dbb magazin 4/2022

dbb magazin Krisenresilienz des Staates | Strategien gesucht Interview | Armin Schuster, Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe dbb Forum ÖFFENTLICHER DIENST | Beitragssprünge in der privaten Krankenversicherung 4 | 2022 Zeitschrift für den öffentlichen Dienst

Wenn Krisen nicht mehr Ausnahmen sind Krisen melden sich in der Regel an. Und trotzdem wird man immer wieder von ihnen überrascht. Der Zivilschutz zum Beispiel braucht jetzt Tempo und Geld, um seine Lücken zu schließen, wofür sein Präsident Armin Schuster, auch zuständig für Katastrophenhilfe, verstärkt wirbt. Schlimmer als alle anderen Krisen aber sei die Vertrauenskrise, die unser Gemeinwesen befallen könnte, warnt der „Rheinpfalz“-Ressortleiter Dr. Ralf Joas. Aber wie können Krisen, zum Beispiel solche kriegerischer Art, beendet werden? Eine Möglichkeit sind Sanktionen. Aber die muss man vor allem überwachen, damit sie auch greifen. Daran sei unter anderem die Zollverwaltung als Teil unserer Sicherheitsarchitektur beteiligt, wie uns die BDZ-Kollegin Diana Beisch erklärt. Andere Experten wissen, wie man sich gegen Cyberattacken wehren kann, die mindestens genauso gefährlicher sind wie offene kriegerische Auseinandersetzungen. Bei den Fachgewerkschaften für die Bundeswehrverwaltung erkundigten wir uns über die Ertüchtigung der Bundeswehr, ausgelöst durch die Aussicht auf 100 Milliarden Euro. Schließlich, obwohl sie als Erste genannt werden müsste nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine, steht die Europäische Union im Fokus. Sie ist der Gegenpol zu Autokraten und Diktatoren. Ihr gilt unser ganz besonderer Blick. red 17 8 20 TOPTHEMA Krisenfestigkeit des Staates 30 AKTUELL NACHRICHTEN 4 TARIFPOLITIK Sozial- und Erziehungsdienst: Kaum Fortschritte im Tarifkonflikt 6 DBB FORUM ÖFFENTLICHER DIENST Beitragssprünge in der privaten Krankenversicherung 8 GESUNDHEITSPOLITIK Krankenhausfinanzierung 12 FOKUS INTERVIEW Armin Schuster, Präsident des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe 14 MEINUNG Resilienz und Gestaltungsfähigkeit des Staates: Krise? Welche Krise? 16 ZOLLVERWALTUNG Sanktionen gegen Russland und Belarus 17 INNERE SICHERHEIT Cyberabwehr: Komplexe Strukturen für digitale Sicherheit 20 WEHRVERWALTUNG Nachgefragt bei den dbb Fachgewerkschaften für die Bundeswehrverwaltung 24 EUROPA Chancen und Voraussetzungen einer europäischen Friedenspolitik 26 Europäische Sicherheit nach dem 24. Februar 2022 28 INTERN SOZIALE ARBEIT Fachgespräch mit Beschäftigten des Sozial- und Erziehungsdienstes 30 FRAUEN Frauenrechte in Krisenzeiten 33 JUGEND 100 Tage neue Bundesregierung 35 SENIOREN Potenziale Älterer besser nutzen 36 SERVICE 38 Impressum 41 KOMPAKT GEWERKSCHAFTEN 42 Foto: Colourbox.de STARTER AKTUELL 3 dbb magazin | April 2022

NACHRICHTEN Verdachtsfall AfD Das Verwaltungsgericht Köln hat am 8. März 2022 entschieden, dass das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) die Alternative für Deutschland (AfD) als sogenannten Verdachtsfall einstufen darf. Es gebe „ausreichende tatsächliche Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen innerhalb der Partei“, führte das Gericht zur Begründung aus. Auch in drei weiteren Klageverfahren der AfD wurden Urteile erlassen, wobei die AfD in den beiden Verfahren, die sich auf den inzwischen aufgelösten sogenannten Flügel der Partei bezogen, zumindest teilweise erfolgreich war. Zum Verdachtsfall hat der dbb auf eine Presseanfrage Folgendes klargestellt: „Der dbb hat wiederholt betont, dass wir die AfD und jede Zusammenarbeit mit ihr ablehnen. Für uns ist klar: Wer nicht mit beiden Beinen auf dem Boden des Grundgesetzes steht, hat im öffentlichen Dienst nichts zu suchen. Für demokratie- und menschenfeindliches Gedankengut ist kein Platz im öffentlichen Dienst und im dbb. Man kann nicht im Dienst des Staates stehen und gleichzeitig unsere demokratische Ordnung aushöhlen wollen. Bis die Verfassungsfeindlichkeit der AfD nicht höchstrichterlich festgestellt ist, ist die automatische Einleitung eines Disziplinarverfahrens gegen Beamtinnen und Beamte, die in der AfD Mitglied sind oder mit ihr sympathisieren, indes schwer zu begründen. Selbst die Einstufung der AfD als ,Verdachtsfall‘ durch den Verfassungsschutz rechtfertigt ein pauschales Vorgehen im Sinne unmittelbarer Folgen nicht hinreichend, es ist immer der Einzelfall zu prüfen. Es bedarf jeweils konkreter Nachweise dafür, dass die betroffene Person nicht vorbehaltlos zum freiheitlich-demokratischen und sozialen Rechtsstaat steht. (Rechtlicher) Hintergrund ist, dass die Kategorie ,Verdachtsfall‘ strafrecht- lich untechnisch ist, daher gilt auch bei dieser Einstufung zunächst die Unschuldsvermutung. Der ,Verdachtsfall‘ ist vielmehr eine Stufe im komplexen Prüfraster der Verhältnismäßigkeit im Spannungsfeld zwischen den Rechten der Parteien aus Art. 21 Abs. 1 Satz 2 GG und den zu schützenden Rechtsgütern der freiheitlichen demokratischen Grundordnung.“ In eigener Sache Internationaler Frauentag Jede und jeder für Gleichberechtigung Zum Internationalen Frauentag am 8. März 2022 haben dbb und dbb frauen dazu aufgerufen, in der Arbeitswelt endlich mit den Geschlechterklischees zu brechen. Frauen und Technik passen genauso gut zusammen wie Männer und Kindererziehung. Wir müssen uns in der Arbeitswelt endlich von den gängigen Geschlechterklischees verabschieden. Sie verhindern Fortschritt und zementieren soziale Ungleichheit in unserer Gesellschaft“, machten der dbb Bundesvorsitzende Ulrich Silberbach und die dbb frauen Chefin Milanie Kreutz mit Blick auf den Internationalen Frauentag am 8. März 2022 deutlich. Ihren Appell richteten Silberbach und Kreutz an die Entscheidungsträgerinnen und -träger in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft: „Jede und jeder kann einen Beitrag für eine geschlechtergerechte Gesellschaft leisten! Jetzt liegt es an den Vorgesetzten und an jenen, die in der Verantwortung für unser Land stehen, mit gutem Beispiel voranzugehen.“ Insbesondere der öffentliche Dienst müsse hier Vorbild sein und den Weg in eine gleichberechtigte Arbeitswelt weisen, betonte dbb frauen Chefin Milanie Kreutz. Unbewusste Geschlechterstereotype sind aus ihrer Sicht eine der Hauptursachen für die langsamen Fortschritte bei der Gleichstellung im öffentlichen Sektor. Anonymisierte Bewerbungsverfahren und eine geschlechtersensible Leistungsbewertung, die familiäre Auszeiten als Erfahrungszugewinn werte, sorgten dort, wo sie bereits eingesetzt würden, für mehr Chancengleichheit. ■ Weltweit wirft der Internationale Frauentag jedes Jahr am 8. März ein Schlaglicht auf die Gleichstellung der Geschlechter. Das Motto des Aktionstages für Frauenrechte lautet 2022 „Break the Bias“ und vesteht sich als Aufruf, eine Welt frei von Stereotypen, Vorurteilen und Diskriminierung zu erschaffen. Internationaler Frauentag Foto: Colourbox.de 4 AKTUELL dbb magazin | April 2022

