dbb magazin 12/2021

nur diese Chance, sondern schaffen womöglich noch größere Diskrepanzen zwischen den Lebensverhältnissen in unterschied­ lichen Regionen. Um es konkret zu machen: Lokale/regionale digitale Lösungen können durchaus Sinn ergeben. Zum Beispiel gibt es Leistun­ gen, die besonders wichtig sind für Logistikknoten (Schwerlast­ transporte) oder maritime Standorte. Es wäre hier nicht ziel­ führend, eine bundeseinheitliche Lösung zu bauen. In anderen Bereichen hingegen, beispielsweise bei einheitlicher bundes­ gesetzlicher Regelung, ist es nicht sinnvoll, dass jedes Land (oder sogar jeder Landkreis) seine eigene Lösung entwickelt, pflegt und betreibt. Es ist Bürgerinnen und Bürgern heute schlicht nicht mehr zu ver­ mitteln, wieso zentrale staatliche Leistungen nicht überall und mit dem gleichen Nutzungserlebnis zur Verfügung stehen. Stel­ len Sie sich als Analogon einmal vor, Amazon hätte neben dem heutigen Auftritt und Angebot eine regionale Variante im Look von Windows 95 mit nur wenigen Hundert Artikeln. Meinen Sie, ein Digitalministerium auf Bundesebene kann die vorhandenen Probleme lösen? Oder ist es für die Verwal- tungsdigitalisierung zielführender, eine Digitalagentur mit entsprechender Ausstattung zu gründen? Ich bin da hin- und hergerissen – aus den bekannten Argumen­ ten. Wenn die gewählte Lösung Stillstand und Binnenorientie­ rung produziert, können wir uns das aktuell nicht leisten. An­ dererseits respektiere ich auch die Argumente, nach denen im aktuellen System unserer Verwaltung und Regierung nur ein als Ministerium organisiertes Konstrukt ausreichendes Gewicht zur Gestaltung von Vorhaben mobilisieren kann. Am Ende kommt es darauf an, eine Lösung zu finden, die einen schnellen Start ermöglicht und dennoch mehr Themen vor die Klammer zieht, die alle Ministerien betreffen und für die wir einheitliche Lösungen oder Einstellungen finden müssen. Gerne sollten wir auch mal kreative Lösungen ausprobieren, wie ein „virtuelles Digitalministerium“ oder eine starke und agile Digitalagentur. Welche Personalstrategie empfehlen Sie dem öffentlichen Dienst? Können die notwendigen Digitalisierungskompeten- zen intern gewonnen und vorgehalten oder muss weiter auch auf externe Beratung gesetzt werden? Die Verwaltung muss ihre internen Kompetenzen stärken und ausbauen, aber sollte nicht dem Reflex erliegen, dann gleich alles selbst machen zu wollen. Das ist weder realistisch noch optimal. Die Verwaltung sollte unbedingt steuern – und möglichst auch umsetzen – können. Sie muss die kritischen Entscheidungen und Themen in der Hand behalten, aber kann bei klar umrissenen und unkritischen Feldern auch mal Pakete nach draußen geben – um dann die Partner am Erfolg zu messen, statt nur nach Aufwand zu vergüten. Wir brauchen mehr Durchlässigkeit. Die Verwaltung sollte offen sein für Quereinsteiger, zum Beispiel aus der Wirtschaft, selbst wenn dies nur temporäre Engage­ ments sind. Wenn ein Einsatz im Rahmen einer öffentlichen Auf­ gabe auch mal eine Durchgangsstation einer Karriere sein kann, würden vermutlich auch mehr Interessierte den Sprung wagen. Dazu müssen die Versorgungsmodelle – zumindest für die, die das wollen – etwas flexibilisiert und dynamisiert werden. Welche drei konkreten Maßnahmen würden Sie der neuen Bundesregierung empfehlen, um Tempo bei der Digitalisie- rung der Verwaltung zu machen? 1 Führung durch Setzen von ambitionierten Zielen, aktives Verfolgen der Erreichung und ausreichende Finanzierung der Umsetzung. Diese Ziele müssen so lebendig und motivierend beschrieben sein, dass sie politisch breit vermittelbar sind und ein hoher Grundkon­ sens besteht, diese zu erreichen. Dazu ist es auch essenziell, Ziele in gesellschaftlichen Dimensionen zu formulieren und nicht in technischen – Letztere holen vielleicht Experten oder Fachpoli­ tiker, aber nicht die breite Bevölkerung beziehungsweise Partei­ politiker anderer Schwerpunkte oder Lokalpolitiker ab. 2 Dinge probieren, schnell lernen und auch Fehler akzeptieren – aber diese Fehler sollten wir möglichst nur einmal machen, und zwar nicht einmal von jedem! Wir hatten im Normenkon­ trollrat-Gutachten von 2016 eine Organisation vorgeschlagen, die speziell auf die Unterstützung derer ausgerichtet ist, die Neues wagt – und die die Lernerfahrungen aus diesen Vorhaben aufnimmt, bündelt und national bereitstellt. Diese Aufgabe wird Stand heute immer noch nicht erfüllt, auch wenn seither viele Institutionen gegründet wurden. 3 Ergebnisorientierung/Missionsorientiertes Denken – zu­ mindest für die gesellschaftlichen Topziele: alles tun und alle einbinden, die zum Erreichen eines Ziels beitragen können. Klar muss es immer eine Stelle geben, die letztverantwortlich ist und die Erbringung koordiniert. Aber alle anderen Beteiligten können sich nicht zurücklehnen oder ausklammern, weil sie nicht primär „zuständig“ sind. Viele der heutigen Probleme und Chancen sind komplex und können nur sinnvoll im Zusammen­ spiel mehrerer Akteure gelöst werden. Dafür müssen wir uns auch entsprechend organisieren. ■ Wenn wir die Stärken des Föderalis- mus ausspielen, kann erfolgreiche Verwaltungsdigitalisierung einen enormen Beitrag dazu leisten, dass Menschen überall in Deutschland einen leistungsfähigen, modernen Staat erleben. dbb magazin | Dezember 2021 FOKUS 15

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