Intersektionale Gerechtigkeit Keine Gesellschaft ohne Ungleichheiten Wie machen wir unsere Gesellschaft für alle Beteiligten sozial gerecht? Wie schaffen wir es, Gleichberechtigung für alle herzustellen? Wer Antworten auf diese Fragen sucht, kommt an der Politikwissenschaftlerin Emilia Roig nicht vorbei. Das dbb magazin hat mit ihr über die Bedeutung intersektionaler Gerechtigkeit gesprochen und sie auch gefragt, welchen Beitrag der öffentliche Dienst für eine diskriminierungsfreie Gesellschaft leisten kann. Was verstehen Sie unter intersektionaler Gerechtigkeit? Ich glaube nicht, dass es eine Gesellschaft ohne Ungleichheiten geben kann – aber ich bin fest davon überzeugt, dass es eine Gesellschaft geben kann, in der die Grundbedürfnisse und Zugänge zu Ressourcen für alle gleichermaßen sichergestellt sind. Normalerweise betrachten wir soziale Gerechtigkeit nur unter dem Blickwinkel der sozialen Klasse. Intersektionalität heißt, dass wir auch andere Aspekte in den Blick nehmen, also nicht nur Geschlecht oder soziale Klasse, sondern auch ethnische Herkunft, Hautfarbe, sexuelle Orientierung, Behinderung, geografische Lage, Nord-Süd-Gefälle et cetera. Das sind alles Faktoren, die die gegenwärtige globale soziale Hierarchie strukturieren. Diese Kategorien bestimmen, wer mehr und wer weniger hat. Das mag plakativ und ein bisschen vereinfachend klingen, wenn wir aber die weltweiten Statistiken ansehen, dann wird dieses Ordnungsprinzip sehr klar sichtbar. Können Sie ein konkretes Beispiel nennen? Die Situation, in der sich muslimische Frauen mit Kopftuch befinden, ist ein gutes Beispiel. Die Diskriminierung, die diese Frauen im Arbeitsleben immer wieder erfahren, ist eine Verschränkung von unterschiedlichen Diskriminierungsformen aufgrund von Religion, ethnischer Herkunft und Geschlecht. Frauen, die kein Kopftuch tragen, oder muslimische Männer werden in der gleichen Situation nicht unbedingt diskriminiert. Ein anderes Beispiel ist die politische Intersektionalität, sprich die Individualisierung von Anforderungen, Interessen und Perspektiven von Minderheiten innerhalb einer bestimmten Gruppe, deren Interessen zugunsten der Bedürfnisse der Gruppenmehrheit ebenfalls häufig ignoriert werden. Das ist auch eine Beschreibung von Intersektionalität, die die Diversität und die Heterogenität von unterschiedlichen Kategorien und gesellschaftlichen Gruppen aussendet. Was hat Sie motiviert, das Center for Intersectional Justice (CIJ) zu gründen? Viele Organisationen widmen sich unterschiedlichen Formen von Diskriminierung, aber arbeiten parallel. Das heißt, es gibt eine Organisation für die Gerechtigkeit von schwarzen Menschen, eine andere für Frauen, wieder eine andere für muslimische Frauen, aber eben kaum eine Überlappung zwischen den Organisationen. Ich beobachte seit einigen Monaten die Tendenz, dass darüber diskutiert wird, ob Sexismus, ob Rassismus tatsächlich existieren, und nicht, wie wir effektiv dagegen vorgehen können. Die promovierte Politilogin Emilia Roig ist Gründerin und Direktorin des Center for Intersectional Justice (CIJ) mit Sitz in Berlin und lehrt als Dozentin im Social Justice Study Abroad Program der DePaul University of Chicago zu Intersektionalitätstheorie, postkolonialen Studien, kritischer Rassismusforschung und internationalem und europäischem Recht. Die Französin ist zudem Autorin des Buches „WHY WE MATTER. Das Ende der Unterdrückung“. © Mohammed Badarne 34 INTERN dbb magazin | Januar/Februar 2022 FRAUEN
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