dbb magazin 11/2021

nachgefragt Nicht alles passt auf einen Bierdeckel Jeder der bisher 19 Deutschen Bundestage hat im Durchschnitt 457 Gesetze verabschiedet, insgesamt mehr als 8700, wobei darunter auch ein paar Abschaffungen von Gesetzen fallen. Die Regelungsdichte nimmt tendenziell zu. Leben wir in Zeiten der Überregulierung oder folgt der Gesetzgeber nur den Veränderungen einer komplexer werdenden Welt? Werner Jann Mit der Regelungsdichte und den „überflüssigen Gesetzen“ ist es wie mit den überflüssi­ gen Subventionen: Generell sind alle davon überzeugt, dass wir auf die meisten Sub­ ventionen verzichten könnten und sollten, aber wenn eine konkret abgeschafft werden soll, gibt es hinhaltenden Wi­ derstand aus Wirtschaft und Gesellschaft. Ob wir in Zeiten der Überre­ gulierung leben und welche Normen nicht notwendig sind, liegt also im Auge – und im In­ teresse – der Betrachter. Einige meinen, wir hätten zu viel Um­ weltschutz und Bürgerbeteili­ gung, andere zu wenig, und so geht es überall: Brauchen wir mehr Regulierung im Finanz­ sektor oder weniger? Mehr Re­ gulierung von Windparks oder weniger? Mehr Datenschutz oder weniger? Wie ist es mit Corona-Regeln, muss das alles im Detail gesetzlich geregelt werden – wie es zum Beispiel die FDP fordert, deren großes Thema ansonsten Deregulie­ rung ist – und so weiter und so fort. Sobald irgendein neues Problem auftaucht, gibt es so­ fort Forderungen nach mehr und strengerer Regulierung, wie zum Beispiel bei Cum Ex, Wirecard oder bei der Geldwä­ sche, aber insgesamt wollen alle gern weniger Regulierung. Die Diskussion in Deutschland ist also etwas scheinheilig und manchmal sogar leicht schizo­ phren, zumindest aber oft po­ pulistisch. Dies bedeutet nicht, dass wir unbedingt alle Geset­ ze brauchen, die wir derzeit haben. Aber welche Gesetze in welcher Form notwendig sind, muss politisch, das heißt letztendlich im Parlament, ent­ schieden werden, wie denn sonst? Und natürlich können und sollten diese Gesetze bes­ ser werden, Ziele genauer defi­ nieren und erreichbar machen, Kosten genauer ermitteln und reduzieren – auf diesem Gebiet hat der Normenkontrollrat viel erreicht, aber es gibt immer noch viel zu tun. Die Vorstellung, dass eine im­ mer komplexer werdende Ge­ sellschaft mit immer weniger Regeln auskommen sollte, erscheint mir allerdings naiv oder sogar gefährlich: Alles sollte möglichst auf einen Bier­ deckel passen? Gesellschaftli­ che Ziele wie die Sicherheit von Kernkraftwerken oder die Re­ duzierung von Schadstoffen im Verkehr oder auch so etwas Einfaches wie Sicherheitsgurte und Airbags im Auto, die Be­ grenzung von Schadstoffen in Wohnungen und Büros, mehr Lärmschutz und vieles mehr sind selbstverständlich mit mehr und immer differenzier­ terer Regulierung durchgesetzt worden. Alle diese Regelungen können und müssen kontinu­ ierlich besser werden – auch unsere Autos und Smart­ phones werden ja kontinuier­ lich besser – und dafür müssen weitere institutionelle Voraus­ setzungen im Regierungsappa­ rat geschaffen werden. Zum Beispiel durch eine veränderte Ausbildung unserer Topbeam­ ten und verbesserte Verfahren der Gesetzgebung. Aber wir können nicht einfach auf sie verzichten oder sie mit einer einfachen „Tonnenideo­ logie“ reduzieren, die etwa für jedes Jahr x Prozent weniger vorgibt. Mit Bürokratie oder deren Abbau hat das übrigens herzlich wenig zu tun, es geht um bessere Regulierung, nicht um klassische Verwaltung. Mit den Leistungen unserer Verwaltung sind Bürgerinnen, Bürger und Wirtschaft in Deutschland tatsächlich recht zufrieden, wie die regelmäßi­ gen Befragungen des Statis­ tischen Bundesamts zeigen ( www.amtlich-einfach.de ) . Es gibt im Übrigen einen Be­ reich der Regulierung, gegen­ über dem der Bundestag mit seinen 8700 Gesetzen nicht mithalten kann: Nach Angaben des Deutschen Instituts für Normung (DIN) gibt es etwa 34500 DIN-Normen, und pro Jahr erscheinen über 2000 DIN-Normen neu. Ohne DIN- Normen wären unsere moder­ ne Industrie und natürlich auch die Digitalisierung undenkbar. Deutsche DIN-Normen sind ein Exportschlager und niemand, schon gar nicht die Industrie, die diese Normen ja selbst ent­ wickelt, fordert deren Reduzie­ rung. Regulierung und Normen sind eine notwendige Bedin­ gung unserer immer komple­ xer werdenden Welt. ? eine frage an ... ... den Verwaltungswissenschaftler Prof. em. Dr. Werner Jann < Werner Jann ist Politik- und Verwaltungswissenschaftler. Er lehrte von 1993 bis 2015 Politikwissenschaft, Verwaltung und Organisation an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Pots­ dam und war dort bis zu seiner Emeritierung 2018 Seniorprofessor. 2017 kürten ihn deutsche Verwaltungswissenschaftler in einer Umfrage zum „einflussreichsten“ Wissenschaftler ihrer Zunft. © privat Foto: Kasper Nymann/Colourbox.de 18 dbb > dbb magazin | November 2021

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