sind vielfältig und evident. Entsprechend finden sich Forderungen nach einer Staatsmodernisierung oder gar Staatsreform in nahezu allen Wahlprogrammen der Parteien. Unter der Schirmherrschaft von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier will sich die „Initiative für einen handlungsfähigen Staat“ mit der Problematik befassen. Überparteiliche Träger Die Auftaktveranstaltung fand am 12. November 2024 im Schloss Bellevue in Berlin statt. Die ehemaligen Bundesminister Peer Steinbrück und Thomas de Maizière, der Staatsrechtler und langjährige Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, sowie die Managerin und Aufsichtsrätin Julia Jäkel haben die Initiative ins Leben gerufen. Vier große Stiftungen finanzieren die Initiative und begleiten sie organisatorisch: die Hertie Stiftung, die Fritz-Thyssen-Stiftung, die Stiftung Mercator und die Zeit Stiftung Bucerius. Die Initiative ist überparteilich. Die Initiatoren haben rund 50 Expertinnen und Experten zur Mitarbeit eingeladen, darunter Handwerker, Schulleiterinnen, Wissenschaftler, Oberbürgermeister, Unternehmerinnen und Verwaltungsfachleute. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer arbeiten in sieben verschiedenen Arbeitsgruppen zu den folgenden Themen: Sicherheit und Resilienz, öffentliche Verwaltung und Föderalismus, digitaler Staat, Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland, Klima, Soziales und Bildung sowie Gelingensbedingungen gesellschaftlicher Veränderungen. Eine Geschäftsstelle bei der Hertie School of Governance koordiniert und steuert die Arbeit der Initiative. Kreative Vorschläge Ziel der Initiative ist es, die Funktionsfähigkeit des deutschen Staates zu stärken, indem die Hindernisse in der öfModel-Foto: Skrypko Levgen/Colourbox.de 10 AKTUELL dbb magazin | März 2025
fentlichen Verwaltung und den politischen Entscheidungsprozessen identifiziert und die notwendigen Reformschritte herausgearbeitet und vorgeschlagen werden. In den verschiedenen Arbeitsgruppen soll dabei unter anderem der Frage nachgegangen werden, warum viele notwendige Reformen bereits im Ansatz scheitern und wie unser Staat strukturell handlungsfähiger und effektiver gemacht werden kann. Bundespräsident Steinmeier äußerte seine Erwartungen an die Initiative bei der Auftaktveranstaltung: „Ich wünsche mir, dass Sie kreative und greifbare Vorschläge entwickeln, dass Ihre Empfehlungen breit diskutiert werden, dass Sie Politik und Verwaltung zu Reformen anregen können. Und mir ist sehr bewusst: Das ist alles leichter gesagt als getan. Es wird nicht auf einen Schlag gelingen. Aber selbst wenn wir das wissen, darf das eben keine Ausrede sein, es nicht zu versuchen! Denn wenn wir die Handlungsfähigkeit unseres Staates stärken, dann stärken wir, davon bin ich überzeugt, auch das Vertrauen in unsere Demokratie.“ Die Initiative will nach der vorgezogenen Bundestagswahl einen ersten Zwischenbericht sowie im Herbst 2025 einen ausführlichen Abschlussbericht veröffentlichen. Der dbb begrüßt die Initiative für einen handlungsfähigen Staat und teilt die Einschätzung der Initiatoren, dass die Handlungs- und Leistungsfähigkeit des Staates verbessert werden muss, um das Vertrauen der Bevölkerung zurückzugewinnen. Bei allen Diskussionsbeiträgen und Reformvorschlägen zur Staatsmodernisierung muss nach Auffassung des dbb allerdings immer berücksichtigt werden, dass ein starker und attraktiver öffentlicher Dienst die Grundvoraussetzung für einen leistungsstarken Staat ist. Der dbb wird die Arbeit der Initiative aufmerksam verfolgen und sich konstruktiv an der Diskussion der Ergebnisse beteiligen. _ „Wenn wir die Handlungsfähigkeit unseres Staates stärken, dann stärken wir auch das Vertrauen in unsere Demokratie.“ Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, Schirmherr © Bundesregierung/ Steffen Kugler
