dbb magazin 9/2019

die andere meinung << Der Autor ... ... ist Gründer und Geschäfts­ führer des Meinungsfor­ schungsinstituts forsa. Landtagswahlen im Osten Nichtwähler entscheiden Wahlen So falsch wie es 2010 war, als der SPIEGEL die Grünen als „neue deutsche Volkspartei“ ausgerufen hatte (die dann 2013 und 2017 nur von 6 beziehungsweise 6,7 Prozent aller Wahlberechtigten gewählt wur­ den), so falsch ist es heute, wenn der SPIEGEL in einer seiner letzten Ausgaben die AfD als „die neue Volkspartei im Osten“ bezeichnet und behauptet, die AfD schöpfe „ihre Kraft im Osten aus den Kommunen“. Ein genauer Blick auf die Wahl­ ergebnisse bei den Kommunal­ wahlen imMai in den fünf neuen Bundesländern hätte nämlich gezeigt, dass die AfD- Wähler gerade auf kommuna­ ler Ebene nur eine Minorität sind. Selbst in der früheren NPD- und heutigen AfD-Hoch­ burg Sachsen haben nur 13 von 100 Wahlberechtigten bei den Wahlen zu den Kreistagen und Stadträten der AfD ihre Stimme gegeben. Die große Mehrheit von 87 Prozent aller Wahlbe­ rechtigten aber hat die AfD nicht gewählt. Und in Thürin­ gen haben bei der Kommunal­ wahl nur zehn, in Brandenburg und Sachsen nur neun und in Mecklenburg-Vorpommern so­ gar nur acht von 100 Wahlbe­ rechtigten die AfD gewählt. Zudem hat die AfD bei den Wahlen auf kommunaler Ebe­ ne in allen fünf ostdeutschen Ländern deutlich weniger Stim­ men erhalten als 20 Monate vorher bei der Bundestags­ wahl. Zwischen September 2017 und Mai 2019 verlor sie zwischen 40 Prozent (in Meck­ lenburg-Vorpommern) und 35 Prozent (in Sachsen-Anhalt) ihrer Wähler. Somit ist auch die Einschätzung des SPIEGEL, die AfD sei „mitten im Alltag der Kommunen“ angelangt, ziemlich abwegig. Die AfD ist auch im Osten der Republik keine in breiten Schichten der Bevölke­ rung verankerte „Volks­ partei“, sondern eine Minderheit, mit der die große Mehrheit der Ostdeut­ schen wenig zu schaffen haben will. So unterscheiden sich die Einschätzungen, Meinungen und Einstellungen der AfD-An­ hänger deutlich von der Mehr­ heit des gesamten Volkes. Die AfD-Wähler sind auch im Osten eine recht homogene, überwie­ gend von Männern getragene verschworene Gemeinschaft, die geprägt ist durch extrem großes Misstrauen gegenüber anderen Menschen, tiefsitzen­ de Statusängste, eine Verach­ tung des gesamten politischen Systems und eine große Anfäl­ ligkeit für völkisches und frem­ denfeindliches Gedankengut. So ist für 65 Prozent der AfD- Anhänger im Osten die Zuwan­ derung und die Zahl der nach Deutschland kommenden Flüchtlinge das zur Zeit größte Problem, jedoch nur für 30 Pro­ zent der Ostdeutschen ohne AfD-Präferenz. Dass die AfD in Teilen Ost­ deutschlands in der Lage ist, mehr Stimmen zu erhalten als andere Parteien, ist nicht dar­ auf zurückzuführen, dass die AfD eine Volkspartei ist. Hohe Anteile an den abgegebenen gültigen Stimmen verdankt die AfD vielmehr der großen Zahl von Nichtwählern. Die empfin­ den auch Unmut darüber, wie viele politische Akteure Politik betreiben, wählen aber nicht die AfD, sondern gehen nicht zur Wahl. So beteiligten sich in Sachsen 37, in Thüringen 40, in Brandenburg 42, in Mecklen­ burg-Vorpommern 42 und in Sachsen-Anhalt sogar 46 Pro­ zent nicht an der Kommunal­ wahl. Die „Partei der Nicht­ wähler“ war imMai in allen fünf neuen Ländern die zahlen­ mäßig stärkste Gruppe. Ihre Zahl war in Sachsen dreimal, in Thüringen viermal und in Brandenburg, Mecklenburg- Vorpommern und Sachsen-Anhalt sogar fünfmal so hoch wie die Zahl der AfD-Wähler. Bei der Interpretation von Wahlergebnissen darf man sich nicht nur die Stimmenvertei­ lung auf der Basis der abgege­ benen gültigen Stimmen an­ schauen. Um die Verankerung der Parteien in der gesamten Wählerschaft richtig einschät­ zen zu können, muss man auch die Zahl der Wahlberechtigten, die die einzelnen Parteien ge­ wählt haben, zugrunde legen. Dann wird schnell erkennbar, welche Partei wirklich in breiten Schichten des Volkes akzeptiert ist und welche nicht. Das gilt im Übrigen nicht nur für den Os­ ten, sondern auch für den Wes­ ten der Republik. So haben zum Beispiel in der Stadt Flensburg, deren Oberbürgermeisterin Simone Lange glaubt, für das Amt der SPD-Vorsitzenden qua­ lifiziert zu sein, bei der Kommu­ nalwahl 2018 nur ganze sechs von 100 Wahlberechtigten der SPD ihre Stimme gegeben, fast zwei Drittel (65 Prozent) aber haben gar nicht gewählt. Und bei der Kommunalwahl 2016 in Frankfurt amMain haben nur drei von 100 Wahlberechtigten die AfD, 63 (also 20-mal mehr) aber gar nicht gewählt. Bedacht werden sollte bei der Interpretation von Wahlergeb­ nissen zudem, dass Entschei­ dungen bei regionalen Wahlen keinesfalls ein bloßer Reflex der politischen Großwetterlage sind. Vielmehr wissen die Men­ schen immer genau, ob es bei einer Wahl um die Mehrheit im Rathaus, im Landtag oder im Bundestag geht. Das Ergebnis der Landtagswahlen im Osten also als Urteil über die Berliner Politik zu interpretieren, hat mit demWählerwillen wenig zu tun. Manfred Güllner © Colourbox.de / Palto 17 > dbb magazin | September 2019

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