dbb magazin 9/2021

die andere meinung < Die Autorin Christine Dankbar ist Ressortleiterin Politik und Gesellschaft bei der Berliner Zeitung und dort für die innenpolitischen Themen verantwortlich. Das Wahl­ recht und seine Reform war in dieser Legislaturperiode einer ihrer inhaltlichen Schwerpunkte. Wahlrecht Die missglückte Reform Die Bundesrepublik hat nach China das zweitgrößte Parlament der Welt. Das wird trotz aller Bemühungen um ein neues Wahlrecht auch so bleiben. Der Bundeswahlleiter hat Frei­ tag, den 13. August, vermutlich nicht in besonders guter Erin­ nerung. Seit diesem Tag steht fest, dass seine Arbeit ein biss­ chen komplizierter geworden ist. Das Bundesverfassungs­ gericht hat den Eilantrag der Bundestagsfraktionen von Grünen, FDP und Linken gegen das neue Wahlrecht abgelehnt. Das bedeutet, dass im Sep­ tember nun nach dem neuen, höchst umstrittenen und in seiner Umsetzung auch sehr komplizierten Wahlrecht ge­ wählt wird. Es bedeutet aber nicht, dass dieses neue Wahl­ recht auch tatsächlich verfas­ sungskonform ist. Die Richter kündigten an, das genau prü­ fen zu wollen, und sehen durchaus kritische Punkte imWahlrecht. Die rechtlich heikelste Neure­ gelung des Wahlrechts ist die Tatsache, dass die Union drei Mandate geschenkt bekommt. So steht es natürlich nicht im Wahlgesetz: Dort ist von drei Überhangmandaten die Rede, die nicht ausgeglichen werden müssen. Man könnte aber auch sagen: Nicht jede Stimme zählt bei dieser Bundestags­ wahl gleich viel. Überhangmandate entstehen immer dann, wenn eine Partei in einem Bundesland mehr Direktmandate erringt, als ihr nach dem Zweitstimmen­ ergebnis zustehen. Die Union gewinnt, vor allem im Süden der Republik, die meisten Di­ rektmandate. Wer seinen Wahl­ kreis gewinnt, zieht direkt ins Parlament ein und das nicht selten mit großem Selbstbe­ wusstsein. Schließlich hat man sich daheim ja durchgesetzt. Die demokratische Legiti­ mierung ist allerdings nicht selten dünn: Wer mit 30 Pro­ zent der abgegebenen Stim­ men gewählt wird, hat die Mehrheit seines Wahlkreises dennoch nicht von sich über­ zeugen können. Es kommt aber noch schlim­ mer: Die Union, die viele Di­ rektmandate erhält, sackt bei den Zweitstimmen immer wei­ ter ab. Diese Diskrepanz hat dramatische Folgen: Weil we­ gen der Direktmandate mehr Abgeordnete ins Parlament kommen, als der Partei nach Zweitstimmen zustehen, gibt es die sogenannten Überhang­ mandate. Das sind Mandate, die den Proporz verzerren. Man könnte auch sagen: den Wäh­ lerwillen. Um das abzumildern, bekommen die anderen Frak­ tionen Ausgleichsmandate – und der Bundestag wird immer größer. Derzeit sitzen dort 709 Abgeordnete, so viele wie noch nie. Nach der Wahl im Septem­ ber könnten es aber gut 800 oder noch mehr werden. Die Bertelsmann Stiftung berechnet auf Grundlage der aktuellen Umfragen und Prog­ nosen, wie sich das Parlament künftig zusammensetzen könnte. Dabei werden ver­ schiedene Szenarien durchge­ spielt, die die Verteilung der Erst- und Zweitstimmen auf die Parteien berücksichtigen. Der Wahlrechtsexperte der Stiftung, Robert Vehrkamp, hält es danach nicht für abwe­ gig, dass sich nach der Wahl sogar bis zu 1000 Bundestags­ abgeordnete im Berliner Reichstag einfinden werden. Bundestagspräsident Wolf­ gang Schäuble (CDU) ist offen­ bar ebenfalls pessimistisch: Er lässt im Regierungsviertel gerade neue Abgeordneten­ büros bauen. Dabei sollte die Wahlrechts­ reform genau das verhindern. Die gesamte Legislaturperiode haben die Fraktionen des Bun­ destages unter Leitung des Bundestagspräsidenten darü­ ber verhandelt. Einigen konn­ ten sie sich nicht. Wer will schon Privilegien aufgeben. Und wer weniger Abgeordnete im Bundestag haben will, muss sagen, wo die Mandate gestri­ chen werden sollen. Irgend­ wann gab Schäuble entnervt auf. Es war vor allem seine Fraktion, die alle Kompromiss­ vorschläge – auch seine – zurückwies. Nachdem im Parlament keine Einigung erzielt wurde, hat sich der Koalitionsausschuss aus SPD und Union in einer Nacht­ sitzung auf einen Kuhhandel geeinigt. Danach soll die Zahl der Wahlkreise verkleinert werden, allerdings erst bei der übernächsten Wahl und auch nur um die homöopathische Anzahl von gerade mal 19 Sit­ zen, also von 299 auf 280. Ex­ perten haben vorgerechnet, dass erst eine Verminderung auf rund 250 einen nennens­ werten Effekt auf die Zahl der Abgeordneten hätte. Um den­ noch möglichst wenig Aus­ gleichsmandate zu provozie­ ren, sollen Überhangmandate zur Hälfte innerhalb der eige­ nen Partei verrechnet werden. Wenn also in Baden-Württem­ berg zu viele Überhangmanda­ te erzielt werden, kann das für CDU-Listenkandidaten in Hes­ sen zum Problem werden. Wie man drei Überhangmandate ermittelt, die gar nicht ausge­ glichen werden, ist im Gesetz sehr unklar formuliert. Viel­ leicht werden sie der CSU als Geschenk gemacht? Diese Fra­ ge wird der Bundeswahlleiter beantworten müssen. Das Bundesverfassungsgericht wird irgendwann über die recht­ liche Legitimation des neuen Wahlgesetzes entscheiden. Politisch – und das ist gravie­ render – ist sie längst verspielt. Spätestens dann, wenn die Bürgerinnen und Bürger fest­ stellen, dass das Parlament noch größer geworden ist. Christine Dankbar MEINUNG Foto: AtlasStudio/Colourbox.de 24 > dbb magazin | September 2021

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