INTERVIEW Andrea Nahles, Vorsitzende des Vorstandes der Bundesagentur für Arbeit Wir gestalten den Strukturwandel aktiv mit Frau Nahles, in Bereichen wie Pflege, Bildung, Handwerk und IT herrscht Fachkräftemangel, während in Teilen der Automobil-, Stahl- und Chemieindustrie Arbeitsplätze verloren gehen. Welche Konsequenzen hat diese Disruption für den Arbeitsmarkt und die Flexibilität von Beschäftigten und Arbeitgebenden? Dekarbonisierung, Digitalisierung und Demografie verändern den Arbeitsmarkt, dazu kommt die aktuelle wirtschaftliche Gesamtlage. Die Transformationsprozesse des Arbeitsmarktes zeigen sich zum Beispiel in den veränderten Tätigkeits- und Qualifikationsanforderungen. Es entstehen neue, vor allem höhere Anforderungen an jeden Einzelnen, sowohl aufseiten der Beschäftigten als auch der Unternehmen. Schon jetzt ist es häufig so, dass offene Stellen nicht zu den Profilen der arbeitslosen Menschen passen. Genau da kommen wir als BA mit unseren Angeboten ins Spiel: Wir gestalten den Strukturwandel aktiv mit. Das beginnt schon mit der Berufsorientierung. Außerdem spielen passende Qualifizierungen und eine qualitativ hochwertige Beratung eine Schlüsselrolle. Unsere Angebote richten sich dabei nicht nur an arbeitslose Menschen, sondern mit der Berufsberatung im Erwerbsleben zum Beispiel auch an Beschäftigte. So kann Arbeitslosigkeit präventiv begegnet werden und wir können die Menschen passend für neue Aufgaben qualifizieren. Der öffentliche Dienst ist der größte Arbeitgeber Deutschlands mit einer Vielzahl an Berufsfeldern. Dennoch gelingt es in Mangelbereichen nicht, genügend Personal zu binden. Welche Stellschrauben müssen gedreht werden, damit die öffentliche Hand noch attraktiver für Berufs- und Quereinsteiger wird? Gut ein Drittel der Beschäftigten im öffentlichen Dienst geht in den kommenden zehn Jahren in den Ruhestand. Das stellt uns alle vor enorme Herausforderungen. Wir brauchen moderne Arbeitsbedingungen mit Möglichkeiten zu mobiler Arbeit, flexiblen Arbeitszeitmodellen und einer guten Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben. Wir müssen auch in die Digitalisierung investieren und eine zeitgemäße IT ermöglichen. Wir brauchen bessere Einstellungsverfahren. Wir müssen Bewerberinnen und Bewerbern schnell eine Rückmeldung geben, sie nicht lange auf Antworten warten lassen und gut „onboarden“. Und wir müssen unsere Arbeitgebermarken stärken. Dazu gehört neben einer modernen Führungskultur auf Augenhöhe auch die Möglichkeit zur persönlichen Weiterentwicklung. Wir sollten Stellen nach Kompetenzen besetzen, nicht danach, ob eine bestimmte Laufbahnqualifikation abgelegt wurde oder nicht! Was tut die Bundesagentur, um Personal für das eigene Haus, besonders im Führungskräftebereich, zu gewinnen? Wir drehen genau an den „Stellschrauben“, die ich gerade beschrieben habe: Wir haben uns eine „Zukunftsagenda“ gegeben und damit verbessern wir nicht nur die Arbeit für unsere Kundinnen und Kunden, sondern wir entwickeln auch unsere internen Prozesse weiter, in die wir gerade ebenso intensiv investieren wie in Digitalisierung. Wir haben eine