Autobahn GmbH dbb setzt Coronaprämie durch Beschäftigte und Auszubildende der Autobahn GmbH erhalten eine steuer- und sozialabgabenfreie Coronaprämie. Einen entsprechenden Tarifvertrag haben dbb Tarifchef Volker Geyer und Gunther Adler, Geschäftsführer Personal der Autobahn GmbH, am 14. März 2022 in Berlin unterzeichnet. Bevor die Förderung von Coronasonderzahlungen Ende März 2022 ausläuft, erhalten Beschäftigte in Vollzeit 1000 Euro und die Nachwuchskräfte 500 Euro. Teilzeitbeschäftigte erhalten den Betrag anteilig. „Die Autobahn GmbH ist immer noch ein junges Gebilde. Strukturen und Routinen müssen sich mancherorts immer noch einspielen. Gerade in dieser Zeit war und ist es eine besondere Schwierigkeit, dass die Coronapandemie die alltäglichen Abläufe zusätzlich erschwert hat“, erläuterte dbb Tarifchef Volker Geyer die Einigung. „Es ist von großer Bedeutung, dass jede und jeder einzelne Beschäftigte mit besonderem Einsatz mitzieht. Und genau darauf kann sich die Autobahn GmbH stets verlassen. Die Kolleginnen und Kollegen haben auch unter den schweren Bedingungen einer Pandemie einen tollen Job gemacht. Und das findet heute seine Anerkennung.“ Der dbb habe sich gegen jeden Versuch gewandt, diese Prämie nur in der Zentrale auszugeben. „Das wäre mit uns nicht zu machen gewesen. Alle waren engagiert und alle haben sich die Prämie verdient.“ Anerkennung und Wertschätzung Für Hermann-Josef Siebigteroth, Vorsitzender der Fachgewerkschaft der Straßen- und Verkehrsbeschäftigten (VDStra.), war es wichtig, dass auch die Autobahn GmbH begreift, wie wichtig Wertschätzung und Anerkennung sind: „Selbstverständlich haben die Kolleginnen und Kollegen gesehen, dass es im Geltungsbereich des TVöD und des TV-L Coronaprämien gab. Ihre Arbeit ist aber nicht weniger anspruchsvoll sowie anerkennenswert und deshalb war es wichtig, dass auch die Autobahn GmbH dies nun anerkannt und wertgeschätzt hat.“ Geyer und Siebigteroth waren sich mit dem Arbeitgeber einig, dass es wichtig ist, regelmäßig in engem Kontakt zu bleiben, „denn es gibt immer etwas zu verbessern oder zu regeln“, so Geyer. Zwischen dem 1. März 2020 und dem 31. März 2022 gezahlte Coronaprämien sind je Arbeitsverhältnis bis zu einer Höhe von 1500 Euro steuer- und sozialabgabenfrei. Dieser Freibetrag kann zusammen mit einer Coronaprämie, die heutige Beschäftigte der Autobahn GmbH noch vor dem Betriebsübergang im Dezember 2020 aus dem Abschluss zum TVöD (gestaffelt nach Entgeltgruppen bis zu 600 Euro) erhalten haben, überschritten werden. Ist das der Fall, ergibt sich für Beschäftigte eine Steuer- und Beitragspflicht für den 1500 Euro übersteigenden Anteil. ■ Volker Geyer (links) und Gunther Adler, Geschäftsführer Personal der Autobahn GmbH Spendenaufruf Schnelle Hilfe für die Opfer des Ukraine-Krieges Der dbb ruft zu Spenden für die Opfer des Ukraine-Krieges auf. Geldspenden können ab sofort über das Spendenkonto der BBBank Stiftung gesammelt werden. „Niemand in Europa hat sich vorstellen können, dass der Krieg zurückkommt, und ich hoffe, dass der Wahnsinn, der unendliches Leid bringen wird, zu stoppen ist“, sagt dbb Chef Ulrich Silberbach. „Die Familien und Kinder, die jetzt zu Tausenden vor der russischen Aggression gegen ein demokratisches Land aus ihrer Heimat flüchten, stehen vor einer ungewissen Zukunft. Sie verdienen unser ganzes Mitgefühl. Neben den wichtigen Sachspenden sind auch Geldspenden notwendig, um sie mit dem Nötigsten versorgen zu können. Die BBBank Stiftung ist ein enger Kooperationspartner des dbb. So können wir garantieren, dass die gesammelten Spenden zu 100 Prozent bei ausgewählten Organisationen ankommen“, so Silberbach. Spenden sind direkt über die Internetseite www.bbbank-stiftung.de/ukraine-spende möglich. Foto: Colourbox.de © dbb AKTUELL 5 dbb magazin | April 2022

Sozial- und Erziehungsdienst Kaum Fortschritte im Tarifkonflikt Die zweite Runde der Tarifverhandlungen für den Sozial- und Erziehungsdienst haben die kommunalen Arbeitgebenden am 22. März 2022 in Potsdamweitgehend ungenutzt verstreichen lassen, kritisiert der dbb. Sie haben das Ausmaß der Personalnot und die damit verbundene permanente Belastung offenbar immer noch nicht verstanden. Anders ist ihr Verhalten nicht zu erklären“, sagte der dbb Bundesvorsitzende und Verhandlungsführer Ulrich Silberbach. „Hinsichtlich der Aufwertung der Berufe in der frühkindlichen Bildung und der sozialen Arbeit ist eine konstruktive, tiefergehende Diskussion kaummöglich. Und bei der dringend notwendigen Entlastung der Kolleginnen und Kollegen wird praktisch komplett geblockt. Besonders irritierend ist, dass von den Arbeitgebenden nicht mal konstruktive Gegenvorschläge kommen. Das ist keine zielführende Verhandlungsführung.“ Die Fakten seien klar: Statt neue Fachkräfte zu gewinnen, drohe eine massive Abwanderung von Beschäftigten – während die Aufgaben aufgrund politischer Entscheidungen und Krisen, wie der Coronapandemie und dem Krieg in der Ukraine, immer größer würden. „Vor diesem Hintergrund grenzt das Verhalten der Arbeitgebenden schon fast an Realitätsverweigerung. Die kommenden Wochen bis zur finalen Verhandlungsrunde werden nun für alle Beteiligten mühsam, denn wir werden unseren Protest nun verstärkt auf die Straße tragen. Das ist in dieser schwierigen Zeit nicht einfach, weil alle Kolleginnen und Kollegen sich ihrer großen Verantwortung bewusst sind. Aber die Arbeitgebenden lassen uns keine Wahl.“ Der dbb befürchtet schwere gesellschaftliche Verwerfungen, wenn die kommunalen Arbeitgebenden weiter mauern: Die Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA) muss ihrer Verantwortung gerecht werden. Die Beschäftigten im Sozialbereich haben während der Coronapandemie verantwortungsbewusst gehandelt und die Verhandlungen um fast zwei Jahre verschoben, obwohl die Aufwertung des Berufsfeldes angesichts des Personalmangels schon vor zwei Jahren überfällig war. Jetzt sind Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter sowie Erzieherinnen und Erzieher erneut enorm gefordert, um die Geflüchteten aus der Ukraine zu betreuen. „Die VKA darf die Kolleginnen und Kollegen in dieser Situation nicht in einen Arbeitskampf zwingen“, stellte Silberbach klar. Der dbb fordert etwa eine bessere Bezahlung durch höhere Eingruppierungen in den entsprechenden Entgelttabellen. Außerdem soll inhaltlich bessere Arbeit ermöglicht werden, beispielsweise durch die Ausdehnung von Vor- und Nachbereitungszeiten. Um das duchzusetzen, hatten Beschäftgte im Vorfeld der zweiten Runde am 8. März für bessere Arbeitsbedingungen protestiert. „Beim Verhandlungsauftakt haben die kommunalen Arbeitgeber gezeigt, dass sie die Notwendigkeit und Dringlichkeit von grundlegenden Verbesserungen für die Kolleginnen und Kollegen nicht verstanden haben. Wir brauchen ein echtes Signal der Wertschätzung für die Berufe in der frühkindlichen Bildung und der sozialen Arbeit. Deshalb haben die Beschäftigten nun ein erstes Zeichen gesetzt“, hatte Silberbach bei den Protestaktionen bekräftigt, die insbesondere in Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Bayern und Sachsen stattgefunden hatten. „Der Internationale Frauentag am 8. März ist bewusst gewählt worden: In den Berufen des Sozial- und Erziehungsdienstes arbeiten immer noch weit überwiegend Frauen, gerade in den Kitas sind es deutlich über 90 Prozent. Und es sind diese Care-Berufe, die noch immer deutlich schlechter bezahlt sind als Berufe mit vergleichbarer Ausbildung, in denen mehr Männer arbeiten“, erklärte der dbb Chef. „Wer über Gleichberechtigung reden will, muss die strukturelle Benachteiligung von Sorgearbeit – ob beruflich oder privat – thematisieren.“ Die Tarifverhandlungen werden am 16. und 17. Mai 2022 fortgesetzt. ■ Kundgebung vor der zweiten Verhandlungsrunde in Potsdam: dbb Chef Ulrich Silberbach, die Vorsitzende der komba nrw, Sandra von Heemskerk, und Michael Kaulen von der komba nrw unterstützen die Protestierenden. © FriedhelmWindmüller TARIFPOLITIK 6 AKTUELL dbb magazin | April 2022

