dbb magazin 5/2020

interview Folgen in bislang unvorher­ sehbarem Ausmaß nach sich ziehen. Wie sehen Ihrer Ein- schätzung nach unsere wirt- schaftlichen und gesellschaft­ lichen Rahmenbedingungen nach der Krise aus? Wenn ich das wüsste ... Im Ernst: Selbst wenn es uns ge- lingen sollte, in Deutschland die Folgen einigermaßen er- träglich zu gestalten, drohen aufgrund der Situation in an- deren Ländern, auch in unse- rer Nachbarschaft, gewaltige und lang andauernde ökono- mische Belastungen. Das re- duziert unter anderem den Handlungsspielraum in ande- ren strittigen Feldern, etwa in der Flüchtlings-, Energie- und Klimaschutzpolitik. Hier hat bislang die gute Wirtschafts- lage konfliktbeschwichtigend gewirkt. Das könnte sich jetzt ändern und deshalb ist es vor- eilig, aus der derzeitigen rela- tiven Bedeutungslosigkeit der politischen Ränder auf ihre dauerhafte Schwächung zu schließen. In außenpolitischer Hinsicht wird es ferner span- nend zu sehen, wie die Euro- päische Union, die sich (auch) in dieser Krise als weitgehend irrelevant erwiesen hat, hier- auf reagiert. Der übliche Re- flex – das Verlangen nach mehr Zentralisierung – ist schon jetzt zu erkennen. Es ist aber fraglich, ob das in der Zeit „nach Corona“ noch überzeugt. Gesellschaftlich schließlich ist zunächst auf das derzeit erkennbare erfreu- lich und erstaunlich hohe Maß an Solidarität hinzuweisen. Wir sind weniger eigensüchtig und stärker in Beziehungen eingebunden, als uns viel- leicht selbst bewusst war. Wer sorgt sich nicht um die örtliche Buchhändlerin, den Kellner im Lieblingsrestaurant (und seine Familie in Italien), die Krankengymnastin? Diens- tags- und freitagsabends ste- hen in unserer Straße die Menschen auf ihren Balko- nen/am offenen Fenster und singen „We shall overcome“ – und das im angeblich so kühlen Hamburg! Was ich da- mit sagen will: Wir entdecken in der Krise Gemeinsamkeiten und eine Empathie füreinan- der, die vielleicht immer vor- handen war, aber jetzt erst stärker hervortritt. Diesen ge- sellschaftlichen Zusammen- halt müssen wir konservieren, ihn gilt es zu nutzen, wenn die Situation sich – hoffentlich bald – wieder normalisiert hat. Im Bereich der augenblicklich so eifrig mit Applaus bedachten „Care-Berufe“ arbeiten auch die Beschäftigten im Gesund- heitswesen oft unter schlecht bezahlten Konditionen, die der Bedeutung ihrer Tätigkeit nicht angemessen sind. Wie erklären Sie diese Diskrepanz? Die gesellschaftliche Bedeu- tung einer Tätigkeit ist natur- gemäß schwer zu bestimmen; ihr Wert ist auch keineswegs nur pekuniär zu bemessen. Im marktwirtschaftlichen Sinn beruhen Löhne stark auf dem Verhältnis von Angebot und Nachfrage. Vereinfacht ausge- drückt: Berufe, für die es viele geeignete Bewerber gibt, sind schlechter bezahlt als solche mit Qualifikationsanforderun- gen, die nur von einer kleine- ren Zahl von Personen erfüllt werden. Das Gesundheitssys- tem ist zwar kein freier Markt, sondern die zur Verfügung ste- henden Mittel werden stark staatlich beeinflusst. Aber völlig aus der beschriebenen Marktlogik lösen kann (und sollte) es sich nicht. Gleichzei- tig steht es – auch infolge ganz wünschenswerter Entwicklun- gen wie demmedizinischen Fortschritt – unter einem er- heblichen Kostendruck. Ferner ist von Relevanz, dass die un- terschiedlichen Beteiligten ihre Interessen unterschiedlich gut organisieren und durchsetzen. Insgesamt habe ich deshalb starke Zweifel, dass wir deut­ liche Gehaltssteigerungen se- hen werden. Vielleicht trägt aber die Erfahrung der Krise mit dazu bei, den Respekt vor und die Dankbarkeit gegen- über den in diesen Berufsfel- dern tätigen Personen dauer- haft zu erhöhen. Noch einmal ein Beispiel aus meiner Nach- barschaft: Hier hängen an einigen Häusern von Kindern gemalte Poster, auf denen Ärzten, „Müllmännern“ und Ähnlichen gedankt wird. Wenn wir alle das stärker verinnerli- chen, mag sich das langfristig auch auf die Lohnstrukturen auswirken. Das Homeoffice löst nicht nur Probleme, es schafft auch neue: die Entgrenzung von Arbeit und Freizeit, die Gefahr von Selbstausbeutung und mangel- haftem Schutz von Privatsphä- re und persönlichen Daten. Wir beurteilen Sie die Auswir- kungen von Digitalisierung und mobilem Arbeiten vor diesem Hintergrund? Als Wissenschaftler sind wir es seit jeher gewöhnt, Beruf­ liches und Privates stärker zu vermischen, und die meisten von uns sind damit auch sehr zufrieden. Wir sind indes na- türlich in einer besonderen, privilegierten Position. Auch mit Blick auf die allgemeine Lage bin ich jedoch vorsichtig optimistisch und sehe eher die Vorteile. Das gilt schon hinsichtlich der umfassenden Erreichbarkeit durch Smart- phone und Ähnlichem, es gilt auch mit Blick auf die Home- office-Option. Es ist doch er­ frischend zu sehen, wie viele Besprechungen nun ganz un- problematisch virtuell durch- geführt werden können und wie viel Verständnis für die Kinderbetreuung auf einmal vorhanden ist. Allerdings müs- sen wir wachsam sein, weil auch an dieser Stelle die Aus- wirkungen nicht gleich verteilt sind. Das betrifft neben der familiären Situation etwa die konkreten beruflichen Aufga- benfelder, die Erwartungshal- tungen der Arbeitgeber, aber eben auch die Frage, wie groß- zügig oder beengt die Wohn- verhältnisse sind. << Prof. Dr. jur. Steffen Augsberg ... ... ist seit 2013 Professor für Öffentliches Recht an der JLU Gießen. Er studierte Rechtswissenschaft an der Universität Trier und der LMU München und wurde in Heidelberg promoviert. Die Habili­ tation erfolgte an der Universität zu Köln. Seine Forschungsgebie- te umfassen das nationale Verfassungs- und Verwaltungsrecht sowie das Recht der Europäischen Union und die Rechtstheorie. Seit 2016 ist er Mitglied des Deutschen Ethikrates; unter anderem war er dort Sprecher der Arbeitsgruppe „Big Data und Gesund- heit“ und der Arbeitsgruppe „Tierwohlachtung“. An der Ende März veröffentlichten Ad-hoc-Empfehlung „Solidarität und Ver- antwortung in der Corona-Krise“ des Deutschen Ethikrats hat er federführend mitgearbeitet (https://bit.ly/34JKjUz) . 5 dbb > dbb magazin | Mai 2020

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