dbb magazin 10/2019
frauen So ergriffen Cornelia Matzke und Petra Lux von der FIL am 18. November 1989 auf der ersten genehmigten Kundge bung des NF das Mikrofon und erklärten die Frauenfrage zur Machtfrage. Angesichts der massiven Polizeigewalt und drohenden Verhaftungen war die Teilnahme an den Demons trationen mit erheblichem Risi ko verbunden. Die Mehrzahl der feministischen Demons trantinnen waren Mütter. Häu fig übernahm eine Frau aus der Gruppe am Tag der Kundge bung die Aufsicht der Kinder. Für den Fall der Verhaftung hatte sie eine Liste mit Telefon nummern von Verwandten und Bekannten parat. Mut und Risikobereitschaft be wiesen die Frauen bei der Ent machtung des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS). Die erste Besetzung einer Bezirks verwaltung des MfS erfolgte am 4. Dezember 1989 in Erfurt auf Initiative von Kerstin Schön und Sabine Fabien aus der Gruppe Frauen für Verände rung. „Wir liefen geradeaus an den Soldaten vorbei und ich winkte den Wartenden zu, wusste aber nicht, ob die ande ren uns folgen. Aber sie sind uns gefolgt und boten uns Schutz, das war wichtig. Wir alle waren jetzt Besetzer“, schreibt Gabriele Stötzer rück blickend. 2 Die Besetzung in Er furt war der Anfang: Noch am selben Tag folgten gleiche Ak tionen in Leipzig, Suhl, Schwe rin und Rostock – bis zur Beset zung des MfS am 15. Januar 1990 in Ostberlin. << Ohne Frauen keine Demokratie Die Abschaffung der Geheim polizei war für den Frauenauf bruch im Herbst 1989 nur ein Baustein für eine umfassende Demokratisierung der DDR. „Ohne Frauen ist kein Staat zu machen!“, hielt Ina Merkel im Manifest des UFV fest. 3 Sie for derte tatsächliche Gleichbe rechtigung auf allen Ebenen. Unter dieser Losung erkämpf ten Frauengruppen ihren Platz an den männerdominierten runden Tischen in Ostberlin und auf kommunaler Ebene. Ihnen drohte Ausschluss: Sie seien keine Partei, sondern „nur“ Interessenvertretung. „Es geht wieder mal um Erhalt der Macht durch Ausgrenzung […]. Ist das noch Demokratie?“, fragte der UFV Dresden in ei nem offenen Brief. 4 Die Frauen blieben dran. Sie entsandten Vertreterinnen und entwickelten Konzepte für eine lokale wie überregionale Infrastruktur. Sie forderten un ter anderem die Einrichtung von Gleichstellungsbeauftrag ten und Frauenhäusern. Zwi schen Januar und Oktober 1990 gründeten Frauen in atemberaubender Geschwin digkeit zahlreiche Vereine, eröffneten Konten für ihre Projekte und möblierten ihre Vereinsräume. Dies geschah mit einer ordentlichen Por- tion Pragmatismus, wie die Gründung des Vereins Frauen technikzentrum Leipzig zeigt. Hierfür stellte das Bundesfrau enministerium eine Förderung in Höhe von 100000 D-Mark in Aussicht, aber „bis Dienstag müsst ihr schon das Konto ha ben “, hieß es aus demMiniste rium. 5 Mitbegründerin Ruth Stachorra erinnert sich: Ich bin „rumgerannt, hab Unterschrif ten gesammelt für die Vereins gründung. Sieben brauchte man. […] Montag hatten wir die Satzung fertig und […] ein Konto eingerichtet, auf den Verein, den es noch gar nicht richtig gab, […] Dienstag hatten wir das Geld auf dem Konto. Wir waren da nicht so ängst lich.“ 6 Der Aufbau der feminis tischen Infrastruktur erfolgte in vielen Fällen mit tatkräftiger Unterstützung aus demWes ten. Hierbei spielten die Part nerstädte eine wichtige Rolle. Gleichstellungsbeauftragte, Stiftungen und Frauenprojekte aus Westdeutschland stellten ihre Expertise und vorhandene Sachmittel zur Verfügung. << „Alle Frauen sind mutig, stark, schön“ Von Beginn an war das Parla ment – ob kommunal oder Volkskammer – eine wichtige Arena der ostdeutschen Frau enbewegung. Jahrzehntelang bestimmten vor allem ältere Herren aus dem Politbüro darü ber, ob Frauen in der DDR nun emanzipiert seien und was sie für ihre Emanzipation benötig ten. Die entmündigende Frau enpolitik der SED führte dazu, dass die Frauen nun in Politik und Parlamente drängten. Sie wollten endlich mitbestimmen und mitgestalten. Auf der Kund gebung des NF am 18. Novem ber 1989 in Leipzig rief Petra << Frauen-Protestaktion vor dem Bonhoeffer-Haus in Berlin gegen den Ausschluss des UFV am ersten runden Tisch © Robert-Havemann-Gesellschaft_Fo_RDA_02257 © Robert-Havemann-Gesellschaft_Fo_RDA_03490 25 dbb > dbb magazin | Oktober 2019
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