dbb magazin 10/2019

reportage Schüler von heute das nur noch aus Geschichtsbüchern oder Erzählungen kennen, sind sie doch von Eltern großgezogen worden, die noch Bürgerinnen und Bürger der DDR waren. Viele von ihnen haben ein­ schneidende Erfahrungen mit Unsicherheit, Erwerbslosigkeit, gebrochenen Biografien ge­ macht. Prallen Unterrichtsstoff und Erzählungen aus der Fami­ lie manchmal aufeinander? << Kritische Auseinander- setzung statt Verklärung „Es geht da um unterschied­ liche Themen“, sagt Lehrer Thomas Langer. Er war als Schüler 1989 in der 10. Klasse. „Nehmen Sie Fernsehsendun­ gen immdr oder nehmen Sie das DDR-Museum in Berlin. Da geht es um FKK, um den Trab­ bi, die Ost-Schrippe, um DDR- Produkte.“ Politik werde wei­ testgehend ausgeklammert, sagt Langer weiter, das sei o. k., die Leute gucken sich das ger­ ne an, weil sie sich darin wie­ derfinden. Aber, und hier wird er deutlich: „Wir machen hier Schule und Unterricht auf wis­ senschaftlichen Grundlagen und bringen den Kids eine kri­ tische Auseinandersetzung mit der Geschichte bei.“ Die Ge­ schichtsverklärung finde da keinen Platz, lautet die einhel­ lige Meinung. Leon und Luise sehen es ebenso. „Ich versuche meinen Schülern immer beide Seiten beizubrin­ gen“, sagt Eva Jannasch. „Es geht um das Wissen über die Diktatur. Aber ich schicke sie auch mit Fragen wie in der Bro­ schüre los, um sie Leuten aus ihrem Haus oder ihrer Familie zu stellen. Manchmal kommen sie mit verwirrenden oder vom Unterrichtsstoff abweichenden Meinungen wieder. Dann müs­ sen sie lernen, das einzuordnen und zu bewerten.“ Das ist der Umgang mit „Oral History“, also Geschichte auf der Basis von Zeitzeugenerzählungen. Jannasch erklärt es einfach: „Geschichte ist das, wie der, der es aufgeschrieben hat, die Geschichte sieht.“ Deshalb ler­ nen die Schülerinnen und Schüler heute im Geschichts­ unterricht zunächst die grund­ legenden Fakten, arbeiten dann mit verschiedenen Quel­ len, lernen diese zu lesen und zu interpretieren und am Ende, sie zu bewerten und eine eige­ ne Haltung dazu zu entwickeln. WKW-Modell heißt das im Fachjargon: Wissen – Kompe­ tenz – Werte. In der Geschichts­ didaktik nennt man dieses Her­ angehen Multiperspektivität. „Mir ist es wichtig, den Fokus auf die ‚heile Welt der Diktatur‘ zu setzen“, sagt Eva Jannasch weiter. Diesen Buchtitel erwähnt sie im Gespräch mehrfach. Der Historiker Stefan Wolle hat das Buch 1998 im Auftrag der Bun­ deszentrale für politische Bil­ dung geschrieben und einen um­ fassenden Überblick über das Leben in der DDR geschaffen. << Für Schüler ist die DDR Geschichte „Ich bin als Kind glücklich in der DDR aufgewachsen, war gut in der Schule, all das. Das war die heile Welt. Und in mei­ nem Zeugnis aus der 1. Klasse steht ‚stellt zu viele kritische Fragen‘. Bei einer Siebenjähri­ gen!“ Es habe sie gegeben, die­ se heile Welt, nach der sich Leute heute zurücksehnen. „Aber wenn du heute nach Connewitz gehst und einen Punk über die Straße gehen siehst, weißt du: Das wäre frü­ her nicht möglich gewesen. Für diejenigen, die angeeckt sind, war es schnell nur noch Dikta­ tur.“ Diese unterschiedlichen Blickwinkel auf die Geschichte zu zeigen, sei ihr Ansatz. Das Gespräch geht zu Ende. Luise und Leon sind schon län­ ger weg, sie hatten Termine. Dass Schülerinnen und Schüler im Jahr 30 nach Mauerfall nichts über die DDR lernen, stimmt zumindest nach dem Lehrplan Geschichte in Sachsen nicht. Wie sie die DDR wahr­ nehmen und welche Schlüsse sie daraus ziehen, ist sehr un­ terschiedlich. „Die DDR ist für unsere Schüler sehr weit weg. Das ist ein historisches Thema wie die Weimarer Republik. Im ländlichen Bereich sieht das vielleicht noch ganz anders aus“, sagt Eric Buchmann. Man habe das an den Wahlergebnis­ sen der AfD gesehen, die in den ländlichen Regionen in allen Altersgruppen stärkste Partei geworden ist. Da sprächen Slo­ gans wie „Die Wende vollen­ den“ junge Menschen an. Eva Jannasch ergänzt: „Wir sind hier auf einer Insel, in ei­ nem Gymnasium in der tradi­ tionell liberalen Großstadt Leipzig. Das kann aber ein paar Kilometer weiter auf dem Land ganz anders sein.“ Text: Jörg Meyer Fotos: Jan Brenner << Thomas Langer << Die Geschichtslehrer Eva Jannasch und Eric Buchmann versuchen die Geschichte der DDR am Johannes-Kepler- Gymnasium in Leipzig multiperspektiv zu vermitteln. 20 dbb > dbb magazin | Oktober 2019

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