dbb magazin 10/2021

interview Prof. Dr. Martin Voss, Leiter der Katastrophenforschungsstelle der Freien Universität Berlin Zuvorderst ist der Mensch zur Verantwortung zu ziehen dbb magazin Umgangssprachlich ist schnell von einer Katastrophe die Rede, wenn ein nicht vorhergesehe- nes, weitreichendes Schadens- ereignis beschrieben werden soll. Als Wissenschaftler pfle- gen Sie einen anderen Ansatz: Welche Kriterien zeichnen eine Katastrophe aus Sicht der For- schung aus? Martin Voss Katastrophe ist für uns als Gesellschaftswissenschaft­ ler*innen zunächst einmal das, was irgendjemand als solche bezeichnet. Wir fragen dann: Warum wird diese Bezeich­ nung gewählt? Welche Motive stecken dahinter? Welche Be­ deutung soll der Begriff trans­ portieren? Was folgt aus dieser Benennung, zum Beispiel hin­ sichtlich der Verantwortungs­ zuschreibung? Begriffe sind immer auch Programme, des­ halb ist das eine, wie wir mei­ nen, ganz grundlegende For­ schungsperspektive, so zu fra­ gen. Kein Begriff ohne Politik, ohne Machtimplikationen et cetera. Wer Katastrophen nachhaltig etwas entgegensetzen möch­ te, muss wissen, wessen Vor­ stellung von Katastrophe dabei zugrunde gelegt werden soll. Die des Hauptverwaltungsbe­ amten? Die des Rückversiche­ rers? Die einer politischen Par­ tei? Die der Bild-Zeitung? Dann verfolgen wir aber noch einen dazu komplementären Ansatz, der da sagt: Katastrophen ha­ ben immer etwas mit sinnstif­ tenden sozialen Ordnungen zu tun. Wenn jemand von einer Katastrophe spricht, dann ist da eine Vorstellung einer als sinnvoll empfundenen, geord­ neten Normalität zumindest ins Wanken geraten, vielleicht sogar schon zerstört. Auf den ersten Blick erscheint das vielleicht abstrakt und sehr akademisch, für uns ist das ein philosophisch fundiertes Ver­ ständnis, das hilft, Katastro­ phen nicht bloß oberflächlich zu betrachten in dem Sinne, dass ein Hochwasser eine Regi­ on verwüstet hat und man also etwas in den Hochwasser­ schutz investieren muss. Wir fragen: Warum ist es zu dieser Art der Bebauung, warum zu dieser Art offenbar unzurei­ chenden Hochwasserschutzes, warum zu dieser Art der Warn­ kette gekommen? Das sind je­ weils Ordnungsfragen. Damit haben wir einen Schlüssel zum Verständnis der strukturellen Ursachen gesellschaftlichen Scheiterns und können damit Hochwasserfolgen ebenso analysieren wie die Ursachen und Folgen der Erosion gesell­ schaftlichen Zusammenhaltes. Ein drittes Kriterium ist aber noch zu ergänzen: Katastro­ phen sind für uns stets kom­ plexe soziale Prozesse ohne ei­ nen eindeutig definierbaren Anfang oder ein Ende. Die hai­ tianische Katastrophe oder die afghanische begannen nicht mit einem Erdbeben oder dem 11. September, sondern sie ha­ ben lange historische Vorläufe. Und leider enden sie auch nicht damit, dass die massen­ mediale Aufmerksamkeit auf den nächsten Krisenherd geht. In der von Ihnen geleiteten Katastrophenforschungsstelle (KFS) arbeiten Fachleute aus unterschiedlichen Wissen- < Prof. Dr. Martin Voss leitet die Katastrophenforschungsstelle (KFS) an der Freien Universität Berlin. Der Soziologe promovierte bei Lars Clausen, der die Katastrophensoziologie in Deutschland einführte. Seit 2017 ist Voss Mit­ glied im Vorstand des Deutschen Komitees für Katastrophenvorsorge (DKKV). © Bernd Wannenmacher/FU Berlin 16 dbb > dbb magazin | Oktober 2021

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