Europäische Sicherheit nach dem 24. Februar 2022 Eine neue Stunde Null Zu gerne wurde im Angesicht der sicherheitspolitischen Schocks der vergangenen beiden Jahrzehnte – wie Georgien 2008, Syrien und Libyen 2011, Ukraine 2014 und zuletzt Afghanistan – von Weckrufen für Europa gesprochen und die Forderung nach Stärkung der sicherheits- und verteidigungspolitischen Handlungsfähigkeit Europas vorgetragen. Diese Weckrufe verblassen im Angesicht der russischen Aggression gegenüber der Ukraine, die nicht nur den Krieg zurück nach Europa gebracht hat, sondern gar die Grundlagen der regelbasierten internationalen Ordnung seit dem Zweiten Weltkrieg infrage stellt. Gerade Deutschland, das gerne seine „Kultur der militärischen Zurückhaltung“ herausstellte, ist mit dem russischen Angriffskrieg mit der neuen, aber mit Blick auf die Zeit von 1945 auch gleichzeitig überwunden geglaubten, traurigen Realität der internationalen Beziehungen in aller Härte konfrontiert worden: die Rückkehr militärischer Macht und Gewalt als Instrument zur Durchsetzung politischer Ziele. Diesem Trend müssen wir uns geschlossen entgegenstellen. Die harten Sanktionen der westlichen Staatengemeinschaft und die internationale Isolierung Russlands, nicht zuletzt durch das überwältigende Votum der Generalversammlung der Vereinten Nationen, sind hierfür zweifellos die richtigen Antworten. Gleichzeitig müssen wir uns aber auch auf mögliche weitere Eskalationen dieses Krieges wie auch anderer schwelender Konflikt vorbereiten. Vor allem ist hierbei an China zu denken, das – in gewisser Analogie zur Ukraine – beabsichtigt Taiwan heim ins Reich zu holen. Die nun von der rot-grün-gelben Bundesregierung vollzogene Kehrtwende in der Verteidigungspolitik ist gleichermaßen bemerkenswert wie notwendig. Das nun klare Bekenntnis zum Ziel der NATO, zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes für Verteidigung auszugeben, das bereits 2014 von der Allianz vereinbart wurde, ist begrüßenswert, ließ aber auch sehr lange auf sich warten. In dem ergänzenden Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr, das im Grundgesetz verankert werden soll, schwingt entsprechend die Erkenntnis der finanziellen Vernachlässigung der Bundeswehr indirekt mit. Die Verteidigung Deutschlands und des geeinten Europas sind nicht trennbar Hierbei muss man sich aber auch bewusst sein, dass sich damit nicht eine augenblickliche Steigerung der Einsatzfähigkeit der Bundeswehr oder gar Aufrüstung verbindet. Vielmehr wird es zunächst um Ausrüstung gehen müssen. So werden allein circa 20 Milliarden Euro erforderlich sein, um die Munitionsvorräte aufzufüllen. Zudem werden bestehende Fähigkeitslücken, insbesondere angesichts der schwerfälligen Beschaffungsprozesse, sich bestenfalls über die nächsten Jahre reduzieren lassen. Vor diesem Hintergrund und angesichts der Tatsache, dass die Verteidigung Deutschlands und unserer Werte und Interessen auch immer die Verteidigung unseres geeinten Europas bedeutet, muss sich der Blick nun auch stärker auf die europäische Ebene richten. Seit der ersten Aggression Russlands gegen die Ukraine, der illegalen Annektion der Krim und der seitdem fortgesetzten Destabilisierung der Ostukraine 2014, haben sich die Verteidigungsanstrengungen der EU-Mitgliedstaaten intensiviert und auch Fortschritte auf der europäischen Ebene erzielt. So arbeiten verschiedene Gruppen von Mitgliedstaaten im Rahmen der sogenannten Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit (PESCO) in mittlerweile über 40 Projekten zusammen, um die Verteidigungsfähigkeit der EU über alle militärischen Domänen – Land, Luft, See, Cyber- und Weltraum – zu stärken. Fähigkeitslücken sollen geschlossen, Zukunftstechnologien entwickelt werden Nach zwei erfolgreichen Vorläuferprogrammen begann im vergangenen Jahr auch die Arbeit des Europäischen Verteidigungsfonds (EDF), dessen erste Projektausschreibungen mit einem ... Michael Gahler ist Europaabgeordneter der CDU für Hessen und seit 1999 Mitglied des Europäischen Parlaments. Der gelernte Diplomat und studierte Rechtswissenschaftler ist Sprecher der EVP-Fraktion und engagiert sich unter anderem im Auswärtigen Ausschuss und im Unterausschuss für Sicherheit und Verteidigung. Der Autor ... © Europäisches Parlament 28 FOKUS dbb magazin | April 2022
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