Dienstvereinbarung „Lernen“ auf den Weg gebracht, wir bieten flexible Arbeitszeitmodelle an, Führung in Teilzeit ist möglich, und wir ermutigen unsere Kolleginnen und Kollegen, sich weiterzuentwickeln. Unseren Beschäftigten stehen fast alle Tätigkeitsfelder offen und dabei sind allein persönliche Eignung und die Kompetenzen wichtig, nicht Formalien. Zudem haben wir eine ganze Reihe von Programmen, um Talente zu fördern und sie auf ihrem persönlichen Entwicklungsweg zu begleiten. Und das Interesse an der BA als Arbeitgeberin ist da – das sehen wir an steigenden Zahlen bei der Ausbildung und auch in den Studiengängen an unserer BA-eigenen Hochschule. Letztlich überzeugen wir mit unseren Aufgaben. Deshalb ist der Kern unserer Arbeitgebermarke auch der gesellschaftliche Auftrag der BA. Unser Slogan „WIR MACHEN CHANCEN.“ transportiert das: Wir verkaufen nicht irgendein Produkt, wir schaffen soziale Sicherheit. „Selbstverwaltung stärkt den sozialen Dialog und die Mitbestimmung der verschiedenen Interessengruppen.“ © BA/Sonja Och 12 FOKUS dbb magazin | März 2025
Da geht man auch jeden Abend mit ein wenig Stolz im Herzen nach Hause. Das tragen wir nach außen, wenn wir für uns als Arbeitgeberin werben, und gehen dabei auch künftig neue Wege: in diesem Jahr werden wir dazu zum Beispiel eine Kampagne mit „Corporate Influencer*innen“ starten, bei denen Kolleginnen und Kollegen selbst von ihrer Arbeit erzählen, das Ganze auf Social Media teilen und so Lust machen auf BA. KI kann dazu beitragen, Beschäftigte von Routineaufgaben zu entlasten. Hält die Digitalisierung der Verwaltung mit den neuen Möglichkeiten Schritt? In der IT beschäftigen wir uns schon seit über fünf Jahren mit der Frage, wie wir KI nutzen können – auch um unsere internen Prozesse weiter konsequent zu automatisieren. Das ist enorm wichtig, um dem eben angesprochenen Personalthema zu begegnen. Mit automatisierten Verfahren können wir unsere Leistungen – dort wo es sinnvoll und möglich ist – mit weniger Menschen erbringen. Denn uns werden künftig schlicht die Leute fehlen: Bis 2032 werden uns rund 35 Prozent unserer Kolleginnen und Kollegen verlassen – vor allem aufgrund von Ruhestand. Unsere Automatisierung betreiben wir aber „Human friendly“ – das haben wir auch unseren Mitarbeitenden so kommuniziert: Wir automatisieren mit den Menschen – nicht mit dem Rotstift! Im Zuge der Automatisierung und insbesondere angesichts von KI haben wir uns bereits, bevor die KI-Verordnung überhaupt in Kraft getreten ist, ein Wertefundament gegeben: die BA-Datenethik. Wir haben eine Leitlinie entwickelt und richten unser Handeln an sieben Datenethik-Prinzipien aus. So stellen wir sicher, dass die BA algorithmische Entscheidungssysteme entsprechend gesellschaftlichen Werten einsetzt – und beispielsweise keine unbeabsichtigten Vorurteile oder Verzerrungen implementiert werden. Über die Einhaltung der datenethischen Maßnahmen wachen unser Datenethik-Expertenteam und das Datenethik-Gremium. In der Familienkasse unterstützt inzwischen ein KI-System die Sachbearbeitung durch automatisierte Bewertung von Studienbescheinigungen. Und im Arbeitgeberservice wird gerade eine automatische Verarbeitung beziehungsweise Übernahme von Stellenangeboten von Unternehmen in das Fachverfahren der BA eingeführt. Auch bei der Bearbeitung von Anträgen und der Erstellung von Bescheiden lassen sich schon erhebliche Zeiteinsparungen realisieren – über 30 Prozent allein bei der Formulierung von Bescheiden. Dank