dbb magazin 7-8/2021

drei fragen an . Dr. Jürgen Gies, Deutsches Institut für Urbanistik, Forschungsbereich Mobilität Eine fristgerechte Umsetzung der Barrierefreiheit wird nicht möglich sein 1 Nach der Novellierung des Personenbeförde- rungsgesetzes (PBefG) haben Nahverkehrspläne die Belange der in ihrer Mobilität eingeschränkten Menschen zu berücksichtigen. Bis zum 1. Ja- nuar 2022 soll demnach für die Nutzung des ÖPNV eine voll- ständige Barrierefreiheit er- reicht sein. Wie ist der Umset- zungsstand? Jürgen Gies Das Ziel der vollständigen Bar­ rierefreiheit im ÖPNV ist in § 8 Abs. 3 Satz 3 PBefG formuliert. Im Berliner Nahverkehrsplan für den Zeitraum 2019 bis 2023 wird vollständige Barrierefrei­ heit im ÖPNV wie folgt defi­ niert: Alle baulichen Anlagen, Fahrzeuge, Informationsquellen und Kommunikationseinrich­ tungen imÖPNV müssen für Menschen, die in ihrer Mobilität dauerhaft oder zeitweilig auf­ grund einer motorischen, sen­ sorischen, geistigen, seelischen oder sonstigen Behinderung oder Einschränkung oder auf­ grund ihres Alters beeinträch­ tigt sind, in der allgemein übli­ chen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe auffindbar, zugänglich und nutzbar sein. Im Regelungsbereich des PBefG liegt der ÖPNV mit Bussen, Straßenbahnen und U-Bahnen. Zuständig sind die Bundeslän­ der und die Kommunen; Aufga­ benträger des ÖPNV sind meist die Landkreise und die kreisfrei­ en Städte. Auf Bundesebene liegt keine Übersicht über den Stand der Umsetzung der Bar­ rierefreiheit vor. Auch der im Februar 2017 veröffentlichte Bericht nach § 66 PBefG (Bun­ destag-Drucksache 18/11160) enthält hierzu keine Angaben. Allerdings wiesen bereits da­ mals die Aufgabenträger darauf hin, dass eine fristgerechte Um­ setzung der Barrierefreiheit nicht möglich sein wird. Nach § 62 Abs. 2 PBefG haben die Länder die Möglichkeit, einen späteren Termin festzulegen und Ausnahmetatbestände zu bestimmen, die eine Einschrän­ kung der Barrierefreiheit recht­ fertigen. Zum Zeitpunkt der Be­ richtserstellung gab es hierzu keine Aktivitäten der Bundes­ länder. Zu konstatieren ist, dass bun­ desweite Übersichten zum Umsetzungsstand der Barriere­ freiheit nicht vorliegen. Auf lokaler und regionaler Ebene können Nahverkehrspläne Da­ ten zum Stand der Realisierung enthalten. Laut der Statistik des Verbandes Deutscher Ver­ kehrsunternehmen (VDV) lag 2019 der Niederfluranteil bei den im Besitz der VDV-Unter­ nehmen befindlichen Stadt­ bussen bei 89 Prozent. Im Überlandverkehr wurde diese Quote nicht erreicht. 2 Welche Herausforde­ rungen bestehen für die Aufgabenträger? Eine Herausforderung für den Bau barrierefreier Haltestellen ist die Aufsplittung der Verant­ wortung: Wenn ÖPNV-Halte­ stellen im Straßenraum liegen, kann die Verantwortung zwi­ schen Gebietskörperschaft, Ver­ kehrsunternehmen und Stra­ ßenbaulastträger aufgeteilt sein. Das Verkehrsunternehmen ist für die Fahrgastinformatio­ nen an den Haltestellen zustän­ dig, in den Städten in der Regel auch für die Ausstattung der Haltestelle mit Wetterschutz, Beleuchtung und Bänken. Im ländlichen Raum liegt dies da­ gegen meist im Aufgabenbe­ reich der Gemeinde. Für die Wartefläche der Haltestelle und damit auch für ihre barrie­ refreie Gestaltung ist innerorts die Gemeinde und außerhalb geschlossener Ortschaften der jeweilige Straßenbaulastträger verantwortlich. Erschwerend kommt hinzu, dass die Herstel­ lung der Barrierefreiheit nicht nur im regulären Modernisie­ rungsrhythmus einer Straße er­ folgen kann und die Maßnah­ men daher außerplanmäßig umgesetzt werden müssen, was sowohl an finanzielle als auch personelle Grenzen stößt. Außerdem können beispiels­ weise Anforderungen im Halte­ stellenumfeld und der vorhan­ dene Platz für eine optimale Anfahrt des Busses an die Hal­ testelle den barrierefreien Aus­ bau erschweren, sodass ein al­ ternativer Standort gesucht werden muss. Bei flexiblen Angeboten – wie On-Demand- Verkehren – mit Halt im Stra­ ßenraum an virtuellen Halte­ stellen muss Barrierefreiheit durch fahrzeugseitige Lösun- gen hergestellt werden. 3 Wie lässt sich durch eine integrierte Raum-, Verkehrs- und Sozial­ planung mehr soziale Teilhabe erreichen? Es gibt erste Ansätze, Dienst­ leistungen wieder näher an die Menschen heranzubringen. Die Digitalisierung eröffnet hierzu neue Handlungsmöglichkeiten: In einem ersten Pilotprojekt wurde der Tante-Emma-Laden digital wiederbelebt, auch der Online-Handel bringt Waren zu den Menschen und Teleme­ dizin hat das Potenzial, sich nicht bei jedem Unwohlsein auf den Weg zum Arzt machen zu müssen. Mit demMedibus, wozu es erste Praxiserprobun­ gen gibt, kann die Hausarzt­ praxis über Land fahren. ??? drei fragen an ... © David Ausserhofer < Dr. Jürgen Gies 24 dbb > dbb magazin | Juli/August 2021

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