DBB FORUM ÖFFENTLICHER DIENST Private Krankenversicherung Mehr Planungssicherheit für Beihilfeempfänger schaffen Für mehr Transparenz und eine sachgerechte Weiterentwicklung des Beitragssystems der privaten Krankenversicherung hat sich dbb Vize Schäfer ausgesprochen. Im Rahmen des digital-hybriden Dialogformates „dbb Forum ÖFFENTLICHER DIENST“ zum Thema „Beitragssprünge in der PKV – muss das sein?“ sagte Schäfer am 22. März 2022 in Berlin: „Im Gegensatz zur umlagefinanzierten gesetzlichen Krankenversicherung sind die Beiträge in der privaten Krankenversicherung nach dem Kapitaldeckungsprinzip ausgestaltet undwerden nicht durch Steuerzuschüsse unterstützt. In der Folge steigen die Beiträge für beihilfeberechtigte Beamtinnen und Beamte nicht kontinuierlich, sondern sprunghaft an, und das ist für die Versicherungsnehmenden weder zumutbar noch nachvollziehbar. Hier brauchen wir dringend mehr Transparenz und eine Umstellung des gesetzlich vorgegebenen Anpassungsmechanismus.“ Der dbb Vize und Fachvorstand Beamtenpolitik erläuterte weiter, dass die Schaffung einer rechtlichen Grundlage für kontinuierliche Beitragsanpassungen in der PKV überfällig sei. „Außerdemmuss die Gebührenordnung an die reale Situation angepasst werden. Und mit den privaten Versicherungen wollen wir dringend über das Thema Familienversicherung sprechen.“ Das bewährte Zusammenspiel von Beihilfe und privater Krankenversicherung müsse auch zukünftig eine attraktive und leistungsstarke Absicherung garantieren. „Dabei müssen Sonderbelastungen, wie durch den befristeten überproportionalen Coronazuschlag, Kostenbelastungen für untere Besoldungsgruppen sowie bei besonderen Familiensituationen und bei temporären Veränderungen des Dienstumfangs, vermieden werden“, betonte der dbb Vize. Über sachgerechte Maßnahmen zur Weiterentwicklung der privaten Krankenversicherung diskutierte Schäfer mit dem DebekaVorstand und stellvertretenden Vorsitzenden der Deutschen Aktuarvereinigung, Roland Weber, und dem Direktor des PKV-­ Verbandes, Dr. Florian Reuther. Roland Weber bezeichnete die private Krankenversicherung als „nachhaltig finanziert und resistent gegen demografische Verwerfungen“, da sie einkalkuliere, dass ältere Versicherte mehr Moderatorin Ines Arland und dbb Vize Friedhelm Schäfer „Die Gebührenordnung muss an die reale Situation angepasst werden.“ Friedhelm Schäfer, Zweiter Vorsitzender des dbb © Jan Brenner 8 AKTUELL dbb magazin | April 2022

Leistungen benötigten als jüngere, und da sie stabile Altersrückstellungen bilde – derzeit in Höhe von 300 Milliarden Euro. Weber umriss das Kapitaldeckungsverfahren der PKV, in dem jeder Jahrgang die bis zum Lebensende insgesamt anfallenden Versicherungsleistungen mit eigenen Beiträgen decken muss. In diesem System gebe es keine Beitragserhöhungen nur aufgrund des Älterwerdens. Der Leistungsbedarf der Versicherten sei anfangs niedriger, sodass ein großer Teil des Beitrags der Alterungsrückstellung zugeführt und für das Alter verzinslich angespart werden könne. Das spiegele sich auch im Vergleich der Beitragsentwicklung zwischen GKV und PKV wider: Während die Beiträge in der GKV von 2012 bis 2022 um 3,3 Prozent gestiegen seien, habe die Steigerung in der PKV nur bei 2,6 Prozent gelegen. Dass Beitragserhöhungen in der PKV von den Versicherten jedoch immer als „empfindliche Sprünge“ wahrgenommen würden, liege darin begründet, dass „veraltete gesetzliche Vorgaben“ in der PKV Anpassungen eben nur sprunghaft erlaubten, während die Beiträge der GKV kontinuierlich angepasst würden. Dennoch gebe es gute Nachrichten für PKV-Versicherte: „Während der größte Teil der zinsinduzierten Beitragssteigerungen in der PKV bereits hinter uns liegt, stehen die Belastungen in der GKV aufgrund der Demografie noch bevor. Darüber hinaus stabilisieren gesetzliche Mechanismen bei Versicherten ab 60 Jahren die Beiträge und sorgen ab 65 sogar für leichte Entlastungen“, so der Versicherungsmathematiker, der die GKV systembedingt künftig mit größeren Problemen konfrontiert sieht als die PKV. Das bedeute jedoch nicht, dass es für die PKV keinen Reformbedarf gebe. So müsse die Beitragsentlastung im Alter auch langfristig sichergestellt werden. Weiter sei der Gesetzgeber gefordert, den Weg für eine Verstetigung der Beitragsanpassungen zu ebnen, um künftig Beitragssprünge zu vermeiden. Darüber hinaus gelte es, die Gebührenordnung zu modernisieren und die PKV-Sozialtarife zu verbessern. Im Gesundheitswesen müssten PKV-Versicherte in gleichem Maße von Impulsen der Digitalisierung profitieren können wie GKV-Versicherte, zum Beispiel indem elektronische Patientenakten teure Mehrfachdiagnosen oder -behandlungen vermieden. Darüber hinaus müsse Bürokratie im Gesundheitssystem und in den Arztpraxen abgebaut werden. Ebenso gehe es um eine Neuordnung der Krankenhauslandschaft sowie eine Defragmentierung der Sektoren des ambulanten und stationären Gesundheitswesens. „Bislang steigen die Kosten im gesamten Gesundheitswesen regelmäßig stärker als das Bruttoinlandsprodukt. Gesundheit ist uns lieb, aber sie ist auch teuer“, so Weber. Mit Blick auf Bestrebungen, eine Bürgerversicherung einzuführen oder die PKV für Beamtinnen und Beamte durchlässiger zu machen, wie es etwa das „Hamburger Modell“ vorsieht, relativierte Weber die Erwartungen: „Im Hamburger Senat zum Beispiel hat man sich sicher mehr von dem Öffnungsmodell versprochen, denn so groß wie erwartet war der Zuspruch nicht. Vor allem kommt die Idee den Senat letztlich teurer, weil sich vor allem junge Beamtinnen und Beamte dafür entschieden haben, die mehr Zuschüsse erhalten als ältere Versicherte.“ Die Mehrheit der Beamten bleibe der PKV treu, „denn sie wissen, was sie an der privaten Krankenversicherung haben“. „Beamtinnen und Beamte wissen, was sie an der privaten Krankenversicherung haben.“ Roland Weber, Vorstand Debeka Model Foto: Phovoir/Colourbox.de (2) AKTUELL 9 dbb magazin | April 2022

