dbb magazin 12/2020
europa die Voraussetzung auch für jeden Beitritt zur Europäi schen Union war, längst nicht mehr überall in der Gemein schaft gilt. Der vor wenigen Wochen veröffentlichte erste Rechtsstaatbericht der Euro päischen Union zeigt gravie rende Defizite in mehreren EU-Staaten auf, Schwächen in fast allen, auch in Deutschland. Zu nahezu identischen Ergeb nissen kam auch der bereits Ende 2019 vorgelegte Zwi schenbericht zu Grundrechten und Rechtsstaatlichkeit des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses. << Überall in Europa gibt es Korruption In weiten Teilen Europas geht es nicht mehr nur um Verbesserungen. In vielen EU-Staaten ist die Lage von Rechtsstaat und Demokratie bereits katastrophal. Der libe rale Verfassungsstaat wird von mindestens zwei Seiten herausgefordert. Autoritaris mus und Korruption höhlen ihn besonders in den jüngeren Demokratien Mittelosteuropas aus. Korruption ist aber auch in Gründungsstaaten der Europä ischen Gemeinschaft ein fun damentales Problem. So gibt es in der EU bereits gescheiter te Staaten, auch wenn dies bis her kaum offen ausgesprochen wird. Ein Land wie Bulgarien ist im Grunde genommen ein ge scheiterter Staat, die Regie rung in Sofia die Marionette oligarchischer Interessen, Be stechung und Bestechlichkeit bestimmen den Alltag der Menschen dort, die Presse ist nicht mehr frei. Ein Beitritts kandidat wie Albanien ist nachgerade als Mafiastaat zu bezeichnen. Korruption gibt es überall in Europa. Mancherorts prägt sie aber den Alltag in ei nemMaße, dass sie an die Stel le von Recht und Ordnung tritt. Das gilt auch für „Alt-Europa“. In Teilen Italiens sind Kommu nalpolitik und -verwaltung so wie die örtliche Geschäftswelt ohne Berücksichtigung von Camorra oder ’Ndragetha nicht handlungsfähig, von Schutz geldzahlen abhängig bezie hungsweise unauflösbar mit organisierter Kriminalität verbunden. Besondere öffentliche Auf merksamkeit erhielt seit sei ner Wiederkehr an die Macht im Jahr 2010 der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán mit seiner Fidesz-Partei. Denn die ungarische Regierung machte sich alsbald daran, die Unabhängigkeit der Justiz und der Medien wirk sam zu beschneiden. Orbán entwickelte mit der Zeit das Konzept einer „illiberalen De mokratie“ als offene Alterna tive zum westlich geprägten Demokratiemodell. Er regiert autoritär, bewundert offen Russland und China. Zunächst erschien Orbáns Politik vielen Beobachtern noch als eine le diglich sehr konservative Vari ante demokratisch legitimer und durch große Mehrheiten legitimierter Politik. Heute sind die Stimmen derjenigen, die Kritik an Ungarn als links ideologisch begründet abta ten, leiser geworden, großen teils verstummt. Und Ungarn ist nicht mehr allein. Mit demWahlsieg der rechts populistischen Partei für Recht und Gerechtigkeit beeilten sich die Brüder Kaszynski, auch die polnische Republik in eine rechtsautoritäre Halbdemokra tie zu verwandeln. Der Prozess ist weit fortgeschritten. Unab hängige öffentlich-rechtliche Medien gibt es bereits nicht mehr. Wegen den Rechtsstaat gefährdender Justizreformen läuft gegen Polen – ebenso wie gegen Ungarn – ein Rechts staatsverfahren der Europäi schen Kommission, die aber mangels vertraglicher Kompe tenzen kaum eine Handhabe gegen die Aushöhlung der De mokratie in den Mitgliedstaa ten hat. Anders als in Ungarn gibt es in Polen zwar noch eine relativ starke Opposition, vor allem in den Großstädten und in den westlichen Woiwod schaften. Die Räume für eine unabhängige Zivilgesellschaft werden aber immer enger. Vergleichbare Entwicklungen und Tendenzen sind in fast al len mittelost- und südosteuro päischen Staaten zu beklagen. Rumänien ist ebenso zu nen nen wie Tschechien, die Slo wakei, Kroatien und Slowe nien. Besorgniserregend ist die Entwicklung auch mit Blick auf Malta. Der kleine Inselstaat ist eine Geldwaschanlage für die russische Mafia, die europäische Staatsan gehörigkeit käuflich. Die Journalistin Daphne Caruana Galizia, die einen Korrupti onsfall untersuchte, der bis in höchste Regierungskreise führte, wurde per Autobom be getötet. Auch in der Slowa kei und in Bulgarien wurden mit Ján Kuciak und Viktoria Marinowa investigativ arbei tende Journalisten ermordet. << Die politischen Systeme werden brüchig Gleichzeitig werden die politi schen Systeme auch in westli chen EU-Staaten, die zu den Gründungsmitgliedern der Ge meinschaft gehören und lange Demokratieerfahrung haben, brüchig. Die Parteienfamilien, die die fünfte Französische Re publik getragen haben, wurden bereits 2017 vomWahlvolk hinweggefegt. Aber auch die noch junge politische Kraft En Marche, die sich eindeutig zu den westlichen Werten be kennt, gerät zunehmend unter Druck. Die zwischenzeitliche Bewegung der Gelbwesten setzte nicht nur an vielen Kreis verkehren und Autobahnzu fahrten ein leuchtendes Fanal. Globalisierungsängste, der Druck ungeregelter Migration, der Klimawandel, die Angst weiter Teile der Mittelschichten vor dem sozialen Abstieg, isla mistischer Terrorismus und seit einem guten halben Jahr die COVID-19-Pandemie machen viele Menschen anfällig für Ver schwörungstheorien, demago gische Hetze und populistische Verheißungen. Eine spürbare Radikalisierung, die die Ränder anwachsen lässt, ist die Folge. Dass diese Entwicklungen bei einigen europäischen Nachbarn schon zu weit größeren Ver werfungen geführt haben als in Deutschland, besagt nicht allzu viel. Deutschland, ist keine Insel, die politische Stabilität der Bundesrepublik wurde in erheblichemMaße durch Deutschlands Zugehörigkeit zumWesten gewährleistet. Und genau diesen Westen gibt es, zumindest in seiner vertrau ten Gestalt, nicht mehr. Deshalb kommt es für die Zu kunft sehr darauf an, dass alle gesellschaftlichen Akteure, auch die Gewerkschaften des öffentlichen Diensts, der Ver teidigung von Rechtsstaat lichkeit und Demokratie ein hohes Maß an Priorität bei messen. Der deutsche öffent liche Dienst ist eine tragende Säule unserer liberalen Ord nung. Die Politik tut gut daran, seine Bedeutung als automa tischer Stabilisator in Krisen zeiten zu erkennen. cm 41 > dbb magazin | Dezember 2020
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