dbb magazin 11/2019

standpunkt Zehn Jahre UN-Behindertenrechtskonvention Wieviel Inklusion ist wirklich gewollt? Wer möchte, darf feiern. Am 3. Mai 2019 jährte sich zum zehnten Mal das Inkrafttreten der Men­ schenrechtskonvention der Vereinten Nationen, die jedemMitglied der Gesellschaft ein selbstver­ ständliches Dabeisein in allen Lebensbereichen rechtlich zusichert, auch wenn dies durch eine körperliche oder seelische Beeinträchtigung er­ schwert ist. Das nennt man Inklusion. Doch wie­ viel Inklusion ist wirklich gewollt und umgesetzt? Mit der UN-Behindertenrechts­ konvention (UN-BRK) setzte sich ein lange gefordertes, so­ zialgeprägtes Rechtsverständ­ nis von Behinderung durch. Der Satz „Niemand darf wegen sei­ ner Behinderung benachteiligt werden“ (Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG) müsste nun eigentlich lauten: „Niemand darf wegen seiner körperlichen oder seelischen Beeinträchtigung behindert werden.“ Anstelle einer Betrachtungs­ weise, die über eine defizit­ orientierte Wahrnehmung ei­ ner Schädigung und der damit verbundenen Funktionsbeein­ trächtigung zu einem „Grad der Behinderung“ (GdB) gelangt, gibt die UN-BRK eine Sicht­ weise vor, die Behinderung als wechselseitiges Geschehen an­ erkennt, in demMenschen mit Beeinträchtigungen gegenüber einstellungs- und umweltbe­ dingten Barrieren stehen. Anstelle von Nachteilsausglei­ chen formuliert die BRK einen Anspruch auf angemessene Vorkehrungen, durch die Nach­ teile vermieden werden. Das nennt man Inklusion. Behinde­ rung wird nicht mehr als per­ sönliches Attribut, sondern als eine Folge abzubauender Barri­ eren betrachtet. Insofern ist es angebracht, nicht weiterhin von „Behinderten“ oder „Menschen mit Behinderung“ zu sprechen, sondern von „Menschen mit Beeinträch­ tigungen“. Für „Schwerbehin­ derte“ bietet sich der Terminus „Menschen mit gravierenden Beeinträchtigungen“ an. Infolge dieser vor zehn Jahren ratifizierten Vorgabe musste die im nationalen Recht beste­ hende Begriffsvorstellung des Behinderten aufgegeben und an die BRK angepasst werden. Dies geschah unter anderem im Neunten Sozialgesetzbuch, im Behindertengleichstellungs­ gesetz und den entsprechen­ den Landesgesetzen. << Der Grundsatz der Eigenmaßstäblichkeit Mit dem Gedanken der Wech­ selseitigkeit von Behinderung wurde zugleich aber auch ein Grundsatz der Behinderten­ rechtskonvention implemen­ tiert, der bis heute übersehen wird: der Grundsatz der Eigen­ maßstäblichkeit. Es genügt nicht, zu betonen, dass der Mensch stets willkom­ men ist, unabhängig von seiner körperlichen/seelischen Disposi­ tion. Dieser Satz wird nur dann nicht zur Phrase im Jargon des „Behinderte leisten einen wert­ vollen Beitrag“, wenn er aus einem Bewusstsein heraus ge­ sprochen wird , das den „behin­ derten Menschen“ wahrnimmt, wo er steht, und das bereit ist, den Perspektivwechsel in eine aus der Beeinträchtigung her­ aus wahrgenommene und ge­ gebenenfalls anzupassende Arbeitssituation zu vollziehen. Das setzt Kommunikation, Ver­ trauen, und daher: denWillen, wirklich zu wollen, voraus. Und hätte zur Folge, dass der beein­ trächtigte Mensch tatsächlich so beschäftigt wird, wie dies aufgrund seiner individuell eingeschränkten Disposition und arbeitgeberischer Verant­ wortung geboten erscheint. << Mehr positive Wahr­ nehmung verpflichtend In Zeiten, in denen rechtspopu­ listische Ansichten nicht nur diskursfähig, sondern bereits wieder parlamentarisch vertre­ ten werden, sind dringend Ver­ hältnisse zu schaffen, in denen beeinträchtigte Menschen nicht als Belastung empfunden werden. In einer leistungsper­ vertierten Arbeitswelt ist der Schritt von der Belastung zum „Ballast“ nach zehn Jahren Be­ hindertenrechtskonvention eher kleiner geworden. Dabei verpflichtet die BRK die Staa­ ten für eine positive Wahr­ nehmung von Menschen mit Beeinträchtigungen Sorge zu tragen. Die Gründe dafür lehrt die Geschichte. << Noch einmal: Eigenmaß- stäblichkeit beachten Eigenmaßstäblichkeit und positive Wahrnehmung hängen eng miteinander zusammen. Nur dann, wenn die auf das Leistungsvermögen beeinträch­ tigter Menschen gerichteten Erwartungen auch beeinträch­ tigungsgerecht modifiziert werden, wenn mit anderen Worten keine organisierte und chronifizierte Überforderung eingefordert wird, ist der beein­ trächtigte Mensch in der Lage, dauerhaft einen wertvollen und sinnvollen Beitrag zum Ganzen zu leisten. Erst dann kann Teilhabe Wirklichkeit werden. Diese Wirklichkeit umfasst auch Teilhabe an ei­ nem adäquaten beruflichen Fortkommen. Erfüllt der beein­ trächtigte Mensch die seinen Möglichkeiten angepassten Erwartungen, übt er sein Amt nach bestemWissen und Kön­ nen aus, darf er wie jeder ande­ re ein entsprechendes Fortkom­ men erwarten. Erst wenn eine menschenrechtskonforme und teilhabegerechten Auslegung des Art. 33 Abs. 2 GG zur Bes­ tenauslese vorgenommen wird, beginnt es, inklusiv zu werden. << Inklusionsfähigkeit der Verwaltungen fraglich Inklusion ist nicht der höhen­ verstellbare Schreibtisch und auch sonst kein Selbstläufer. Und es ist nicht die Inklusions­ fähigkeit von Menschen, son­ dern die der Verwaltungen, die infrage steht. Wenn beeinträch­ tigten Menschen die Verbeam­ tung verweigert wird, weil sie aufgrund ihrer Konstitution, also „aufgrund ihrer Behinde­ rung“ das erwartete standardi­ sierte Leistungsversprechen nicht gewährleisten können – Was feiert man dann – nach zehn Jahren BRK? Jochen Schulte << Der Autor . . ist Mitglied der dbb AG Behindertenpolitik © Colourbox.de 33 dbb > dbb magazin | November 2019

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