Dr. Florian Reuther wies Behauptungen zurück, die privaten Versicherungsunternehmen legten zu wenig Wert auf eine nachvollziehbare Kommunikation ihrer Beitragsgestaltung. „Nicht zuletzt durch die Gesetzgebung des BGH sind wir verpflichtet, den Versicherten die für die Beitragsanpassung maßgeblichen Gründe mitzuteilen. Entsprechend wurde auch bei der Beitragsanpassung für 2022 verfahren. Wir haben die Kunden nicht nur darüber informiert, dass sie mehr zahlen müssen, sondern haben auch die Gründe, die hinter der Beitragserhöhung stehen, offen dargelegt.“ Dennoch sieht Reuther Reformbedarf im PKV-System: „Wir benötigen zeitgemäße gesetzliche Vorgaben. In diesem Punkt sind wir uns mit den Verbraucherschützern einig, die uns auch unterstützen. Uns geht es jetzt darum, eine stetigere Beitragsentwicklung zu bekommen.“ Ein Vorhaben, das mit der neuen Bundesregierung nicht so leicht umgesetzt werden könne, räumte der Chef des PKV-Verbandes ein. „SPD und Grüne wollen nichts tun, was der PKV nützt, auch wenn sie im aktuellen Koalitionsvertrag von der Einführung einer Bürgerversicherung Abstand genommen haben. Aber wir bleiben dran und hoffen, dass Herr Lauterbach über seinen Schatten springt und bereit ist, die berechtigten Interessen der PKV anzuerkennen.“ Nach seiner Einschätzung sei es aber wenig wahrscheinlich, dass die Gesundheitspolitik letztlich doch noch in der Einführung einer Bürgerversicherung gipfele, so Reuther. „Bürgerversicherung ist eine schöne Überschrift. Doch selbst ihre Befürworter räumen ein, dass mindestens drei oder vier Legislaturperioden nötig wären, um eine Änderung herbeizuführen. Und klar ist auch, dass alles, was die Politik jetzt unternimmt, erst in Zukunft wirken kann, weil die privatrechtlichen Verträge unserer Versicherten Vertrauensschutz genießen.“ Die weitverbreitete Annahme, dass die Beiträge der Versicherten im Alter steigen, bezeichnete der PKV-Verbandschef als unzutreffend. „Diesbezüglich kann man das 60. Lebensjahr als Wendemarke betrachten: Ab diesem Alter ist die Beitragsentwicklung stabil.“ Wer als junger Versicherter Vorsorge gegen den Beitragsanstieg immittleren Lebensalter treffen möchte, habe zudem die Möglichkeit, einen Beitragsentlastungstarif abschließen, in dem eine zusätzliche Prämie entrichtet werden kann. „Das ist vor allem für Selbstständige und Angestellte interessant. Für die Selbstständigen, weil sie im Alter häufig weniger Geld zur Verfügung haben als zu ihren Erwerbszeiten, und für die Angestellten, weil solche Tarife von den Arbeitgebern mitfinanziert werden. Eine weitere Möglichkeit bietet das Tarifwechselrecht. Dies wird jedem Versicherten eingeräumt.“ Mit Blick auf die die Coronapandemie stellte Reuther klar, dass auch die PKV ihren Teil zur Bewältigung der Krise beigetragen habe: „Wir haben mit dem Gesundheitsministerium, der Ärztekammer und der Zahnärztekammer Hygienepauschalen abgeschlossen. Damit haben wir den Ärzten im ambulanten Bereich ermöglicht, ihren Praxisbetrieb aufrechtzuerhalten, damit das öffentliche Gesundheitssystem weiter funktionieren konnte. Wir haben uns an den Rettungsschirmen im Bereich der Krankenhausversorgung beteiligt und tun es noch bei der Pflegeversicherung.“ Im Ganzen sei in der Pandemie ein Betrag aufgelaufen, der weit über einer Milliarde Euro liege: „Genau wissen wir das noch nicht.“ bas, br, cri, zit „Wir sind verpflichtet, den Versicherten die für die Beitragsanpassung maßgeblichen Gründe mitzuteilen.“ Dr. Florian Reuther, Direktor PKV-Verband Model Foto: Kzenon/Colourbox.de 10 AKTUELL dbb magazin | April 2022

