dbb magazin 12/2019

interview förmlichen Beweisaufnahme zur Unterstützung des Gerichts beratend hinzugezogen werden können. Gerichte können dann im Rahmen der Prozessleitung den Streitstoff strukturieren und abschichten. Daneben wer­ den die Möglichkeiten zum Ab­ schluss eines wirksamen Ver­ gleichs vor Gericht erleichtert. Neben dem Personalmangel spielt auch die Gesetzesflut und -komplexität eine große Rolle bei der Überlastung der Justiz. Allein der Bund hat 1714 Ein- zelgesetze mit insgesamt 47849 Einzelnormen geschaf- fen. Müsste Ihr Ministerium es sich nicht eigentlich zur Haupt- aufgabe machen, dass weniger, aber dafür verständlichere Ge- setze ausgearbeitet werden? Gesetze werden dort geschaf­ fen oder geändert, wo es sinn­ voll und notwendig ist. Eine stärkere internationale Zusam­ menarbeit, aber auch die Digi­ talisierung führen beispiels­ weise dazu, dass mit Gesetzen immer schneller reagiert wer­ den muss. Aber natürlich prü­ fen wir auch laufend, welche Normen aus der Zeit gefallen sind und nicht mehr ange­ wandt werden. Wenn die Bundesregierung ei­ nen Gesetzestext erarbeitet, hat sie immer das Ziel, dass dieser eindeutig und logisch ist. Gesetzestexte sollen nicht nur für Juristinnen und Juristen verständlich sein. Aus diesem Grund hat das Bundesministe­ rium der Justiz und für Ver­ braucherschutz bereits 2009 eine Arbeitseinheit eingerich­ tet, die andere Bundesministe­ rien bei der Ausarbeitung von Gesetzestexten berät und un­ terstützt. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Redakti­ onsstabs Rechtssprache prüfen Gesetzesentwürfe auf ihre sprachliche Korrektheit und Verständlichkeit. Bei der Modernisierung des Strafverfahrens sollen die Be- fugnisse der Ermittlungsbehör- den im Bereich der Telekommu- nikationsüberwachung (TKÜ) erweitert werden, um zum Bei- spiel Serientätern auf die Spur zu kommen. In der Bevölkerung ist das ein emotional aufgelade- nes Thema. Ist das Verhältnis zwischen dem Schutz der Per- sönlichkeitsrechte und den Mög- lichkeiten der Verbrechensbe- kämpfung noch ausgewogen? Wohnungseinbrüche dringen tief in die Privatsphäre der Menschen ein und können bei den Opfern traumatische Fol­ gen haben. Wichtig ist, die Menschen zu schützen und auch die Aufklärungsquote weiter zu erhöhen. Dazu erwei­ tern wir die Befugnisse der Er­ mittlungsbehörden im Bereich der Telekommunikationsüber­ wachung bei serienmäßigen Wohnungseinbrüchen. Sie haben recht – das ist ein Spannungsfeld, in dem wir uns da bewegen. Wir müssen uns immer um ausgewogene Lö­ sungen bemühen. Das Bundes­ verfassungsgericht hat hervor­ gehoben, dass es sich bei der Aufklärung und gerechten Ahndung schwerwiegender Taten um ein wichtiges Allge­ meininteresse im Rechtsstaat handelt. Sie kennen vielleicht die berühmte Formel von der „Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege“, die nicht nur Ausfluss des Rechtsstaats­ prinzips sein soll, sondern un­ abdingbare Voraussetzung für die Existenz und den Bestand des demokratischen Rechts­ staats selbst. Andererseits ist das Grundrecht aus Art. 10 Grundgesetz, das durch Tele­ kommunikationsüberwachung eingeschränkt wird, ebenfalls ein Pfeiler des Rechtsstaats. Nicht jeder Wohnungsein­ bruchdiebstahl in eine dauer­ haft genutzte Privatwohnung wiegt auch im Einzelfall ausrei­ chend schwer, um einen Eingriff in das Telekommunikationsge­ heimnis zu rechtfertigen. Das kann aber anders sein, wenn sich der Beschuldigte nicht nur im Einzelfall, sondern in einer Mehrzahl