dbb magazin 10/2019
hintergrund fähig werden“, schlägt Hüther vor. „Eine kluge Regionalpolitik sollte den Kommunen die Möglichkeit geben, sich selbst zu helfen“, ergänzt Jens Süde kum, Studienmitautor und Ökonom an der Universität Düsseldorf. „Aber auch der Bund und die Länder sind in der Verantwortung.“ Weitere Stellschrauben sehen die Wissenschaftler darin, bür gerschaftliches Engagement besser zu unterstützen und zu vereinfachen, Bildungsangebo te in den betroffenen Regionen zu verbessern und Schienen sowie Kommunikationsnetze auszubauen. „Die Regionalpoli tik muss jetzt dringend gegen steuern, sonst werden die ge sellschaftlichen Spannungen zunehmen und es kann zu ge fährlichen Abwärtsspiralen kommen“, warnen Hüther und Südekum. << Die Schere schließt sich Bei den durchschnittlich verfügbaren Einkommen der Haushalte gehen die Unter schiede zwischen den Kreisen in Deutschland zurück. Das ist das Ergebnis der Studie „Ein zu nehmend gespaltenes Land? Regionale Einkommensunter schiede und die Entwicklung des Gefälles zwischen Stadt und Land sowie Ost- und West deutschland“ des ifo Instituts, die im August 2019 im ifo Schnelldienst veröffentlicht wurde. Die demografische Ent wicklung hingegen entwickelt sich weiter auseinander. „Anders als viele Menschen denken, verringern sich bei den Einkommen das Stadt- Land-Gefälle und das Gefälle zwischen West und Ost. Die Schere schließt sich, sie öffnet sich nicht“, sagt ifo-Präsident Clemens Fuest. „Dieser Prozess wurde vor allem getrieben durch den Aufholprozess des Ostens gegenüber demWes ten.“ Untersucht wurde der Zeitraum von 1994 bis 2016. Im Jahr 1994 war beispiels weise das durchschnittliche Einkommen in den zehn Pro zent der wohlhabendsten Krei se um 57 Prozent höher als in den zehn Prozent der Kreise mit den niedrigsten Einkom men. Im Jahr 2016 lag diese Einkommensdifferenz nur noch bei etwa 45 Prozent. Fuest ergänzt: „Die Einkom mensunterschiede zwischen Stadt und Land haben in west deutschen Regionen und Städ ten zugenommen, innerhalb Ostdeutschlands sogar deut lich.“ Steigende Wohnkosten in Ballungsräumen sind in der Studie jedoch nicht berücksich tigt. „Die höheren Wohnkosten in den Städten verringern de facto das Stadt-Land-Gefälle bei den Realeinkommen. Die ser Faktor dürfte seit 2016 wei ter an Bedeutung gewonnen haben. Das gilt auch für Ost deutschland“, erläutert Fuest und fügt hinzu: „Bei der demo grafischen Entwicklung hinge gen nehmen die Unterschiede zu. Vor allem auf dem Land im Osten schrumpft die Zahl der Bewohner und altert die Bevöl kerung deutlich schneller als in den Städten. Regionalpoliti sche Ansätze zur Förderung der ländlichen Räume sollten also vor allem die Demografie in den Blick nehmen.“ Die Bevöl kerungsdichte in ländlichen Re gionen in Ostdeutschland ist zwischen 1994 und 2016 um mehr als ein Drittel gesunken. Das Medianalter, bei dem je weils 50 Prozent der Bevölke rung älter beziehungsweise jünger sind, ist auf dem Land im Osten zwischen 1994 und 2016 von 38 auf 50 Jahre ge stiegen. In den ostdeutschen Städten ist das Medianalter nur von 39 auf 43 Jahre gestie gen. In Westdeutschland gibt es ebenfalls ein demografi sches Stadt-Land-Gefälle, es ist aber weniger ausgeprägt. < Wer definiert Gleichwertigkeit? Zu vergleichbaren Ergebnissen wie die bisher vorgestellten Ar beiten kommt auch das Berlin- Institut im aktuellen „Teilhabe atlas Deutschland“, der in Zusammenarbeit mit der Wüs tenrot-Stiftung erarbeitet wur de. Darin kritisiert Dr. Reiner Klingholz, Direktor des Berlin- Instituts für Bevölkerung und Entwicklung, dass die Bundes regierung zwar das Ziel verfol ge, für „gleichwertige Lebens verhältnisse“ in allen Teilen des Landes zu sorgen. „Sie hat aller dings bis heute nicht definiert, wie Gleichwertigkeit über haupt auszusehen hätte.“ Das mache es nahezu unmöglich, ungleichwertige Lebensverhält nisse zu benennen, geschweige denn Gleichwertigkeit herzu stellen. Ohnehin entwickelten sich die Regionen wirtschaft lich und demografisch sehr un terschiedlich und brächten oft grundlegend verschiedene Vor aussetzungen mit. „Mit dem Versprechen von Gleichwertig keit weckt die Politik Erwar tungen, die sie nicht erfüllen kann“, so Klingholz. „Dies führt unweigerlich zu Enttäuschun gen und weiteren Frustratio nen.“ Stattdessen solle sie die Realität anerkennen und ihre eigenen Möglichkeiten nüch tern einschätzen. Aufgrund der Vielfalt der Lebensbedingun gen muss sie nach Lösungen suchen, die sich an den jeweili gen regionalen Möglichkeiten und Bedürfnissen orientieren, um den Menschen überall im Land eine gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen. br << Die Studien im Netz IWH „Vereintes Land – drei Jahrzehnte nach demMauer fall“ https://bit.ly/2Vzs6n0 IW „Die Zukunft der Regio nen in Deutschland – Zwischen Vielfalt und Gleichwertigkeit“ https://bit.ly/2YWaXsW ifo „Ein zunehmend ge spaltenes Land? Regionale Einkommensunterschiede und die Entwicklung des Gefälles zwischen Stadt und Land sowie Ost- und Westdeutschland“ https://bit.ly/2Ldtb09 Berlin Institut „Teilhabe atlas Deutschland“ https://bit.ly/3280hFx 15 dbb > dbb magazin | Oktober 2019
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