solcher Entlastungen können sich unsere Beschäftigten auf ihr Kerngeschäft, zum Beispiel die individuelle Beratung, konzentrieren. Moderne Technologien gibt es aber zunehmend nur noch aus der Cloud. Deshalb muss die Verwaltung auch „aus der Cloud“ gedacht werden. Im vergangenen Jahr haben wir gemeinsam mit unseren Partnern DKV und DGUV eine Multi-Cloud-Broker-Ausschreibung auf den Weg gebracht und konnten im Dezember den Zuschlag erteilen. Und wir haben eine Partnerschaft mit dem Heidelberger KI-Unternehmen Aleph Alpha auf den Weg gebracht. Für uns als BA kann ich also sagen: Wir gehen voran. Eltern, besonders Mütter, sind häufiger in Vollzeit erwerbstätig, wenn sie ihre Kinder gut betreut wissen. Wie kann trotz des Fachkräftemangels genug qualifiziertes Personal in Schlüsselbereichen wie Bildung, Betreuung und Erziehung gewonnen werden? Dafür gibt es nicht die eine Lösung. Um qualifiziertes Personal für diese Schlüsselbereiche zu gewinnen, ist es wichtig, die Attraktivität dieser Berufe zu erhöhen, die Rahmenbedingungen zu verbessern und gezielt in Ausbildung und Qualifizierung zu investieren. Der gesellschaftliche Wert von Erziehungs- und Betreuungskräften muss stärker anerkannt werden. Wir brauchen ein stärkeres Bewusstsein darüber, wie wichtig diese Berufe für die Entwicklung der Gesellschaft sind. Sowohl im Bereich der Bildung als auch in der Pflege – gerade mit Blick auf die demografische Entwicklung. Flexible Arbeitszeiten, Teilzeitangebote und Betreuungsmöglichkeiten für eigene Kinder können auch Eltern motivieren, in diesen Bereichen zu arbeiten und zu bleiben. Wir setzen aber auch gezielt auf Qualifizierung. Ein häufiges Weiterbildungsziel bei der Beschäftigtenqualifizierung ist die Pflegefachkraft. Dadurch leisten wir einen spürbaren Beitrag zur Fachkräftesicherung. Gerade im Bereich der Gesundheits- und Pflegeberufe sind auch Fachkräfte aus dem Ausland ein wichtiges Thema – hier sind wir als BA mit verschiedenen Projekten und Programmen erfolgreich. Die Bundesagentur für Arbeit ist eine Körperschaft des öffentlichen Rechts mit Selbstverwaltung. Mehr als 2 800 ehrenamtliche Vertreterinnen und Vertreter von Arbeitnehmern, Arbeitgebern und öffentlichen Körperschaften gestalten die Arbeitsförderung und deren Weiterentwicklung mit. Warum ist Selbstverwaltung so wichtig? Selbstverwaltung stärkt den sozialen Dialog und die Mitbestimmung der verschiedenen Interessengruppen. Wir als BA haben die Aufgabe, die Arbeitsförderung und Arbeitsmarktpolitik so zu gestalten, dass sowohl die Bedürfnisse der Arbeitnehmer als auch der Arbeitgeber berücksichtigt werden. Durch die Mitwirkung von Vertreterinnen und Vertretern aus diesen Bereichen, aber auch aus öffentlichen Körperschaften, können Entscheidungen getroffen werden, die möglichst fair und ausgewogen sind – und nah an den realen Bedingungen und Herausforderungen auf dem Arbeitsmarkt. Versicherte gestalten ihre Angelegenheiten sozusagen selbstbewusst und selbstverantwortlich mit. Das stärkt die Akzeptanz der Entscheidungen und schafft Vertrauen in die Institution. Unser Verwaltungsrat und unsere lokalen Verwaltungsausschüsse sind wichtige Kontroll-, Beratungs- und Entscheidungsgremien. Dabei setzen Verwaltungsrat und Vorstand – kein Ministerium – den Rahmen für die bundesweite Aufgabenwahrnehmung. Vor Ort wird dieser dann ausgestaltet und konkretisiert. Das ist besonders wichtig, denn letztlich geht es um die möglichst wirkungsvollste Verwendung der Beiträge von Versicherten und Arbeitgebenden. _ „Wir sollten Stellen nach Kompetenzen besetzen, nicht danach, ob eine bestimmte Laufbahnqualifikation abgelegt wurde oder nicht.“ FOKUS 13 dbb magazin | März 2025