GESUNDHEITSPOLITIK UmWege aus dem Dilemma zu finden, muss man sich zunächst mit der Finanzierung der Kliniken beschäftigen. Die Krankenhausfinanzierung stützt sich hierzulande auf zwei Säulen: Die Krankenkassen kommen mit ihren Entgelten an die Klinikbetreiber quasi für die laufenden Betriebskosten wie Personal, Material, Energie und Wasser auf. Für Investitionskosten wie Neubauten und Geräte ist das jeweilige Bundesland zuständig. Theoretisch klingt das gut, praktisch geht die Rechnung seit Jahren vorne und hinten nicht auf. Denn beide Säulen sind nicht so stabil, dass das System insgesamt nachhaltig getragen – sprich finanziert werden kann. Überleben im Abrechnungsdschungel Auf der Krankenkassenseite läuft die Abrechnung über die sogenannten Diagnosis Related Groups, kurz DRG – zu Deutsch: Fallpauschalen, die je nach Diagnose abgerechnet werden. Der Betrag ist immer gleich hoch, unabhängig davon, ob jemand gesetzlich oder privat krankenversichert ist. Die Kassen erstatten außerdem die Personalkosten, die für die Pflege der Patienten entstehen. Die Fallpauschalen beinhalten ärztliche Leistungen, Sachkosten wie Medikamente, Verbände oder etwa künstliche Gelenke, Aufwendungen für Unterhalt und Verwaltung. Sie werden vom Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus aufgrund der Durchschnittskosten von Modellkliniken jährlich berechnet und dann pauschal für alle festgelegt. Die Pflegekosten hingegen verhandeln die Krankenkassen mit den Kliniken individuell, je nach den tatsächlichen Ausgaben der einzelnen Häuser. Fallpauschalen und Pflegekosten sind nicht in der Höhe oder der Menge begrenzt, die Kassen zahlen die Summe, die bei den Krankenhäusern entsteht. Für die Kliniken bedeutet das: Wer mehr Leistungen erbringt, nimmt mehr Geld ein. Eine vielfach kritisierte Praxis ist in diesem Zusammenhang das sogenannte „Upgrading“: Kliniken prüfen bei der Abrechnung mit den Kassen bisweilen gezielt, ob sie nicht eine schwerere Diagnose als ursprünglich gestellt angeben können. So erhalten sie mehr Geld von der Kasse, aber auch die Kassen haben aufgrund bestimmter Diagnosen mehr Ansprüche auf Mittel aus dem Gesundheitsfonds. Die Verfahren von Abrechnungsprüfungen, die diesen Dschungel durchdringen müssen, sind über die Jahre drastisch gestiegen und verschlingen mittlerweile selbst Unsummen, die das System auf allen Seiten zusätzlich belasten. Für die stationäre Versorgung zahlen die Krankenkassen jähr- lich immer mehr. Waren es bei den gesetzlichen Krankenversicherungen 2008 noch 52 Milliarden Euro, stieg der Betrag auf 81 Milliarden Euro im Jahr 2020. Für die Kostensteigerungen gibt es viele Gründe. So ist Deutschland eine alternde Gesellschaft mit erhöhtem Bedarf an medizinischer Versorgung. Zu Buche schlagen auch technischer und medizinischer Fortschritt, Inflation und steigende Personalkosten. Den Hauptgrund machen Gesundheitsökonomen wie Reinhard Busse von der Technischen Universität Berlin allerdings darin aus, dass zu viele Krankenhausbetten vorgehalten würden: „Die Kliniken werden dann bezahlt, wenn sie diese Betten belegen. Und dann machen sie das auch“, erklärte Busse Anfang Januar in der „tagesschau“. Zusätzlich schaffe das Vergütungssystem über Fallpauschalen Anreize für die Kliniken, möglichst viele Fälle abzurechnen, insbesondere jene, die sich DRG-technisch besonders lohnen. So ist nach Daten des Statistischen Bundesamtes die Zahl der Kniegelenks-OPs innerhalb von zwölf Jahren um rund die Hälfte gestiegen, die Zahl der Hüft-OPs um rund ein Viertel. Prekär ist, dass über die Fallpauschalen insbesondere die ärztlichen LeistunKrankenhausfinanzierung System am Tropf Rund 2 000 Krankenhäuser gibt es derzeit in Deutschland – und so richtig rund läuft es schon lange nicht mehr mit der Finanzierung der Häuser, was sich insbesondere an dem seit Jahren bestehenden Missverhältnis zwischen Pflegepersonal und den zu Versorgenden zeigt. Die Kliniken hängen am Tropf von Krankenkassen und Bundesländern, was immer mehr zur wirtschaftlichen Gratwanderung wird. Es braucht neue Konzepte, die das Kliniknetz medizinisch wie finanziell solide für die Zukunft aufstellen. Model Foto: Edward Olive/Colourbox.de 12 AKTUELL dbb magazin | April 2022

gen, nicht aber die Pflege, abgedeckt sind, sodass vor allem an der Pflege gespart wird – mit kürzeren Liegezeiten für die Patienten und weniger Personal auf den Stationen. Länder patzen bei Zahlungsverpflichtungen Auf der Bundesländerseite leiden die Krankenhäuser seit Langem unter der schlechten Zahlungsmoral der verantwortlichen Geldgeber: Den Kliniken fehlen Milliarden, weil die Länder ihren Verpflichtungen nicht nachkommen, und weiterer Personalmangel ist eine direkte Folge dessen. Laut einer aktuellen Bestandsaufnahme der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) hat sich der „bestandserhaltende Investitionsbedarf“ der Krankenhäuser in Deutschland von 6,1 Milliarden Euro im Jahr 2019 über 6,2 Milliarden im Jahr 2020 auf 6,3 Milliarden im Jahr 2021 erhöht. Zur Verfügung gestellt wurden den Kliniken von den Ländern im Jahr 2020 lediglich rund 3,27 Milliarden Euro. Diese chronische Unterfinanzierung im Investitionsbereich besteht seit Jahren und zwingt die Klinikbetreiber zu Querfinanzierungen, um dringend notwendige Investitionen, wie bauliche Erweiterungen und Sanierungen, die Modernisierung von OP-Sälen und anderer Medizintechnik und die Digitalisierung, trotzdem realisieren zu können. Um über die Runden zu kommen, werden dafür dann Gelder verwendet, die eigentlich für die Patientenversorgung gedacht waren – und dort am Ende auch wieder fehlen. Die Folge: Einsparungen beim Personal, einige Häuser müssen im schlimmsten Fall aus wirtschaftlichen Gründen schließen. „Solange Bund und Länder ihren gesetzlichen Pflichten zur Finanzierung der Krankenhäuser nicht nachkommen, bleiben alle Zusicherungen der Politik zur Verbesserung der Lage in den Krankenhäusern Sonntagsreden“, sagt DKG-Vorstandschef Gerald Gaß. Die Unterfinanzierung drohe die bisher gute Krankenhausversorgung zu gefährden. Dauerstresstest fürs Personal Weil nun vielerorts auch der Profit maximiert werden muss, haben sich viele Kliniken generell aufs Sparen verlegt – und auch das trifft natürlich vor allem das Personal. Pflegende müssen hierzulande besonders viele Patientinnen und Patienten betreuen, und spätestens unter dem Druck der Coronapandemie wer- fen nun viele von ihnen entnervt und enttäuscht das Handtuch. Der Klinikstresstest der zwei vergangenen Jahre hat gezeigt, dass die gnadenlose Optimierung auf das Fallpauschalensystem in der verhängnisvollen Kombination mit der Unterfinanzierung durch die Bundesländer zu Frust und Resignation bei allen Beteiligten führt und zudem auch medizinische und sozialpolitische Verwerfungen zur Folge hat, die es mit einer möglichst breit und nachhaltig angelegten Reform zu verhindern gilt. Wie also könnte eine Perspektive aussehen, die Kliniken finanziell und medizinisch krisenfester macht – und zudem dafür sorgt, dass sich Personal und Patienten dort wohlfühlen? Ein interessantes Konzept hat das Land Schleswig-Holstein bereits vor zwei Jahren, im Januar 2020, im Vorfeld der damals tagenden BundLänder-Arbeitsgruppe zur Reform der Krankenhausfinanzierung, ausgearbeitet. Die Idee: die Länder unabhängiger vom Bund machen sowie durch eine Neugestaltung der DRG die derzeit bestehenden Fehlanreize für die Leistungserbringer zur Überversorgung stark reduzieren. Eine erlösunabhängige Basisfinanzierung soll die Finanzierung der akutstationären Versorgung der Bevölkerung auf dem Land und in den Städten mit ihren spezifischen Vorhaltekosten sicherstellen. Diese Basisfinanzierung soll die leistungsbezogene Abrechnung künftig ergänzen, da die bisherigen Sicherstellungszuschläge den Krankenhäusern keine ausreichende Planungssicherheit geben. Darüber hinaus müssen verbindliche Vorgaben für die Mindestausstattung sowie Mindestfallzahlen festgelegt werden, um Fehlanreize im Bereich der Erbringung hochkomplexer Eingriffe zu minimieren. Im Hinblick auf die Basisfinanzierung dürfe nicht allein die Größe eines Krankenhauses maßgeblich sein, vielmehr sei die Bedeutung für die Versorgung der Bevölkerung miteinzubeziehen, so das Konzept aus Kiel. Die Planungsbehörden der Länder müssten in ihrer krankenhausplanerischen Entscheidungskompetenz rechtlich gestärkt werden. Hierzu wurde vorgeschlagen, im Bundesrecht eine Öffnungsklausel für die Länder zu implementieren, die es ermöglicht, regionalspezifische und sektorenübergreifende Versorgungsstrukturen zu berücksichtigen. Nun bleibt abzuwarten, wie die neue Bundesregierung das Thema Krankenhausfinanzierung angehen wird. So viel ist sicher: Es braucht ein tragfähiges, flächendeckendes Kliniknetz mit ausreichend sichergestellter Versorgung für die Menschen, guten Arbeitsbedingungen für das Gesundheitspersonal und nachhaltiger wie verlässlicher Finanzierung. iba Der dbb plädiert dafür, das Fallpauschalensystem um eine erlösunabhängige Basisfinanzierung zu ergänzen. Hierdurch könnten beispielsweise die sogenannten „Vorhaltekosten“ abgedeckt werden – also insbesondere das Freihalten von Betten, wie es aus Pandemiezeiten bekannt ist. Eine solidere Finanzierung der Krankenhäuser, die weniger ökonomischen Zwängen geschuldet ist, ohne jedoch Wirtschaftlichkeitsaspekte außer Acht zu lassen, komme sowohl Patientinnen und Patienten als auch dem Personal zugute, heißt es in einer Bewertung des Konzepts durch den dbb. Allerdings wird dadurch einerseits Überversorgung, zum Beispiel durch medizinisch nicht unbedingt erforderlichen Gelenkersatz, nicht zwingend vermieden. Andererseits wären die Krankenhäuser dann aber nicht mehr genötigt, finanzielle Engpässe über schlechtere Arbeitsbedingungen auf dem Rücken des Personals abzufedern. Finanzierung nachhaltig sichern Model Foto: Colourbox.de AKTUELL 13 dbb magazin | April 2022

