dbb magazin 12/2020

interview lut nicht mehr zeitgemäße Ver­ fahren ist ein klares Beispiel dafür, das Digitalisierung sinn­ voll ist, um Verwaltungsabläu­ fe effizienter und – wie in die­ sem Fall – auch ökologischer zu gestalten. Die technische Ausstattung und der Stand der Digitalisierung in der Justizverwaltung stehen in der Kritik. Die 2014 beschlosse- ne E-Akte wird erst zum 1. Ja- nuar 2026 flächendeckend ein- geführt sein. Wie bewerten Sie die Entwicklung? Gibt es regio- nale Unterschiede? Regionale Unterschiede sind in meinen Augen völlig normal, denn auch die regionalen Her­ ausforderungen sind schließ­ lich andere. Ein Insolvenzge­ richt im ländlichen Raum wird beispielsweise seltener Bedarf an Videokonferenzen haben als in einer Großstadt, wo häu­ figer größere und internationa­ le Unternehmen ihren Sitz ha­ ben. Aber keine Frage: Ja, wir haben vielerorts und bundes­ weit durchaus auch noch Auf­ holbedarf, was beispielsweise die Einrichtung und technische Umsetzung von „Videover­ handlungsräumen“ angeht. Auf der anderen Seite muss man aber auch klar sagen: Vor Corona gab es dafür einen nur extrem geringen Bedarf und keine echte Nachfrage seitens der Prozessbeteiligten. Das hat sich durch das Virus geändert – und ich finde es ehrlich ge­ sagt eher erstaunlich, wie schnell die Justiz, und insbe­ sondere deren IT-Abteilungen, auf diese neue Herausforde­ rung reagiert haben. Alle Beteiligten machen jetzt die Erfahrung, dass bestimmte Verhandlungen auch digital möglich sind, daran wird man nach der Krise anknüpfen. Letztlich aber ist klar: Digita­ lisierung braucht Ressourcen und auch Zeit: Dass es Vorbe­ reitung und daher auch zeitli­ chen Vorlauf braucht, um die E-Akte einzuführen, finde ich deshalb alles andere als in ir­ gendeiner Form skandalös. In Bremen arbeitet beispielsweise mittlerweile das vierte Gericht ausschließlich mit der elektro­ nischen Aktenführung. Wir ha­ ben uns selbst relativ früh die­ ses Themas angenommen und bundesweit das erste Verwal­ tungsgericht komplett umge­ stellt. Das war tatsächlich Pio­ nierarbeit, bei der immer auch unvorhergesehene Probleme auftauchten, die vorher nicht absehbar waren. Das hat uns aber in einer Art „Learning-by- Doing“-Prozess enorm bei der Umsetzung an anderen Gerich­ ten geholfen haben. Gemessen daran halte ich es für absolut sinnvoll, dass man sich für ei­ nen derartig komplexen Um­ stellungsprozess auch Zeit nimmt. Denn es geht ja nicht um „Digitalisierung um ihrer selbst Willen“, sondern darum, technisch saubere Lösungen zu implementieren, die am Ende vor allem auch das gesteckte Ziel erreichen: mehr Effizienz durch bessere Arbeitsabläufe zu schaffen, Verfahren zu ver­ kürzen und einen Nutzen so­ wohl für die in der Justiz Be­ schäftigten als auch für die Rechtsuchenden zu generieren. Zur Entlastung der Gerichte ist auch immer wieder der Einsatz künstlicher Intelligenz (KI ) im Gespräch. In welchen Bereichen ist dies denkbar und möglich? In Deutschland schreibt das Grundgesetz vor, dass jeder Mensch das Recht hat, vor Ge­ richt von einem echten Men­ schen, also einer Richterin oder einem Richter, angehört zu werden. Und dabei muss es meiner Meinung nach bleiben. Völlig klar ist: Ob und in wel­ chem Ausmaß künstliche Intel­ ligenz bei der Urteilsfindung zum Einsatz kommen darf, muss rechtlich klar bestimmt sein. Zustände wie in den USA, wo mittlerweile teils Algorith­ men über Straflängen bestim­ men oder letztlich Computer Einschätzungen abgeben, ob bei einem Angeklagten die Ge­ fahr besteht, wieder straffällig zu werden, halte ich für nicht erstrebenswert. Wenn KI aber dazu genutzt werden kann, Ar­ beitsprozesse zu