DOSSIER SELBSTVERWALTUNG © Serviceplan Berlin Sozialversicherung Selbstverwaltung braucht mehr Kompetenzen und Verfassungsrang Es besteht ein erheblicher Reformbedarf bei der sozialen Selbstverwaltung. Im Schlussbericht für die Sozialwahlen 2023 haben der Bundeswahlbeauftragte für die Sozialversicherungswahl, Peter Weiß, und seine Stellvertreterin Doris Barnett dazu zahlreiche Vorschläge gemacht. Die wichtigsten lauten: Die soziale Selbstverwaltung sollte im Grundgesetz verankert und die Kompetenzen für die Selbstverwaltung sollten erweitert werden. Peter Weiß erläutert die Hintergründe. Die Selbstverwaltung mit Repräsentanten der Versicherten und der Arbeitgeber ist heute ein unverzichtbares Strukturelement bei der Arbeitslosen- sowie bei der gesetzlichen Renten-, Kranken- und Unfallversicherung. Die Sozialversicherungsträger haben ganz wesentlich zum Erfolg des sozialen Netzes in Deutschland beigetragen. Ihre Verlässlichkeit basiert auch auf dem Verantwortungsbewusstsein und dem Engagement der Selbstverwaltungen mit gewählten Vertreter:innen der Versicherten und der Arbeitgeber. Kann die soziale Selbstverwaltung ihren Erfolgsweg auch in der Zukunft fortsetzen? Unbedingt: Ja! Aber dazu müssen Selbstverwaltung und Sozialwahl moderner, offensiver und profilierter werden. Also: Sie müssen ihr etwas angestaubtes Image abstreifen und ihren Bekanntheitsgrad deutlich erhöhen. Die Zukunft der sozialen Selbstverwaltung hängt von der Frage ab, ob diese bei den Versicherten wieder mehr Ansehen und Wertschätzung gewinnt. Mehr bürgerschaftliches Engagement, mehr Bürgerbeteiligung, mehr Demokratie – das sind die Forderungen unserer Zeit. Die soziale Selbstverwaltung macht all dies möglich. Doch sie muss ihr Potenzial auch in die Praxis umsetzen und ihr Wirken in die Öffentlichkeit tragen. Die Alternative zur sozialen Selbstverwaltung wäre staatlicher Dirigismus. In den Nachwahlbefragungen zur Sozialwahl 2023 haben viele Versicherte die Frage gestellt, ob die soziale Selbstverwaltung für sie überhaupt eine Bedeutung hat, also die Frage nach den Kompetenzen der sozialen Selbstverwaltung. Letztlich entscheidet sich an dieser Frage ihre Zukunft. Es bedarf einer Trendumkehr, wie sie schon im Schlussbericht über die Sozialwahlen 2011 der damalige Bundeswahlbeauftragte für die Sozialversicherungswahlen, Gerald Weiß, und sein Stellvertreter Klaus Kirschner gefordert haben: „Die Tendenz der letzten Jahrzehnte, die der Selbstverwaltung zunehmend Kompetenzen entzogen hat, sollte gestoppt und umgekehrt werden. Der Selbstverwaltung sollten wieder mehr Rechte übertragen und diese damit gestärkt werden.“ Die politisch Verantwortlichen in Regierungen und Parlamenten müssen sich immer wieder klarmachen, dass auch sie ein grundsätzliches Interesse an einer starken Selbstverwaltung haben. Viele Angelegenheiten des Verwaltungsalltags der Träger fangen die Selbstverwaltungen auf. Die Politik kann froh sein, dass sie in diesen Fragen nicht der erste Ansprechpartner ist. Die Politik sollte durch Akte der Wertschätzung deutlich machen, wie wichtig ihr das Engagement der Selbstverwalter:innen ist. Zugleich müssen die Selbstverwaltungen dafür sorgen, dass ihre Arbeit in den eigenen Medien der Träger gebührend dargestellt wird. Zusätzlich sollte der Gesetzgeber die soziale Selbstverwaltung, in Anknüpfung an den Art. 161 der Weimarer Reichsverfassung, verfassungsrechtlich absichern. Dort heißt es: „Zur Erhaltung der Gesundheit und Arbeitsfähigkeit, zum Schutz der Mutterschaft und zur 14 FOKUS dbb magazin | März 2025