Armin Schuster, Präsident des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) Bunker und Sirenen: Mehr Tempo beim Zivilschutz Über Jahrzehnte sahen sich Experten für Bevölkerungsschutz dem Vorwurf ausgesetzt, sie verbreiteten mit ihren Übungen und Ratschlägen unnötig Panik. Bunker, Sirenen, Medikamente für den Notfall – all das hielt man für zweitrangig. Das hat sich geändert. Vor einem Jahr wurde ein Plan für eine Neuausrichtung des BBK vorgestellt, wie sind Sie da vorangekommen? Wir haben mit den zur Verfügung stehenden Mitteln schon viel erreicht. Die Projekte laufen. Aber nicht nur das. Wir sind enger zusammengerückt. Die Länder, in deren Kompetenz der Katastrophenschutz liegt, zeigen eine starke Kooperationsbereitschaft. Durch die Coronapandemie und die Flutkatastrophe hat ein deutliches Umdenken stattgefunden. Dadurch ist es für das BBK schon jetzt, auch ohne Gesetzesänderung, möglich, eine zentrale und koordinierende Funktion im Bevölkerungsschutz zu übernehmen. Wir bauen gerade das Gemeinsame Kompetenzzentrum Bevölkerungsschutz von Bund und Ländern auf. Das ist ein Beleg dafür. Wenn die Innenministerkonferenz im Juni den endgültigen Beschluss dazu fasst, gehen wir sofort von der Aufstellungsphase in den laufenden Betrieb. Ziel der Neuausrichtung ist es ja, den Bevölkerungsschutz in Deutschland in der Gesamtheit zu stärken. Dabei haben wir auch immer Szenarien im Blick gehabt, in denen auch mehrere Krisen gleichzeitig zu bewältigen sind. Das war so während des Hochwassers – denn die Pandemie war ja noch da – und das ist auch jetzt so, wo Deutschland innerhalb kürzester Zeit eine große Zahl von Kriegsflüchtlingen aufnehmen muss. Der Anteil des Zivilschutzes – also der Schutz der INTERVIEW Sirenen gibt es vielerorts nicht mehr. Bunker: Fehlanzeige. Medizinische Schutzkleidung war 2020 Mangelware. Die Coronapandemie, das Jahrhunderthochwasser imWesten und der russische Angriffskrieg auf die Ukraine haben den Menschen in Deutschland die staatlichen Defizite im Zivil- und Katastrophenschutz schonungslos vor Augen geführt. Armin Schuster ist seit November 2020 Präsident des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK). Im Interview mit der Deutschen PresseAgentur wirbt er für mehr Tempo und Geld, um die Lücken schnell zu schließen. © CC-BY-SA-4.0/ASBT2018 14 FOKUS dbb magazin | April 2022

Zivilbevölkerung im Spannungs- oder Verteidigungsfall – innerhalb unserer Anstrengungen für den Bevölkerungsschutz ist lange nicht ernst genommen worden, man glaubte sich ja dauerhaft im Frieden. Was ist mit den Finanzmitteln? Die Ampelkoalition will ja im Bevölkerungsschutz mehr tun. Für das, was wir vorhaben, reicht eine Steigerung um zehn Millionen Euro, so wie sie jetzt im Haushalt für 2022 vorgesehen ist, nicht aus. Ich werbe daher bei den Abgeordneten intensiv dafür, dass sie sich das noch einmal anschauen mögen. Wir haben im regulären Haushalt Mehrinvestitionen von rund 135 Millionen Euro beantragt. Da geht es aber nicht um die Finanzierung einer Behörde, sondern um Investitionen in nationale Reserven, die Trinkwassersicherstellung, Sirenen und weitere Warnmittel, Verbesserung der Ausstattung und den CBRN-Schutz, also den Schutz vor chemischen, biologischen, radiologischen und nuklearen Gefahren. Da geht es zum Beispiel auch ummoderne Zivil- und Katastrophenschutzfahrzeuge und um unsere Zivilschutzhubschrauber. Ist schon absehbar, ob aus dem 100-Milliarden-Sondervermögen auch Geld in den Zivilschutz fließen wird? Nein, wobei der Zivilschutz natürlich auch elementarer Teil unserer Verteidigungsfähigkeit ist. Gesundheitsversorgung, Notstrom, Trinkwasser, Ernährung, Warnung, Selbstschutz der Bevölkerung, Ausstattung, Material und die Verteillogistik für die Versorgung einer großen Zahl von Verletzten, das gehört alles dazu. Was ist mit Bunkern? Hier werden Bund und Länder jetzt sehr zügig gemeinsam eine Bestandsaufnahme vornehmen. 2007 haben Bund und Länder entschieden, das Schutzraumkonzept aufzugeben. Wir entwickeln derzeit Konzepte, wie künftig ein effektiver baulicher Bevölkerungsschutz aussehen kann. Eine Umsetzung wird jedoch Zeit und viel Geld kosten. Was ist mit dem Krieg in der Ukraine, was tut das BBK, was ändert sich dadurch an den Szenarien, auf die man sich vorbereitet? Diese Bedrohungssituation haben viele für unwahrscheinlich gehalten. Die Bundeswehr aber nicht, und wir – bedingt durch die Aufgabe unseres Amtes – auch nicht. Insofern ändert sich nichts an den Szenarien, sondern eher an der Intensität der Vorbereitungen. Unser Lagezentrum ist der zentrale Knotenpunkt für die Koordinierung der staatlichen Hilfe aus Deutschland in die Ukraine und die Anrainerstaaten. Hinzu kommt die Verteilung von Patienten innerhalb Deutschlands, die im Krieg erkrankt sind oder verletzt wurden. Wir haben ein Modul aus der Betreuungsreserve des Bundes für den Zivilschutz in Berlin aktiviert. Dieses Modul, das zur Unterbringung und Versorgung von 5000 Menschen auf der Flucht gedacht ist – also mit Strom, Betten, sanitären Einrichtungen – betreibt für uns das Deutsche Rote Kreuz. Die Beschaffung eines zweiten Moduls mit dem Arbeiter-Samariter-Bund ist beschlossen. Wir wollen die Anzahl der Module ausbauen, dazu wären aber mehr Haushaltsmittel nötig. Unter dem Aspekt der Zivilverteidigung sollten jedoch Reserven für 20 Module, also für 100 000 Menschen, vorhanden sein Was ist mit dem Selbstschutz? Ich rate allen Bürgerinnen und Bürgern dazu, die Ratgeberangebote des BBK zu nutzen. Jeder kann sich vorbereiten, beispielsweise was eine sinnvolle Ausstattung angeht für den Fall eines Stromausfalls oder anderer Notfälle. Nahrungsmittelreserven und Trinkwasser sollte jeder zu Hause haben. „Hamstern“ ist dabei nicht nötig, der Notvorrat kann schrittweise aufgebaut werden. Wir raten auch von einer Bevorratung mit Jodtabletten ab, denn dafür gibt es staatliche Reserven, und eine Selbstmedikation ist gefährlich. Wie kommen Sie voran mit der Anschaffung von Sirenen? Im Rahmen des Sirenenförderprogramms des Bundes übernehmen die Länder die Anschaffung von Sirenen. Mit dem Programm haben wir einen wichtigen Impuls gesetzt, und das Programm wird von den Ländern sehr gut angenommen. Einige Länder nehmen aber auch selbst noch mehr Geld in die Hand, um da voranzukommen, zum Beispiel Niedersachsen. Was ist mit demWarntag, bei dem vorletztes Jahr so viel schieflief und der letztes Jahr dann ausfiel? Der Warntag soll in diesem Jahr stattfinden. Mein Wunsch ist, dass wir dann auch zum ersten Mal Cell Broadcast als Warn- mittel testen. Was halten Sie von der Diskussion über eine Rückkehr zur Wehrpflicht beziehungsweise die Einführung eines verpflichtenden Dienstjahres? Als BBK ist es unsere Aufgabe, die zivile Seite zu stärken. Denn Fakt ist: Wir brauchen die ehrenamtlich Aktiven in den Feuerwehren und Hilfsorganisationen. Und wir brauchen ein starkes BBK, einen starken Zivilschutz. Wir können nicht in jeder Krise nach der Bundeswehr rufen. Denn die Bundeswehr hat eigene Aufgaben zu erfüllen und ist per se keine Zivilschutzreserve. Das sehen wir auch jetzt, wo Soldatinnen und Soldaten gefordert sind, um ihren Kernauftrag und die NATO-Verpflichtungen zu erfüllen. Das BBK setzt sich aktiv dafür ein, ehrenamtliches Engagement im Bevölkerungsschutz zu fördern. Es sind insbesondere die ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer, die sich in ihrer Freizeit für die Gesellschaft engagieren und das Hilfeleistungssystem in Deutschland, gemeinsammit den hauptamtlichen Einsatzkräften, tragen. Das Interview führte Anne-Beatrice Clasmann, dpa. Wir können nicht in jeder Krise nach der Bundeswehr rufen. Denn die Bundeswehr hat eigene Aufgaben zu erfüllen und ist per se keine Zivilschutzreserve. FOKUS 15 dbb magazin | April 2022

