In Ihren Studien sprechen Sie von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit als zusammenhängendem Syndrom. Was sind die wichtigsten Mechanismen, durch die sich Vorurteile und Feindbilder verfestigen? Das Syndrom der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit ist ein Konzept aus der Sozialforschung, das insbesondere auf die Studien von Wilhelm Heitmeyer und seinem Team zurückgeht und mit dem wir weiterhin arbeiten. Es beschreibt die Zusammenhänge zwischen verschiedenen Formen der Abwertung gesellschaftlicher Gruppen – etwa Rassismus, Sexismus, Antisemitismus, Abwertung von Wohnungs- oder Erwerbslosen. Diese hängen etwas verkürzt gesagt untereinander zusammen, weil ihnen eine Ideologie der Ungleichwertigkeit zugrunde liegt und sie somit verbindet: Wer eher sexistische Haltungen vertritt, teilt also auch eher rassistische und antisemitische Einstellungen. Über einige zentrale Mechanismen der Verfestigung von Vorurteilen und Feindbildern haben wir bereits gesprochen – die Einteilung in „wir“ und „die anderen“ etwa, die in der Forschung manchmal Ingroup-Outgroup-Dynamik genannt und die bei vermeintlicher oder tatsächlicher Konkurrenz um knappe Ressourcen verschärft wird. Auch über Feindbilder und Sündenböcke, die in Krisenzeiten besonders bereitwillig angenommen werden, sprachen wir bereits. Es gibt außerdem bestimmte Ideologien und Einstellungen, die Menschen nach sozialen Hierarchien oder rigiden Normen streben lassen. Soziale Gruppen, die nicht in ein solches starres Weltbild passen, werden dann eher abgelehnt und abgewertet. Was ich besonders beunruhigend finde, ist aber ein Mechanismus, den wir in der Forschung Normverschiebung nennen. Wenn diskriminierende Äußerungen und Verhaltensweisen gesellschaftlich akzeptierter werden, verschiebt sich die Grenze des Sag- und Machbaren. Hier tragen Politik, Medien, aber auch wir alle eine Verantwortung. Gewalt entzündet sich oft an Kleinigkeiten: eine falsch abgestellte Mülltonne oder Gedränge an der Kasse genügt manchmal, um Gewalt eskalieren zu lassen. Ist die Zündschnur mancher Menschen kurz geworden oder liegen die Ursachen auch in der Sozialisation und dem Bildungsstand der Menschen? Es stimmt, dass Gewalt im Alltag oft scheinbar aufgrund von Kleinigkeiten eskaliert. Dahinter steckt aber meist mehr als nur eine kurze Zündschnur. Klar ist: Die zurückliegenden Jahre der Unsicherheit – sei es durch Pandemie, wirtschaftliche Ängste oder gesellschaftliche Polarisierung – haben viele von uns dünnhäutiger gemacht. Stress, Frust und ein Gefühl des Kontrollverlusts senken die Hemmschwelle für Aggressionen jeder Art. In solchen Situationen mag eine Kleinigkeit der letzte Tropfen sein, der das Fass zum Überlaufen bringt. Wer gelernt hat, Konflikte konstruktiv und gewaltfrei zu lösen, reagiert aber auch unter Stress kontrollierter. Umgekehrt können Menschen, die in einem gewaltgeprägten Umfeld aufgewachsen sind oder nie funktionale Konfliktlösestrategien gelernt haben, schneller zu aggressivem Verhalten neigen. Auch ein niedriger Bildungsstand oder mangelnde soziale Anerkennung kann Gewalt fördern – nicht direkt, aber durch ein Gefühl der Ohnmacht und Perspektivlosigkeit. Wer sich sozial benachteiligt fühlt, reagiert empfindlicher auf vermeintliche Kränkungen oder Respektlosigkeit im Alltag. Die kurze Zündschnur vieler Menschen würde ich also eher als Symptom, aber nicht als eigentliche