Sozial- und Erziehungsdienste Gesellschaftliche Nützlichkeit als neuer Maßstab Zwei Jahre dauert dieser Ausnahmezustand. Doch im Bewusstsein vieler Menschen hat die nervige Coronazeit auch Helden gezeugt. Ärztinnen und Ärzte, Pflegerinnen und Pfleger, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und ganze Impfindustrien wie BioNTech. Auch die gehören dazu, die die öffentliche Sicherheit und Ordnung aufrechterhalten. War es das? Lange nicht. Übersehene Retter arbeiten an der nächsten Ecke. Sie betreuen die Kinder. Sie betreuen die Kinder, während Eltern im Homeoffice ihre Arbeit tun können, und polstern beim Nachwuchs manche Nervenbelastung ab, die Pandemie und Lockdown mit sich gebracht haben. Dabei, zugegeben, waren Kitajobs nie besonders geachtet. Die Kids trösten, mit ihnen ein wenig durch den Sandkasten hoppeln, was mit Kuscheltieren machen, ihnen vorlesen und aufpassen, dass die Kleinen und Kleinsten nicht von der Rutsche kippen oder sich beim Basteln wehtun? Könnte auch der größere Bruder erledigen, so sitzt es in manchen Köpfen, in die sich die damals schon falschen Berufsvorstellungen der 1980erJahre festgefressen haben. Mit der Wirklichkeit, in der das Wort Kindertagesstätte besser durch Frühschule ersetzt werden sollte, hat das nichts zu tun und mit den pädagogischen Anforderungen schon gar nicht, die an die Viertelmillion Staatsbeschäftigten in den Sozial- und Erziehungsdiensten und die noch mehr bei freien und gemeinnützigen Anbietern gestellt werden. Dazu: Wer mit Erzieherinnen und Erziehern, Sozialarbeitern und Sozialpädagogen redet, erhält einen Eindruck von ihren, sagen wir, ungewöhnlichen Arbeitsbedingungen. Dass wir in Geschäften Masken tragen? Dass Reparaturkolonnen auf der Autobahn mit Lärmschutz arbeiten? Dass Büromöbel arbeitsmedizinischen Vorgaben entsprechen? Alles selbstverständlich. Dass aber Kitabelegschaften oft auf für ihre Knochen ruinösen Ministühlchen hocken, schon in Nicht-COVID-Zeiten einem gewaltigen Virengepuste der maskenlosen Kundschaft ausgesetzt waren und das bei anhaltendem Kinderlärm im Höchstdezibel-Format? Scheint irgendwie kein öffentliches Thema zu sein. In den letzten Jahrzehnten hat sich im gesamten Vorschulbereich Gewaltiges getan. Er wurde – das ist vor allem für den Westen Deutschlands bemerkenswert – als unverzichtbarer Bestandteil des öffentlichen Lebens akzeptiert. In der Folge haben sich die Ausgaben der Bundesländer für die Kinderbetreuung zwischen 2009 und 2019 fast verdoppelt. Und Eltern wurden in vielen Regionen von hohen Gebührenzahlungen ganz oder teilweise entlastet. Ein großer sozialpolitischer Effekt, der sich freilich hauptsächlich auf die Zahl der angebotenen Plätze auswirkt. Vielleicht bietet ausgerechnet Corona die nächste Chance. Die Werteskala der Berufe könnte verschoben werden. Der Maßstab: ihre Nützlichkeit für die Gesellschaft. Die anstehenden Tarifverhandlungen für den Sozial- und Erziehungsdienst müssen eine Kehrtwende ermöglichen, die sich für die Beschäftigten nicht auf mehr Euro und Cent beschränkt, sondern mehr Aus- und Fortbildung bedeutet, einen anderen Kitaalltag, bessere Personalstrukturen und Aufstiegschancen. Die Arbeitgeber ahnen selbst, was auf sie zurollt: 2030 werden im Bereich der frühkindlichen Bildung 280000 Nachwuchskräfte fehlen. Die angehende Erzieherin, die plötzlich feststellt, dass sie in der IT-Branche das Doppelte bei angenehmeren Arbeitsbedingungen verdienen könnte, die wird nicht kommen. Dietmar Seher ... Dietmar Seher ist freier Journalist. Er hat als Korrespondent in Bonn und Brüssel gearbeitet, war Politikchef der Sächsischen Zeitung und Mitglied der Chefredaktion der Westfälischen Rundschau. Der Autor ... Die anstehenden Tarifverhandlungen für den Sozial- und Erziehungsdienst müssen eine Kehrtwende ermöglichen, die sich für die Beschäftigten nicht auf mehr Euro und Cent beschränkt. © Mulyadi/Unsplash.com MEINUNG AKTUELL 9 dbb magazin | März 2022
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