Vorsorge gegen die wirtschaftlichen Folgen von Alter, Schwäche und Wechselfällen des Lebens schafft das Reich ein umfassendes Versicherungswesen unter maßgebender Mitwirkung der Versicherten.“ Verfassungsrechtlicher Rahmen gefordert Im Grundgesetz (GG) der Bundesrepublik Deutschland ist die soziale Selbstverwaltung nicht verfassungsrechtlich garantiert. Die Sozialversicherung einschließlich der Arbeitsförderung unterfällt der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz des Bundes (vgl. Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG). Da die Länder aber mit den berufsständischen Versorgungswerken oder dem Blindengeld allenfalls ansatzweise von ihrer Möglichkeit Gebrauch gemacht haben, soziale Risiken auf Landesebene abzusichern, sind die maßgeblichen Regelungen der Sozialversicherung in Bundesgesetzen geregelt. Der Vollzug dieser Gesetze liegt allerdings nicht bei eigenen Behörden des Bundes. Strukturelles Kennzeichen der Sozialversicherung ist vielmehr ihre Herauslösung aus der unmittelbaren Staatsverwaltung. Träger der Sozialversicherung und für den Gesetzesvollzug zuständig sind seit jeher selbstständige Anstalten oder Körperschaften des öffentlichen Rechts, die ihre Mittel im Wesentlichen durch Beiträge ihrer Mitglieder aufbringen. Die Versicherten sind Mitglieder der Träger der Sozialversicherung mit Rechten und Pflichten. Körperschaftlichen Strukturen ist der Gedanke immanent, dass die Mitglieder der jeweiligen Körperschaft ihre eigenen Interessen in bestimmten Grenzen autonom wahrnehmen und regeln können. Art. 161 der Weimarer Reichsverfassung brachte dies mit den klaren Worten zum Ausdruck, dass das soziale Versicherungswesen von „maßgeblicher Mitwirkung der Versicherten“ gekennzeichnet sein sollte. Es spricht nichts dafür, dass dieses strukturbildende Merkmal der „maßgeblichen Mitwirkung der Versicherten“ unter Geltung des Grundgesetzes „verwässert“ oder gar aufgegeben werden sollte. Zur DNA der Sozialversicherung gehört ihre mitgliedschaftliche Struktur und damit auch der Gedanke, dass die Mitglieder ihre eigenen Angelegenheiten autonom gestalten. Körperschaftliche Strukturen setzen jedoch voraus, dass die Elemente autonomer Selbstbestimmung und der Mitsprache in eigenen Angelegenheiten so gewichtig sind, dass ein deutlicher Unterschied zur unmittelbaren Staatsverwaltung besteht, die derartige Mitsprache gerade nicht kennt. Satzungsautonomie muss sicht- und spürbar sein Als Instrument zur Regelung eigener Angelegenheiten verleiht der Gesetzgeber den Körperschaften Satzungsautonomie. Satzungen sind Rechtsvorschriften, die von einer dem Staat zugeordneten juristischen Person des öffentlichen Rechts im Rahmen der ihr gesetzlich verliehenen Autonomie mit Wirksamkeit für die ihr angehörenden und unterworfenen Personen erlassen werden. Mit der Verleihung der Satzungsautonomie werden die in der Körperschaft zusammengeschlossenen Bürger:innen ermächtigt, durch die von ihnen demokratisch gewählten und gebildeten Organe ihre eigenen Angelegenheiten innerhalb eines von vornherein durch Wesen und Aufgabenstellung der Körperschaft begrenzten Bereichs selbst zu regeln. Die Verleihung von Satzungsautonomie hat – wie