dbb magazin 9/2019

europa Populismus im epochalen Wandel Oberflächenphänomene und Tiefenstrukturen Der Erfolg populistischer Parteien ist spätestens seit den letzten Wahlen zum Europäischen Parlament unbestreitbar. Unbestreitbar ist ebenfalls die langsame Erosion traditioneller Volksparteien und die damit zusammenhän­ gende Fragmentierung von Parteiensystemen in vielen EU-Mitgliedstaaten. Beides kann sowohl als Ausdruck, aber auch als Auslöser des populistischen Erfolgs gelesen werden. Dies ist ausführlich in den Medien debattiert wor­ den, und zwar meist unter der Fragestellung, ob es sich hierbei um ein eher zeitlich begrenztes Phänomen oder um eine irreversible und wachsende Zahl von Ländern umfassende Entwicklung handele. Ein grundsätzliches Manko vieler Debatten ist, dass die wenigsten Beiträge eine klare Trennung vornehmen zwischen den Befindlichkeiten derjenigen, die entsprechende Parteien zu wählen bereit sind und denjeni­ gen politischen Unternehmern, die sie ausgehend von diesen Befindlichkeiten in eine Rich­ tung lenken, die von einer Lö­ sung der ursprünglich zugrunde liegenden Probleme weit ent­ fernt ist. Populistische Rhetorik ist eine Seite – die zugrunde lie­ genden Faktoren für ihren Er­ folg sind etwas ganz anderes. Dies ist das Problem des aktu­ ellen medienpolitischen Dis­ kurses: dass der Verweis auf abstruse politische Program­ matik und auf abenteuerliche Führungsfiguren meist an der Oberfläche eines Phänomens verbleibt, das weit tieferge­ hende Wurzeln hat. Wenn Wählern und Anhängern un­ terstellt wird, sie würden die entsprechende parteipolitische Programmatik zu 100 Prozent teilen, dann ist es einfach, ih­ nen Dummheit, Unaufgeklärt­ heit oder autoritäre Charakter­ züge zu unterstellen. Diese eher oberflächlichen Er­ klärungsversuche betrachten den Erfolg populistischer Rheto­ rik als unreflektierten Reflex auf die Entscheidung Merkels im September 2015, suchen ihn in vorgeblichen Persönlichkeits­ defiziten und kollektiven seeli­ schen Störungen oder etwa in ungünstigen Sozialisationsbe­ dingungen. Populismus hat dann möglicherweise gar kei­ nen spezifischen Inhalt, son­ dern stellt lediglich eine Form von Identitätspolitik dar. Popu­ listische Parteien und deren An­ hänger wären dann gleicherma­ ßen von Pathologien befallen, die als unausgegorener Effekt einer kulturellen Entfremdung und als genereller Abwehrreflex gegen die Herausforderungen der Gegenwart schlichtweg inakzeptabel sind. Solche an Oberflächenphäno­ menen verharrende Erklärun­ gen sind insofern erstaunlich, als mittlerweile eine Unzahl wissenschaftlicher Analysen vorliegt, die den Tiefenstruk­ turen des Phänomens auf die Spuren zu kommen versuchen. << Epochenbruch Praktisch alle wissenschaftlich ernst zu nehmenden Erklärun­ gen setzen bei einer Art Epo­ chenbruch an, der sich infolge der durch Globalisierungs- und Kommodifizierungsprozesse (Privatisierung; „Zur-Ware- Werden zuvor gemeinschaft­ lich genutzter Ressourcen) aus­ gelösten Effekte bereits Ende des letzten Jahrtausends ange­ kündigt hat und gegenwärtig seinem Höhepunkt zusteuert. Im Kontext dieses Bruchs ist es zu einer Neuausrichtung west­ licher Gesellschaften von einer im nationalen Rahmen veran­ kerten Industriemoderne hin zu einer neuen Ordnung ge­ kommen, die als globale Mo­ derne bezeichnet werden kann. Hinzu kommt die zuneh­ mend dominanter werdende Rolle einer Form von Neolibe­ ralismus, die einen Großteil so­ zialer und politischer Bereiche wirtschaftlichen Imperativen unterwirft. Formen kapitalisti­ scher Herrschaft haben sich überall ausgebreitet – eine Tat­ sache, die deutliche Spuren in den Tiefenstrukturen unserer politischen und gesellschaftli­ che Systeme hinterlassen hat. << Die Krise guten Regierens Ausgegangen wird in der rele­ vanten Literatur vom Prozess eines gleichzeitig verlaufenden Wandels nahezu aller gesell­ schaftlichen Bereiche. Deutlich gemacht werden kann dieser Wandel mit Rückgriff auf ein Modell der drei wesentlichen gesellschaftlichen Ordnungsfor­ men von Staat, Markt und Ge­ meinschaft. Im Gegensatz zu traditionellen Vorstellungen, denen zufolge Gesellschaften funktional in verschiedene Di­ mensionen differenziert sind, die je eigene Handlungslogiken ausprägen und relativ unabhän­ gig voneinander existieren, ge­ hen neuere Vorstellungen von der Existenz partieller Über­ schneidungen aus. Die dabei entstehenden Schnittmengen entscheiden darüber, welche der drei Dimensionen bezie© Colourbox.de 30 dbb > dbb magazin | September 2019

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