von Fällen strafbar gemacht haben könnte. Dies müssen die Gerichte bei der Anordnung der Maßnahme im Blick haben. Ich denke, dass wir damit eine ausgeglichene Lösung gefunden haben. Seit Ende Oktober liegt das Gutachten der von der Bundes- regierung eingesetzten Daten­ ethikkommission vor. Darin wird unter anderem vor Algo- rithmen gewarnt, mit denen die Betreiber von sozialen Netz- werken die Interessen und Vor- lieben ihrer Nutzer filtern und so Entscheidungen beeinflussen können. Was können Sie tun, um Facebook, Google & Co die missbräuchliche Verwendung von Algorithmen zu unter­ sagen? Bei Facebook, Google & Co geht es zuallererst um die un­ geheure Menge an Daten, die diese Plattformen über ihre Nutzerinnen und Nutzer sam­ meln. Denn aufgrund dieser Da­ ten werden vermeintliche und tatsächliche Interessen gefiltert und Inhalte in der „Timeline“ angezeigt oder eben auch nicht angezeigt. Natürlich birgt das Risiken für die Privatsphäre und auch für die Meinungsvielfalt. Daher brauchen wir zunächst eine konsequente Durchset­ zung der noch recht neuen europäischen Datenschutz- Grundverordnung. Diese gibt Verbraucherinnen und Ver­ brauchern gerade gegenüber den großen Plattformen neue Rechte, zum Beispiel auch das Recht „vergessen zu werden“. Und wenn wir über Algorith­ men reden: Die DSGVO enthält heute schon das Recht darauf, nicht einfach Objekt eines Al­ gorithmus zu werden. Wenn Entscheidungen Menschen erheblich berühren, müssen Menschen entscheiden, nicht allein Computer. Für mich ist aber auch klar: So wie sich Technologien weiter­ entwickeln, müssen wir auch das Recht weiterentwickeln. Das betrifft vor allem die Transparenz und Diskriminie­ rungsfreiheit von algorithmi­ schen Systemen. Die Daten­ ethikkommission hat gute Vorschläge für eine Regulie­ rung gemacht, die Innovatio­ nen ermöglicht und zugleich Gefahren begrenzt, wenn wichtige persönliche Lebens­ bereiche wie die Gesundheit oder die freie Berufswahl be­ troffen sind. Regulierung muss klug gestaltet sein. Daran ar­ beiten wir auf europäischer und nationaler Ebene. Die AfD ist mittlerweile in allen Landtagen und dem Bundestag vertreten. Teile der Partei wur- den vom Verfassungsschutz je- doch zum Verdachtsfall erklärt. In Thüringen hat sie mit Björn Höcke einen Mann an der Spit- ze, der einerseits laut eines Gerichtsurteils öffentlich als „Faschist“ bezeichnet werden darf, andererseits laut Partei- chef Alexander Gauland in der „Mitte der Partei“ steht. Wie stehen Sie vor diesem Hinter- grund zu einem Verbotsverfah- ren gegen die AfD? Auch mit Blick auf die Erfahrungen aus dem gescheiterten NPD-Ver- botsverfahren? Teile der AfD werden bereits vom Verfassungsschutz beob­ achtet. Alle, die hier in der Ver­ antwortung sind, müssen sehr genau hinschauen und dürfen nicht abwarten. Ein Parteiverbotsverfahren ist Teil unserer wehrhaften Demo­ kratie, das Grundgesetz enthält für das Verbot von Parteien eindeutige Regeln. Was verfas­ sungswidrig ist, entscheidet das Bundesverfassungsgericht. Doch unabhängig davon gilt ganz grundsätzlich: Das Bun­ desverfassungsgericht wird uns die Auseinandersetzung mit jeglicher Form von Extre­ mismus nicht abnehmen und in dieser Auseinandersetzung müssen wir die Menschen überzeugen. Die Bekämpfung von Hass und Hetze ist eine ge­ samtgesellschaftliche Aufgabe. Wir sind alle gefordert, unsere Demokratie und unsere Grund­ werte zu verteidigen. 5 dbb > dbb magazin | Dezember 2019

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