das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) ausführt – ihren guten Sinn darin, gesellschaftliche Kräfte zu aktivieren, den entsprechenden gesellschaftlichen Gruppen die Regelung solcher Angelegenheiten, die sie selbst betreffen und die sie in überschaubaren Bereichen am sachkundigsten beurteilen können, eigenverantwortlich zu überlassen und dadurch den Abstand zwischen Normgeber und Normadressat zu verringern. Zugleich wird der Gesetzgeber davon entlastet, sachliche und örtliche Verschiedenheiten berücksichtigen zu müssen, die für ihn oft schwer erkennbar sind und auf deren Veränderungen er nicht rasch genug reagieren könnte. Das BVerfG hat daher niemals in Zweifel gezogen, dass sich der Autonomiegedanke sinnvoll in das System der grundgesetzlichen Ordnung einfügt. Allerdings setzt die grundgesetzliche Ordnung der Verleihung und Ausübung von Satzungsgewalt Grenzen. Wo diese Grenze bei Gremienarbeit ist ein wichtiger Aspekt der Selbstverwaltung. © Manuel Rose (2) FOKUS 15 dbb magazin | März 2025
den verschiedenen autonomen Körperschaften, Anstalten und Verbänden jeweils verläuft, ergibt sich unter anderem aus dem Aufgabenbereich der jeweiligen Körperschaft. Das Grundgesetz überträgt in erster Linie dem Gesetzgeber die Entscheidung darüber, welche Gemeinschaftsinteressen so gewichtig sind, dass das Freiheitsrecht des Einzelnen zurücktreten muss (vgl. BVerfG vom 9. Mai 1972, Az.: 1 BvR 518/62 und 1 BvR 308/64). Wie weit die gesetzlichen Vorgaben ins Einzelne gehen müssen, hängt von dem jeweiligen Sachbereich, der Eigenart des betroffenen Regelungsgegenstandes sowie der Intensität des Grundrechtseingriffs ab. Der Bundesgesetzgeber darf – daran besteht kein Zweifel – seine vornehmste Aufgabe nicht anderen Stellen innerhalb oder außerhalb der Staatsorganisation zu freier Verfügung überlassen. Das gilt besonders, wenn der Akt der Autonomieverleihung dem autonomen Verband nicht nur allgemein das Recht zu eigenverantwortlicher Wahrnehmung der übertragenen Aufgaben und zum Erlass der erforderlichen Organisationsnormen einräumt, sondern ihn – wie im Bereich der Sozialversicherung – zugleich zu Eingriffen in den Grundrechtsbereich ermächtigt. Dem staatlichen Gesetzgeber erwächst hier eine gesteigerte Verantwortung: Der verstärkten Geltungskraft der Grundrechte entspricht die besondere Bedeutung aller Akte staatlicher Gewaltausübung, welche die Verwirklichung und Begrenzung von Grundrechten zum Gegenstand haben. Andererseits würden die Prinzipien der Selbstverwaltung und der Autonomie, die ebenfalls im demokratischen Prinzip wurzeln und die dem freiheitlichen Charakter unserer sozialen Ordnung entsprechen, nicht ernst genug genommen, wenn der Selbstgesetzgebung autonomer Körperschaften so starke Fesseln angelegt würden, dass ihr Grundgedanke, die in den gesellschaftlichen Gruppen lebendigen Kräfte in eigener Verantwortung zur Ordnung der sie besonders berührenden Angelegenheiten heranzuziehen und ihren Sachverstand für die Findung „richtigen“ Rechts zu nutzen, nicht genügenden Spielraum fände. Für den Bereich der Sozialversicherung ist festzustellen, dass der Bundesgesetzgeber die Angelegenheiten der Mitglieder der Träger der Sozialversicherung bis in nahezu jedes Detail durch Bundesgesetz geregelt hat und für satzungsrechtliche Mitsprache der Mitglieder allenfalls noch marginaler Spielraum bleibt. Dies gilt insbesondere für diejenigen Bereiche, in denen die Regelungen der Sozialversicherung für die Mitglieder unmittelbar