dbb magazin 6/2021

die andere meinung MEINUNG Braucht der deutsche Föderalismus eine dritte Reform? Stresstest nicht bestanden Zu den abgedroschenen Formeln des Pandemie­ wortschatzes gehört der Satz, dass die Defizite des Staates wie unter einem Brennglas sichtbar geworden sind. In der Sache stimmt es jedoch, dass seit dem Frühjahr 2020 große Schwächen zu­ tage treten: im Bildungswesen, in der digitalen In­ frastruktur, im Gesundheitsdienst, in der Verwal­ tung und im Katastrophenschutz. Noch schwerer wiegt, dass das Abhängigkeitsverhältnis von Bund und Ländern den Herausforderungen von natio­ naler Dimension nur bedingt gewachsen ist. Der Föderalismus hat den Stresstest nicht bestanden. Als Deutschland vor einem Jahr gut durch die erste Welle kam, honorierten die Bürger das si­ tuative Handeln in föderalen Strukturen noch mehrheitlich mit Zustimmung. Die Länder hatten die große Chance, sich als starke Klammer in der Vi­ rusbekämpfung zu beweisen. Dann setzte das Machtgeran­ gel ein – Effizienz und Schlag­ kraft blieben auf der Strecke. Keine der Bund-Länder-Runden wird als Glanzstück föderaler Kultur in Erinnerung bleiben. Mal predigen einzelne Protago­ nisten Geschlossenheit, dann betreiben sie plötzlich wieder Alleingänge. Die Änderung des Infektionsschutzgesetzes mit der neuen Notbremse hat an dem Kompetenzwirrwarr we­ nig geändert: Welcher Bürger nimmt hinter den unzähligen Ausnahmen irgendeine Ein­ heitlichkeit wahr? So hat das Vertrauen in die föderale Wil­ lensbildung massiv gelitten. Die weit in die Geschichte zu­ rückreichende Kleinstaaterei ist nichts per se Schlechtes, son­ dern ein Teil deutscher Iden­ tität. Regionalität macht das Gemeinwesen aus. Nach den unseligen Erfahrungen mit zen­ tralisierter Macht haben die Schöpfer des Grundgesetzes mit dem Prinzip der gegensei­ tigen Kontrolle eine wichtige Leitplanke für staatliches Han­ deln ersonnen. Und sie legten die Grundlagen für einen Wett­ bewerbsföderalismus, wonach sich die Länder im produktiven Kräftemessen üben. In Ab­ wandlung dieser Leitidee domi­ niert heute ein kleinkariertes Konkurrenzdenken. So driften im Beamtenbereich – nur ein Beispiel – das Besoldungs- und Versorgungsrecht ebenso aus­ einander wie die Arbeitszeiten. In Sonntagsreden neigen die Ländervertreter zur Betonung ihrer Eigenstaatlichkeit, doch mangelt es am Glauben an die eigene Gestaltungsmacht. In der Scheu vor Mehrheitsent­ scheidungen bemüht man sich lieber um gemeinsame Linien – Abweichungsrechte bleiben weitgehend ungenutzt. So führt die Verflechtung der viel­ fältigen Ebenen und Zustän­ digkeiten zu einer Lähmung des Politikbetriebs. Schon vor Corona mussten die Länder immer wieder erfahren, dass der Bund Geld gibt und im Gegenzug Steuerungskompe­ tenzen verlangt. Vehement wehrten sie sich im Ringen um den DigitalPakt Schule gegen Eingriffe in ihre Bildungsho­ heit. Im Lichte der Pandemie, die den akuten Verbesserungs­ bedarf bei der schulischen IT- Infrastruktur für jedermann sichtbar gemacht hat, muten die damaligen Aufwallungen eher weltfremd an. Schlecht steht auch der Öffent­ liche Gesundheitsdienst da: Die Gesundheitsämter zeigen sich überfordert, die Sozialministe­ rien haben Mühe mit der Koor­ dination. Künftig braucht es auf Bundesebene einen inter­ disziplinären Ansatz mit dem direkten Zugang zu den Äm­ tern vor Ort. Anstelle des Ro­ bert Koch-Instituts, das kaum mehr ist als eine Datensammel­ stelle, wäre eine Institution mit strategischer Funktion vonnö­ ten: quasi eine Neuauflage des Bundesgesundheitsamtes. Reflexartige Ängste vor einem Obrigkeitsstaat erschweren eine sachliche Debatte. Ziel einer Föderalismusreform III sollte daher nicht ein neuer Zentralismus sein, sondern ein stärkerer bundesweiter Rahmen mit Freiraum für regionale Ent­ scheidungen. Was vor Ort gere­ gelt werden kann, muss nicht der Bund regeln. Auch braucht es mehr Klarheit, welches Par­ lament welche Beschlüsse zu verantworten hat. Eine neue Föderalismuskommission von Bundestag und Bundesrat könnte am Anfang stehen. Hilfreich wäre zudem eine Plattform unter Beteiligung von Wissenschaft und Gesellschaft, auf der ohne Denkverbote ab­ gewogen wird. Es gilt, den Blick zu weiten, statt ihn von vorne­ herein durch isolierte Vorschlä­ ge zu verengen, sonst lässt sich keine Dynamik erzeugen. In zwölf der 16 Merkel-Jahre hat die Große Koalition konträ­ re Vorstellungen meist vorzeitig ausgeräumt und sich damit die Mehrheiten gesichert. Doch die wachsende Parteienvielfalt er­ schwert bilaterale Konsenspoli­ tik. Spannend wird es, wenn eine kleinere Koalition im Bun­ destag mal wieder einer star­ ken Bundesratsopposition ge­ genübersteht. Was geht dann noch voran, wenn der Verhand­ lungsbasar im Vermittlungsaus­ schuss zur Daueraufführung wird? Das ersehnte Ende der Pandemie und die Bundestags­ wahl eröffnen ein einzigartiges Fenster der Gelegenheit zur Modernisierung des Föderalis­ mus – es darf sich nicht folgen­ los wieder schließen. Matthias Schiermeyer < Der Autor Matthias Schiermeyer ist Wirtschaftsredakteur der Stuttgarter Zeitung und der Stuttgarter Nachrichten. Foto: Serhii/Colourbox.de 14 > dbb magazin | Juni 2021

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