dbb magazin 6/2021
Dr. Wolfgang Schäuble, Präsident des Deutschen Bundestages Föderalismus begrenzt Macht und sichert Freiheit dbb magazin In der Corona-Pandemie wurde – man könnte sagen: mal wie- der – über den deutschen Föde- ralismus diskutiert. Er sei zu kleinteilig, zu langsam, zu un- übersichtlich, so lautete die Kri- tik. Ist unsere föderale Struktur aus Ihrer Sicht krisentauglich? Wolfgang Schäuble Gerade in Krisensituationen erwarten die Menschen von der Politik Führung. Das ist der Bundeskanzlerin und den Mi nisterpräsidenten in einer ech ten Ausnahmesituation lange auf überzeugende Weise gelun gen. Der Deutsche Bundestag hat mit der Feststellung einer epidemiologischen Notlage da für die Voraussetzung geschaf fen. Dass sich allerdings nach und nach eine Reihe von Län dern nach den Bund-Länder- Runden nicht an die gemein sam gefassten Beschlüsse hielt, führte zu einer wachsenden Verunsicherung in der Bevöl kerung. Deshalb hat der Bun desgesetzgeber hier zu einer stärkeren bundesweiten Ein heitlichkeit der notwendigen Maßnahmen beigetragen – in einem transparenten parlamen tarischen Verfahren, in dem Sachverständige angehört, die Opposition und natürlich auch der Bundesrat eingebunden wurden. Aus meiner Sicht hat sich der Bundesstaat mit seinen föderalen Strukturen als krisen tauglich erwiesen. Insgesamt ist Deutschland bes ser durch die Krise gekommen, als es in der erhitzten öffentli chen Diskussion zwischenzeit lich den Anschein hatte. Für die Behauptung, dass Deutschland „keine Pandemie könne“, fehlt mir jedenfalls jedes Verständ nis. Mein Wahlkreis liegt in der unmittelbaren Nachbarschaft zu Straßburg, ich verfolge des halb die Entwicklungen in Frankreich sehr genau. Dort machen die Menschen gerade den Zentralismus für die Defi zite der Corona-Bekämpfung verantwortlich. Schon vor dem Ausbruch der Pandemie stand der Föderalis- mus oft in der Kritik. Der Umzug in ein anderes Bundesland ist für Eltern schulpflichtiger Kinder oft eine echte Herausforderung, aber auch bei der Verwaltungs- digitalisierung entpuppten sich Konflikte zwischen den Ländern immer wieder als Hemmschuh. Abseits theoretischer Debatten: Können Sie verstehen, dass viele Bürgerinnen und Bürger – gera- de in einer global vernetzten Welt – von dieser Kleinstaaterei genervt sind? Das Verhältnis der Deutschen zum Föderalismus ist wider sprüchlich. Sie suchen in der regionalen Vielfalt Geborgen heit und schätzen Traditionen. Zugleich mangelt es an Ver ständnis dafür, dass es in ei nem Bundesstaat Unterschie de gibt. Hinter der Klage über den angeblichen föderalen Flickenteppich steckt oft die Sehnsucht nach der einen perfekten Lösung. interview 4 dbb > dbb magazin | Juni 2021
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