effektivieren oder beispielsweise die Akten­ verwaltung zu vereinfachen, kann das von Nutzen sein. Ich glaube allerdings, dass wir da­ bei noch ganz am Anfang einer Entwicklung stehen, die wir – sowohl was die Rechtsgrund­ lagen als auch den möglichen Nutzen angeht – sehr auf­ merksam verfolgen müssen. Die Angriffe auf Beschäftigte im öffentlichen Dienst nehmen zu. Was kann die Justiz beitra- gen, dass dieser Trend gestoppt oder sogar umgekehrt wird? Was meiner Meinung nach wenig dazu beiträgt, ist immer wieder und ausschließlich Strafverschärfungen in die Dis­ kussion zu bringen. Wir brau­ chen effiziente Ermittlungsbe­ hörden und effiziente Gerichte, um derartige Taten tatsächlich zu verfolgen und die Zeit zwi­ schen Tat und Urteil zu verkür­ zen. Insbesondere Letzteres schreckt meiner ganz persönli­ chen Erfahrung als Richterin nach tatsächlich ab. Das erfor­ dert natürlich auf der anderen Seite eine adäquate Ausstat­ tung der Justiz und der Ermitt­ lungsbehörden. Letztlich ha­ ben wir es allerdings mit einem gesellschaftlichen Problem zu tun. Auch die Vehemenz, mit der „Diskurse“ teilweise im In­ ternet geführt werden, ma­ chen deutlich: Der Umgang in unserer Gesellschaft ist rauer geworden. Und für zunehmend mehr Menschen ist die Grenze zwischen einer argumentati­ ven und einer aggressiven Aus­ einandersetzung leider offen­ bar fließend geworden. Daran müssen wir gesellschaftspoli­ tisch arbeiten. Die Justiz allein kann dieser spürbaren Verro­ hung nicht entgegenwirken. Völlig klar ist für mich: Es kann nicht sein, dass Feuerwehrleu­ te, Rettungssanitäter und an­ dere Einsatzkräfte heutzutage Angriffe auf ihre Person quasi als „Berufsrisiko“ hinnehmen müssen – bei derartigen Taten muss der Rechtsstaat schnell und effektiv Stärke beweisen. In sozialen Medien werden nicht nur Personen des öffentli- chen Lebens so erheblich belei- digt oder bedroht, dass sie sich gerichtlich wehren. Reichen die personellen Ressourcen der Jus- tiz, die absehbar steigende Zahl derartiger Rechtsstreitigkeiten auch noch zu bearbeiten? Die ehrliche Antwort ist: Nein oder nur bedingt. Bislang lässt sich diese Form der Kriminali­ tät noch abdecken. Durch die neue – und ausdrücklich be­ grüßenswerte – Gesetzgebung zum Thema Hatespeech und die Anzeigepflichten für sozia­ le Netzwerke bei strafbaren Äußerungen wird aber sowohl auf die Staatsanwaltschaften als auch auf die Gerichte viel zusätzliche Arbeit zukommen. Fakt ist: Ich finde den Weg, der damit eingeschlagen wird, politisch mehr als richtig. Aber die Justizverwaltungen der Länder müssen auch in die Lage versetzt werden, Der­ artiges genau wie auch die Digitalisierungsbemühungen finanziell beziehungsweise personell umsetzen zu kön­ nen. Für mich steht daher fest, dass wir schnell bis mittelfris­ tig die Unterstützung des Bun­ des, wie sie beispielsweise über den Pakt für den Rechts­ staat gewährt wurde, verste­ tigen müssen. Die Länder dürfen mit diesen neuen Auf­ gaben nicht alleingelassen werden. Auch vor Ort muss die Justiz selbstbewusster auftreten und beispielsweise in den jeweiligen Haushalts­ beratungen der Länder klare Forderungen stellen: Justiz ist nicht „nice to have“ – und wird schon irgendwie laufen. Un­ sere Gerichte und die Dienst­ stellen der Justiz sind eine unverzichtbare Säule unserer freiheitlich demokratischen Gesellschaft. Ummal eine be­ liebte Vokabel dieser Zeit zu gebrauchen: Auch die Justiz und ihre Beschäftigten sind systemrelevant – das muss sich, ebenso wie in anderen wichtigen Bereichen, in der entsprechenden Ausstattung ausdrücken. 5 dbb > dbb magazin | Dezember 2020

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