dbb magazin 12/2020

drei fragen an . Thomas Haldenwang, Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz „Wir sehen auf beiden Augen sehr gut und schauen genau hin“ 1 Was leistet das BfV für die Sicherheit in Deutschland? Die erste deutsche Demokratie, die Weimarer Republik, ist ge­ scheitert, weil sie an ihrer Wehrlosigkeit zugrunde ging. Der Verfassungsschutz ist heu­ te Teil der „wehrhaften Demo­ kratie“. Das bedeutet, dass Staat und Gesellschaft den Feinden der Demokratie nicht neutral gegenüberstehen dür­ fen. Das Bundesamt für Verfas­ sungsschutz unterstützt und stärkt unsere freiheitliche de­ mokratische Grundordnung. Dazu identifizieren wir Bedro­ hungen und sorgen mit unserer Arbeit dafür, dass die Men­ schen in unserem Land ihr Le­ ben in größtmöglicher Freiheit und Sicherheit selbstbestimmt leben können. Darüber hinaus informieren wir mit dem Ver­ fassungsschutzbericht alljähr­ lich Politik und Bevölkerung über die Gefahren für unsere Demokratie und Gesellschaft, erstellen hochwertige Analysen und unterstützen die Polizei- und Strafverfolgungsbehörden. Dabei stellen wir uns darauf ein, dass der Schutz unserer Verfassung immer komplexer wird. Denn neben den Gefähr­ dungen in der Realwelt haben wir es zunehmend mit Bedro­ hungen im Cyberraum zu tun. 2 Immer wieder wird im politischen Raum ver- einzelt die Forderung nach einer Abschaffung des Verfassungsschutzes laut – warum brauchen wir den Verfassungsschutz? Die Forderung nach einer Ab­ schaffung der deutschen Nach­ richtendienste taucht immer wieder einmal auf. Häufig ist sie mehr politisch motiviert als sachlich begründet. Der Vor­ schlag, den Verfassungsschutz zum Beispiel in einen wissen­ schaftlichen Dienst und einen geheimdienstlichen Arm aufzu­ spalten, ist nicht neu. Trotzdem ist das in unseren Zeiten welt­ fremd, denn der operative Ein­ satz, die Auswertung und die wissenschaftliche Analyse müs­ sen nah beieinander sein. Künstliche Trennungen und zu­ sätzliche Hürden helfen uns da weder weiter noch bringen sie mehr Sicherheit für unser Land. Unsere Arbeit kann auch nicht einfach von der Polizei über­ nommen werden, weil wir prä­ ventiv und im Vorfeld tätig sind, nicht erst bei der Strafver­ folgung. Und wer wollte schon die Trennung von Polizei und Nachrichtendiensten aufhe­ ben? Das BfV ist der radikale Gegenentwurf zu den Geheim­ diensten des NS-Regimes oder der DDR. Daher weisen wir auch immer wieder einmal auf­ kommende Vorwürfe zurück, der Verfassungsschutz sei auf einem Auge blind – mal auf dem rechten, mal auf dem lin­ ken. Faktisch sehen wir aber auf beiden Augen sehr gut und schauen genau hin. Man muss uns aber auch hinschauen las­ sen: Wir wollen es zum Beispiel nicht hinnehmen, dass Extre­ misten und Terroristen von ver­ schlüsselten Chats im Internet profitieren. 3 Die nunmehr 70-jährige Geschichte des BfV war bislang nicht Gegen- stand einer umfassenden wis- senschaftlichen Erforschung, insbesondere mit Blick auf die Gründungsphase von 1950 bis 1975 und eine kritische Aufar- beitung der Nachwirkungen des Nationalsozialismus. Wurde zu- mindest eine mögliche NS-Ver- gangenheit aufgearbeitet? Im Jahr 2015 sind die Ergebnis­ se eines Geschichtsprojekts vorgestellt worden, das von zwei unabhängigen Historikern der Ruhr-Universität Bochum durchgeführt wurde. Im Ergeb­ nis wurde festgestellt: Das BfV hat keine NS-Vergangenheit. Bis 1955 kontrollierten und ge­ nehmigten die Alliierten die Einstellung des Personals, so­ dass Angehörige verbrecheri­ scher NS-Organisationen dort nicht in feste Beschäftigungs­ verhältnisse kommen konnten. Nach dem Ende des Besat­ zungsstatus wurde jedoch eine Reihe von bis dahin „Freien Mitarbeitern“ als Angestellte und Beamte in das Haus über­ nommen. Und unter diesen „Freien Mitarbeitern“ waren auch etwa 16 Personen mit ei­ nem Vorlauf in der Gestapo, der SS und dem SD. Sie waren im BfV zum Großteil in der Spio­ nageabwehr tätig und wurden bereits 1963 wieder aus dem Bundesamt entfernt. Die histo­ rischen Untersuchungen haben nicht ergeben, dass diese relativ kleine Gruppe die Behörde in irgendeiner Weise geprägt hät­ te. Das Geschichtsprojekt hat auch herausgearbeitet, dass das BfV 1950 nicht auf den Resten einer Vorläuferorganisation oder einer anderen Behörde aufgebaut wurde, weshalb es auch schnell zu einem integra­ len Bestandteil des westlichen Bündnisses werden konnte. Die Wurzeln des BfV sind also nicht „braun“, sondern sie tragen die Farben vor allem der Amerika­ ner und Briten. Die Geschichte des Amtes gibt uns Anlass für Stolz und Demut, für Anerken­ nung und Kritik, Vertrauen und Kontrolle, Beharrlichkeit und Veränderungsbereitschaft. Wenn wir heute in einer der si­ chersten und stabilsten Demo­ kratien der Welt leben, hat das BfV einen Anteil daran. Unter anderem auch, weil seine Be­ schäftigten an der Vereitelung zahlreicher Anschläge beteiligt waren und die Vorarbeit für wichtige Verbotsverfahren geleistet haben. ? ? ? drei fragen an ... << Thomas Haldenwang © Michael Sohn / AP 34 dbb > dbb magazin | Dezember 2020

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