Resilienz und Gestaltungsfähigkeit des Staates Krise? Welche Krise? „Crisis? What Crisis?“ hieß ein 1975 erschienenes Album der britischen Popgruppe Supertramp. Man kann diesen Titel lesen als zweifelnde Frage, ob es denn überhaupt eine Krise gibt. Oder aber, und das erscheint aus heutiger Sicht viel plausibler, als Frage, welche der zahlreichen Krisen denn konkret gemeint ist. Viele Bürger beschleicht das Gefühl, dass Deutschland sich seit einiger Zeit – und nicht erst seit Ausbruch der Coronapandemie – im permanenten Krisenmodus befindet. Und nun auch noch der nur wenige Hundert Kilometer entfernt tobende Krieg Russlands in der Ukraine. Dieser Krieg und ebenso die Pandemie sind schon deshalb tiefgreifende Krisen, weil sie unsere gesamte bisherige Vorstellungswelt in ihren Grundfesten erschüttern. Wohl niemand in Deutschland konnte sich noch vor ein paar Wochen vorstellen, dass die seit dem Ende des Ost-West-Konflikts bestehende Friedensordnung in Europa dermaßen brutal attackiert würde. Ebenso wenig schien es noch Anfang 2020 vorstellbar, dass ein Virus weite Teile unseres Gesellschafts- und Wirtschaftssystems lahmlegen, alle privaten und beruflichen Routinen infrage stellen würde. Hier wurden scheinbare Gewissheiten einfach vom Tisch gewischt, das erzeugt Unsicherheit und Ängste. Aber damit längst nicht genug. Abgesehen von der Klimakrise und einer sich derzeit abzeichnenden Energiekrise hat die Pandemie weitere Krisenherde ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt. So wurde offenbar, dass immer neue Sparrunden in Teilen der öffentlichen Verwaltung und namentlich in den Gesundheitsämtern große personelle Löcher hinterlassen haben. Dem deutschen Bildungssystem wurde schon vor Corona attestiert, in der Krise zu stecken. Geradezu himmelschreiend war und ist, was sich dann in den vergangenen zwei Jahren an Deutschlands Schulen abspielte, was Schülern, Eltern und Lehrern zugemutet wurde. Insbesondere die Länder haben sich damit selbst ein Armutszeugnis ausgestellt. Angesichts solcher Befunde liegt es nahe, Deutschland hinsichtlich der Fähigkeit, Krisen anzunehmen und zu bewältigen, ein „Ungenügend“ zu attestieren. Aber trotz der beschriebenen und anderer Schwachstellen wäre so ein Urteil einseitig und falsch. Denn dabei würde ausgeblendet, dass beispielsweise der deutsche Arbeitsmarkt sich in der Pandemie auch dank des Zusammenspiels von Politik, Wirtschaft und Gewerkschaften als erstaunlich krisenfest erwiesen hat. Das Gesundheitssystem geriet zeitweise an seine Grenzen, hielt letztlich aber den Belastungen stand. Nicht zu vergessen der beeindruckende Bürgersinn, der sich in den vergangenen Jahren immer wieder gezeigt hat: bei der Flüchtlingskrise 2015, auch in der Coronapandemie, bei der Flutkatastrophe im Ahrtal und auch jetzt wieder, wo täglich Zehntausende ukrainische Flüchtlinge in Deutschland eintreffen. Zugleich zeigt sich unser politisches System immer wieder und allen Kassandrarufen zum Trotz stabil. Der Regierungswechsel im vergangenen Herbst hatte durchaus das Potenzial für eine länger andauernde politische Krise. Alle Beteiligten aber erwiesen sich als reif und verantwortungsbewusst genug, um es nicht dazu kommen zu lassen. Gleiches gilt für den größten Teil der Wählerinnen und Wähler, die nicht den Lockrufen der Radikalen und Extremen folgten. Letztere verzeichneten in der jüngeren Vergangenheit nicht nur in Deutschland vermehrt Zulauf, weil sie scheinbar einfache Antworten auf anstehende Probleme parat haben. Aber solche einfachen Antworten, so sehr wir alle sie uns manchmal wünschen mögen, werden den Herausforderungen einer immer komplexer werdenden Welt nicht gerecht. Diese Komplexität geht einher mit Veränderungen, die sich ihrerseits immer schneller vollziehen. Viele Menschen fühlen sich dadurch überfordert, erleben auch deshalb das Geschehen als Abfolge immer neuer Krisen. Hier liegt wohl auch das größte Risiko: Wenn die Bürger den Glauben an sich und zugleich an die Krisenresilienz und Gestaltungsfähigkeit des Staates verlieren, droht eine Vertrauenskrise, die letztlich die Fundamente unseres demokratischen Gemeinwesens unterspülen kann. Ralf Joas ... Dr. Ralf Joas ist stellvertretender Leiter des Ressorts Politik, Wirtschaft und Zeitgeschehen der „Rheinpfalz“, die in Ludwigshafen erscheint. Der Autor ... Unser politisches System zeigt sich immer wieder und allen Kassandrarufen zum Trotz stabil. © Ante Hamersmit/Unsplash.com MEINUNG 16 FOKUS dbb magazin | April 2022

