dbb magazin 3/2025

den verschiedenen autonomen Körperschaften, Anstalten und Verbänden jeweils verläuft, ergibt sich unter anderem aus dem Aufgabenbereich der jeweiligen Körperschaft. Das Grundgesetz überträgt in erster Linie dem Gesetzgeber die Entscheidung darüber, welche Gemeinschaftsinteressen so gewichtig sind, dass das Freiheitsrecht des Einzelnen zurücktreten muss (vgl. BVerfG vom 9. Mai 1972, Az.: 1 BvR 518/62 und 1 BvR 308/64). Wie weit die gesetzlichen Vorgaben ins Einzelne gehen müssen, hängt von dem jeweiligen Sachbereich, der Eigenart des betroffenen Regelungsgegenstandes sowie der Intensität des Grundrechtseingriffs ab. Der Bundesgesetzgeber darf – daran besteht kein Zweifel – seine vornehmste Aufgabe nicht anderen Stellen innerhalb oder außerhalb der Staatsorganisation zu freier Verfügung überlassen. Das gilt besonders, wenn der Akt der Autonomieverleihung dem autonomen Verband nicht nur allgemein das Recht zu eigenverantwortlicher Wahrnehmung der übertragenen Aufgaben und zum Erlass der erforderlichen Organisationsnormen einräumt, sondern ihn – wie im Bereich der Sozialversicherung – zugleich zu Eingriffen in den Grundrechtsbereich ermächtigt. Dem staatlichen Gesetzgeber erwächst hier eine gesteigerte Verantwortung: Der verstärkten Geltungskraft der Grundrechte entspricht die besondere Bedeutung aller Akte staatlicher Gewaltausübung, welche die Verwirklichung und Begrenzung von Grundrechten zum Gegenstand haben. Andererseits würden die Prinzipien der Selbstverwaltung und der Autonomie, die ebenfalls im demokratischen Prinzip wurzeln und die dem freiheitlichen Charakter unserer sozialen Ordnung entsprechen, nicht ernst genug genommen, wenn der Selbstgesetzgebung autonomer Körperschaften so starke Fesseln angelegt würden, dass ihr Grundgedanke, die in den gesellschaftlichen Gruppen lebendigen Kräfte in eigener Verantwortung zur Ordnung der sie besonders berührenden Angelegenheiten heranzuziehen und ihren Sachverstand für die Findung „richtigen“ Rechts zu nutzen, nicht genügenden Spielraum fände. Für den Bereich der Sozialversicherung ist festzustellen, dass der Bundesgesetzgeber die Angelegenheiten der Mitglieder der Träger der Sozialversicherung bis in nahezu jedes Detail durch Bundesgesetz geregelt hat und für satzungsrechtliche Mitsprache der Mitglieder allenfalls noch marginaler Spielraum bleibt. Dies gilt insbesondere für diejenigen Bereiche, in denen die Regelungen der Sozialversicherung für die Mitglieder unmittelbar sicht- und spürbar werden: das Leistungsrecht und das Beitragsrecht. Die Beitragssätze der Renten-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung werden durch Bundesgesetze festgesetzt. Gleiches gilt für die Krankenversicherung, mit der Ausnahme des kassenindividuellen Zusatzbeitrags. Am größten sind die Gestaltungsmöglichkeiten insoweit noch in der gesetzlichen Unfallversicherung, die den Beitragssatz nach satzungsrechtlichen Gefahrklassen erheben kann. Im Bereich des Leistungsrechts sind die Ansprüche der Versicherten weitestgehend bundesgesetzlich geregelt, sieht man von der Möglichkeit ab, dass die Krankenkassen in der gesetzlichen Krankenversicherung satzungsrechtlich Wahltarife anbieten können (vgl. § 53 SGB V). Das BVerfG führt daher mit Blick auf die Sozialversicherung zutreffend aus: „Die staatliche Regelungsdichte ist derart hoch, dass den Sozialversicherungsträgern eine eigenverantwortliche Gestaltung des Satzungs-, Organisations-, Beitrags- und Leistungsrechts weitgehend verwehrt ist“ (BVferG vom 9. Juni 2004, Az.: 2 BvR 1248/03 und 2 BvR 1249/03, Rn. 35). Die Mitglieder der Körperschaften fragen sich also zu Recht: Was von dem, was die Selbstverwaltungsorgane der Träger der Sozialversicherung selbst regeln können, interessiert mich wirklich? Berührt mich dieser Regelungsbereich unmittelbar in meinen Beitragslasten oder beim Umfang der Leistungen, die mir bei Eintritt des Versicherungsfalles zustehen? Hat meine Stimme bei Sozialversicherungswahlen spürbaren Einfluss auf das, was meine Rechte und Pflichten angeht? Habe ich die Wahl etwa zwischen geringeren Leistungen, Selbstbehalten, begrenzter Auswahl an Leistungserbringern und so weiter bei gleichzeitiger Verringerung meiner Beitragslast? Oder erhalte ich durch eine Körperschaft mit höheren Beiträgen spürbar bessere Leistungen? Mehr Satzungsautonomie heißt mehr Demokratie wagen Sozialversicherungswahlen sind Ausdruck des Demokratiegedankens: Einfluss nehmen, mitreden und mitgestalten durch die Wahl von Vertreter:innen der Interessen der Mitglieder. Wo Vertreter:innen als Selbstverwaltungsorgane angesichts der bundesgesetzlich bis ins letzte Detail durchnormierten Materien nur noch Entscheidungen treffen können, die Wähler:innen in ihrer Rechtssphäre nicht oder kaum berühren und deren Bedeutung sich den Wähler:innen angesichts der Komplexität der Sozialversicherung möglicherweise nicht mehr erschließt, kommt die Frage auf: Weshalb soll ich „in der Sozialversicherung“ wählen gehen? Worin unterscheiden sich die zur Wahl stehenden Personen oder Gruppen oder „Wahlprogramme“ substanziell? Was können die sich zur Wahl stellenden Gruppen – im Falle ihres Obsiegens – bewirken und was habe ich davon? Wer auf diese Frage keine überzeugende Antwort geben kann, darf sich nicht über eine geringe Wahlbeteiligung bei den Sozialversicherungswahlen beklagen. Die unzweifelhaft immense Bedeutung der Sozialversicherung für jeden Einzelnen schlägt auf Sozialversicherungswahlen nur dann durch, wenn der Bundesgesetzgeber dem satzungsautonomen Regelungsbereich wieder mehr Raum lässt. Dazu muss der Bundesgesetzgeber seine Regelungsmacht jedenfalls in Teilbereichen zurücknehmen und fakultativem Satzungsrecht partiellen Vorrang einräumen. Das heißt, Bundesrecht Peter Weiß ist seit 2021 Bundeswahlbeauftragter für die Sozialversicherungswahlen. Sein Beitrag erschien zuerst auf netzwerksozialrecht.net. Der Autor 16 FOKUS dbb magazin | März 2025

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