Ursache betrachten. Gewalt entsteht nicht nur durch aktuelle Krisen, sondern auch durch langfristige soziale Prägung und Prädispositionen. Wer gelernt hat, Konflikte anders zu lösen als mit Gewalt, bleibt selbst in stressigen Zeiten gelassener. Deshalb sind Bildung, soziale Integration und die Förderung von Konfliktkompetenz zentrale Bausteine zur Gewaltprävention. Die Frage ist immer: Kommt Gewalt in unserem Instrumentarium zur Konfliktlösung überhaupt vor? Wenn die Antwort „ja“ lautet, dann ist jeweils die Wahrscheinlichkeit höher, dass auch Gewalt ausgeübt wird. Auch Beschäftigte des öffentlichen Dienstes werden Opfer von Aggressionen und Gewalt – nicht nur dann, wenn sie den Staat sichtbar repräsentieren, sondern auch als Helfende, zum Beispiel im Rettungsdienst. Welche konkreten Maßnahmen können Politik und Zivilgesellschaft ergreifen, um das Aggressionspotenzial langfristig zu reduzieren? Die Gewalt gegen Beschäftigte im öffentlichen Dienst – von Polizei, Feuerwehr und Rettungskräften über Bahn und Personenverkehr bis in die Jobcenter und Behörden – sollte uns als Gesellschaft alarmieren. Sie geht nicht weg, wenn wir nur lange genug die Augen davor verschließen, und wir müssen sie endlich als das Dauerthema ernst nehmen, das sie ist, statt immer nur punktuell hinzuschauen, wenn es mal wieder richtig gekracht hat. Um Beschäftigte im öffentlichen Dienst mittel- und langfristig besser zu schützen, braucht es aus meiner Sicht eine Kombination aus juristischen, präventiven und arbeitsbezogenen Maßnahmen: Härtere Strafen für Gewalttäter allein reichen nicht, aber sie setzen immerhin ein Zeichen. Gesetze wie die zum besonderen Schutz für Einsatzkräfte müssen konsequent zur Anwendung kommen. Eine einheitliche Dokumentation von Übergriffen wäre darüber hinaus wichtig, damit das Problem in allen Bereichen und Facetten sichtbarer wird, Bedarfe erkannt und Maßnahmen gezielt entwickelt werden können. Die Schulung von Beschäftigten in Konfliktbewältigung, um Eskalation und sich anbahnende Gewalt frühzeitig zu erkennen und zu entschärfen, ist genauso wichtig wie die bessere Ausstattung mit Sicherheitssystemen, wo dies möglich ist, etwa die sogenannten Bodycams oder Hilferufmöglichkeiten. Vorrangig sollte es uns um eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen im öffentlichen Dienst gehen: Wir wissen aus der Forschung, dass Personalmangel und Überlastung Risikofaktoren für Gewalt sind, denn gestresste und erschöpfte Beschäftigte haben weniger Spielraum für Deeskalation und übersehen Warnsignale. Auch die psychologische Unterstützung und Nachsorge für Betroffene halte ich für ausbaufähig. Ich finde es wichtig, die Gewalt gegen Beschäftigte im öffentlichen Dienst nicht nur als isoliertes Problem zu betrachten, sondern als ein Symptom für gesellschaftliche Spannungen zu begreifen, die sich dort entladen. Der öffentliche Dienst beinhaltet ja genau solche Tätigkeitsfelder, wo es regelmäßig zu Frustration kommt. Wenn wir als Gesellschaft insgesamt dünnhäutiger werden, dann kommen solche Veränderungen dort am ehesten an. Der öffentliche Dienst wird damit zu einer Art Seismograf für gesellschaftliche Spannungen. Er darf aber nicht zum Blitzableiter werden. Respekt und Sicherheit für Beschäftigte im öffentlichen Dienst müssen eine Selbstverständlichkeit sein. _ FOKUS 19 dbb magazin | April 2025
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