Umsetzung von Sanktionen gegen Russland und Belarus Der Zoll hat Ein- und Ausfuhren fest im Blick Mit umfangreichen Sanktionsmaßnahmen hat die EU auf den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine reagiert, darunter auch zahlreiche Ein- und Ausfuhrverbote, über deren Einhaltung der Zoll wacht. Diana Beisch, Vorsitzende des Ständigen Fachausschusses Zölle und Steuern im BDZ, erläutert das grundsätzliche Kontrollprozedere bei der Warenabfertigung und zeigt auf, warum der Zoll ein wichtiger Baustein in der deutschen Sicherheitsarchitektur ist. ZOLLVERWALTUNG Sanktionen und Embargos sind für den Zoll nichts Neues, aber Nichtinsider fragen sich in Anbetracht der umfangreichen Beschränkungen, die die EU nun gegen Russland, Belarus und Einzelpersonen verhängt hat, wie das umgesetzt wird. Wie läuft das grundsätzliche Prozedere ab? Diana Beisch: Grundsätzlich erfolgt die Abfertigung von Waren beim Zoll – bis auf ein paar Ausnahmen – elektronisch. In Deutschland wird hierfür ATLAS (Automatisiertes Tarif- und Lokales Zollabwicklungssystem) genutzt. Im Rahmen der Bearbeitung von Anmeldungen in ATLAS wird dann geprüft, ob sie angenommen und die Waren zum angemeldeten Verfahren überlassen werden können. Hierfür müssen alle erforderlichen Zollformalitäten erfüllt sein und es dürfen keine Verbote und Beschränkungen entgegenstehen. Zu den Verboten und Beschränkungen zählen auch handelspolitische Maßnahmen wie die aktuell gegen Russland, Belarus sowie Einzelpersonen verhängten Sanktionen. Kontrollen im Rahmen der Abfertigung erfolgen grundsätzlich risikoorientiert und anhand von Stichproben. Das bestimmt bereits der Unionszollkodex. Das Unionsrecht gibt zudem vor, dass dies in erster Linie auf der Grundlage einer Risikoanalyse mit Mitteln der elektronischen Datenverarbeitung zu erfolgen hat. Entsprechend hat Deutschland dies beim Risikomanagement so umgesetzt und im IT-Verfahren ATLAS hinterlegt. Das Verfahren, das dahintersteht, ist sehr komplex und darf natürlich nicht im Detail erläutert werden. Ohne eine elektronische Risikoanalyse wären die Vielzahl der zu beachtenden Verbote und Beschränkungen sowie die hohen Mengen an Zollanmeldungen auch kaum zu bewältigen. Im Jahr 2020 wurden allein bei der Einfuhr 79,8 Millionen und bei der Ausfuhr 165 Millionen Zollanmeldungen (Zolljahresstatistik 2020, herausgegeben von der Generalzolldirektion im April 2021) abgegeben. Die elektronische Risikoanalyse ist aus dem täglichen Abfertigungsgeschehen nicht mehr wegzudenken und damit ein wesentlicher Beitrag für die Prüfung zur Einhaltung der geltenden Sanktionen. Das elektronische Verfahren entbindet den Zoll jedoch nicht davon, auch manuelle Prüfungen durchzuführen. Wer den Zoll kennt, weiß, dass gerade die „alten Hasen“ eine Spürnase haben, die durch kein IT-Verfahren ersetzt werden kann. Aufgrund der hohen Sensibilität imWarenverkehr mit Russland und Belarus erfolgen Kontrollen derzeit grundsätzlich bei allen Abfertigungen im Zusammenhang mit diesen Ländern. ▶ Ohne elektronische Risikoanalyse wären die Vielzahl der zu beachtenden Verbote und Beschränkungen sowie die hohen Mengen an Zollanmeldungen kaum zu bewältigen. Diana Beisch ist Vorsitzende des Ständigen Fachausschusses Zölle und Steuern im BDZ – Deutsche Zoll- und Finanzgewerkschaft. © Privat FOKUS 17 dbb magazin | April 2022

Und wenn dann im System ein entsprechender Hinweis auf Beschränkungen erscheint – was ist zu tun? Die Zöllnerin oder der Zöllner prüft zunächst, ob tatsächlich rechtlich eine Sanktionsmaßnahme greift. Ist das der Fall, sind die entsprechenden Maßnahmen einzuleiten. Welche konkreten Maßnahmen dies sind, bestimmt die jeweils zuständige Behörde. Für die Sanktionsmaßnahmen gegen Russland und Belarus ist das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) zuständig. Der Zoll hält die Ware solange fest und stellt sicher, dass die Waren nicht entgegenstehender Ein- und Ausfuhrbeschränkungen verwendet werden. Was mit der Ware letztlich geschehen soll, entscheidet dann das BAFA. Über getroffene Maßnahmen wird der Wirtschaftsbeteiligte entsprechend informiert. Durch die Abkoppelung Russlands vom Zahlungsverkehr Swift wird der Warenverkehr mit Russland weitestgehend erschwert. Können die von Ein- und Ausfuhrbeschränkungen Betroffenen Widerspruch einlegen? Gegen die Beschränkung an sich kann kein Rechtsmittel eingelegt werden. Jedoch sind grundsätzlich Rechtsmittel gegen Einzelentscheidungen des BAFA möglich. Ich möchte jedoch anmerken, dass es auch im Interesse des jeweiligen Wirtschaftsbeteiligten liegen sollte, dass Ein- und Ausfuhrbeschränkungen eingehalten werden. Im Hamburger Hafen liegen Medienberichten zufolge derzeit mehrere Schiffe, die russischen Milliardären gehören sollen, die auf der EU-Sanktionsliste stehen. Wie sieht das Zollprozedere für solche Fallkonstellationen aus, was ist zu tun? Ich verstehe, dass das Interesse hieran groß ist. Allerdings bitte ich um Verständnis, dass ich mich hierzu zur Wahrung des Amts- und Steuergeheimnisses nicht äußern werde. Bedeuten die weitgehenden Sanktionen trotz der fast vollständigen Automatisierung über ATLAS einen Mehraufwand für die Zöllnerinnen und Zöllner? Im Prinzip ist die Überwachung von handelspolitischen Maßnahmen für den Zoll nichts Neues und gehört zum Tagesgeschäft. Der Zoll stellt damit einen wichtigen Baustein in der Sicherheitsarchitektur der Bundesrepublik Deutschland dar. Durch die neuen Sanktionen muss die im IT-Verfahren ATLAS hinterlegte Risikoanalyse jedoch fortlaufend geprüft und angepasst werden. Und das möglichst zeitnah! Dies bindet bei der Generalzolldirektion Ressourcen. Zum einen bei der zuständigen Stelle für die Risikoanalyse, der Direktion VIII – dem Zollkriminalamt, aber auch bei den jeweils fachlich zuarbeitenden Direktionen. Die aktuellen Sanktionsmaßnahmen tangieren auch den Bereich der Financial Intelligence Unit (FIU). Dort müssen VerdachtsmelIm Prinzip ist die Überwachung von handelspolitischen Maßnahmen für den Zoll nichts Neues und gehört zum Tagesgeschäft. Neben der elektronischen Risikoanalyse gibt es auch manuelle Prüfungen durch die Zollbeamtinnen und -beamten. Aufgrund der hohen Sensibilität imWarenverkehr mit Russland und Belarus erfolgen Kontrollen derzeit grundsätzlich bei allen Abfertigungen, die mit diesen Ländern in Zusammenhang stehen. © Zoll (5) 18 FOKUS dbb magazin | April 2022

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