sicht- und spürbar werden: das Leistungsrecht und das Beitragsrecht. Die Beitragssätze der Renten-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung werden durch Bundesgesetze festgesetzt. Gleiches gilt für die Krankenversicherung, mit der Ausnahme des kassenindividuellen Zusatzbeitrags. Am größten sind die Gestaltungsmöglichkeiten insoweit noch in der gesetzlichen Unfallversicherung, die den Beitragssatz nach satzungsrechtlichen Gefahrklassen erheben kann. Im Bereich des Leistungsrechts sind die Ansprüche der Versicherten weitestgehend bundesgesetzlich geregelt, sieht man von der Möglichkeit ab, dass die Krankenkassen in der gesetzlichen Krankenversicherung satzungsrechtlich Wahltarife anbieten können (vgl. § 53 SGB V). Das BVerfG führt daher mit Blick auf die Sozialversicherung zutreffend aus: „Die staatliche Regelungsdichte ist derart hoch, dass den Sozialversicherungsträgern eine eigenverantwortliche Gestaltung des Satzungs-, Organisations-, Beitrags- und Leistungsrechts weitgehend verwehrt ist“ (BVferG vom 9. Juni 2004, Az.: 2 BvR 1248/03 und 2 BvR 1249/03, Rn. 35). Die Mitglieder der Körperschaften fragen sich also zu Recht: Was von dem, was die Selbstverwaltungsorgane der Träger der Sozialversicherung selbst regeln können, interessiert mich wirklich? Berührt mich dieser Regelungsbereich unmittelbar in meinen Beitragslasten oder beim Umfang der Leistungen, die mir bei Eintritt des Versicherungsfalles zustehen? Hat meine Stimme bei Sozialversicherungswahlen spürbaren Einfluss auf das, was meine Rechte und Pflichten angeht? Habe ich die Wahl etwa zwischen geringeren Leistungen, Selbstbehalten, begrenzter Auswahl an Leistungserbringern und so weiter bei gleichzeitiger Verringerung meiner Beitragslast? Oder erhalte ich durch eine Körperschaft mit höheren Beiträgen spürbar bessere Leistungen? Mehr Satzungsautonomie heißt mehr Demokratie wagen Sozialversicherungswahlen sind Ausdruck des Demokratiegedankens: Einfluss nehmen, mitreden und mitgestalten durch die Wahl von Vertreter:innen der Interessen der Mitglieder. Wo Vertreter:innen als Selbstverwaltungsorgane angesichts der bundesgesetzlich bis ins letzte Detail durchnormierten Materien nur noch Entscheidungen treffen können, die Wähler:innen in ihrer Rechtssphäre nicht oder kaum berühren und deren Bedeutung sich den Wähler:innen angesichts der Komplexität der Sozialversicherung möglicherweise nicht mehr erschließt, kommt die Frage auf: Weshalb soll ich „in der Sozialversicherung“ wählen gehen? Worin unterscheiden sich die zur Wahl stehenden Personen oder Gruppen oder „Wahlprogramme“ substanziell? Was können die sich zur Wahl stellenden Gruppen – im Falle ihres Obsiegens – bewirken und was habe ich davon? Wer auf diese Frage keine überzeugende Antwort geben kann, darf sich nicht über eine geringe Wahlbeteiligung bei den Sozialversicherungswahlen beklagen. Die unzweifelhaft immense Bedeutung der Sozialversicherung für jeden Einzelnen schlägt auf Sozialversicherungswahlen nur dann durch, wenn der Bundesgesetzgeber dem satzungsautonomen Regelungsbereich wieder mehr Raum lässt. Dazu muss der Bundesgesetzgeber seine Regelungsmacht jedenfalls in Teilbereichen zurücknehmen und fakultativem Satzungsrecht partiellen Vorrang einräumen. Das heißt, Bundesrecht Peter Weiß ist seit 2021 Bundeswahlbeauftragter für die Sozialversicherungswahlen. Sein Beitrag erschien zuerst auf netzwerksozialrecht.net. Der Autor 16 FOKUS dbb magazin | März 2025
RkJQdWJsaXNoZXIy Mjc4MQ==