Industrie-, Chemie- und Softwareunternehmen suchen händeringend nach Fachkräften. Was läuft da falsch? Werden Männer bei der Auswahl der Bewerber bevorzugt oder gehen die Unternehmen zu wenig auf die Bedürfnisse weiblicher Beschäftigter ein? Anica Kramer: Einige Studien bestätigen die Beobachtung, dass weniger Frauen nach dem Studium einen MINT-Beruf ergreifen als Männer. Was die Ursachen für die geringere MINT-Einstiegsquote bei Frauen sind, lässt sich anhand unserer Daten nicht erklären. Ein Grund könnte darin liegen, dass sich Frauen häufig gegen den Einstieg in einen MINT-Beruf entscheiden. Was die Ursachen sind, gilt es künftig zu erforschen. Sollten Jobsicherheit und gute Möglichkeiten zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie nicht genügend Argumente sein, um Naturwissenschaftlerinnen und Technikerinnen zu überzeugen: Was könnte der öffentliche Dienst tun, um „Arbeitgeber der ersten Wahl“ für MINT-Absolventinnen zu werden? Judith Hild: Um als Arbeitgeber für MINT-Absolventinnen attraktiv zu sein, gilt es, zwei Dimensionen zu beachten: Generell haben sich die Anforderungen an Unternehmen von Berufsanfänger*innen verändert. Absolvent*innen treten heute sehr viel selbstbewusster auf als vor zehn Jahren und haben klare Vorstellungen davon, was das Unternehmen bieten muss. Als erste Dimension sind allgemeine Wertvorstellungen zu berücksichtigen. Zum Beispiel spielen Beziehungen, Familie und Freunde heute als Wert für Berufseinsteiger*innen eine wichtige Rolle. Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist also ein gutes Argument, um sich allgemein als attraktiver Arbeitgeber zu positionieren. Anica Kramer: Als zweite Dimension kommen Erwartungen speziell von MINT-Absolventinnen hinzu: Es gibt Hinweise darauf, dass Frauen sich von einer männlich geprägten Unternehmenskultur abschrecken lassen. Auch weibliche Vorbilder am Arbeitsplatz sind wichtig. Es muss intern geprüft werden, ob Männer und Frauen nicht nur beim Gehalt, sondern auch in puncto Karriereperspektiven, also Aufstiegsmöglichkeiten und in der innerbetrieblichen Hierarchie, gleichbehandelt werden. Doch zurück zum Berufsanfang: Was muss im Bildungsbereich passieren, damit Mädchen und junge Frauen sogenannte „Männerberufe“ kennen- und lieben lernen? Anica Kramer: Mädchen trauen sich in Mathematik und damit auch MINT-Fächern eher weniger zu. Studien haben gezeigt, dass Mädchen bei gleicher Mathematikleistung ihre Begabungen schlechter einschätzen als Jungen – das hat natürlich Einfluss auf Bildungsentscheidungen und damit später auch auf die Berufswahl. Hier sind Lehrer und Lehrerinnen gefragt – sie müssen dafür sorgen, dass sich die Zuschreibung von Begabungen nicht an traditionellen Vorstellungen orientiert. Über den gesamten Bildungsverlauf müssen Mädchen also dazu motiviert werden, ihre Präferenzen nicht nach Geschlechterrollenstereotypen zu wählen, sondern nach der tatsächlichen Kompetenz. Ist eine Initiative wie der Girls’Day hierbei hilfreich oder schon nicht mehr zeitgemäß? Judith Hild: Generell ist es wichtig, dass solche Initiativen wissenschaftlich begleitet werden, um zu erfahren, wie sie wirken. Der Girls’Day setzt eher spät im schulischen Lebenslauf an, geschlechterspezifische Stereotype bilden sich allerdings schon früh im Leben aus. Das muss bei der Entwicklung von künftigen Initiativen unbedingt berücksichtigt werden. Anica Kramer: Beim Girls’Day geht es auch um das Kennenlernen von Berufsbildern und weiblichen Rollenvorbildern. Dies sind wichtige Aspekte, umMädchen die ganze Palette an beruflichen Möglichkeiten aufzuzeigen. Gibt es Hinweise, welchen Einfluss Rollenvorbilder auf die (berufliche) Orientierung ausüben und wenn ja, woher kommen die erfolgreichsten „Role Models“: aus den Familien, Bildungseinrichtungen oder Influencer*innen-Kreisen? Anica Kramer: Eine aktive Unterstützung von Lehrkräften und Bezugspersonen vor und während der Schulzeit ist wichtig, um das Selbstbild und die Motivation eines Kindes für Mathematik und Technik zu stärken. Eine Studie in den USA hat gezeigt, dass Mädchen, die von Lehrerinnen und Lehrern unterrichtet wurden, die Vorbehalte gegenüber der Mathematikfähigkeiten von Mädchen hatten, später seltener MINT-Fächer studierten und in MINT-Berufen arbeiteten. Judith Hild: Neben den Lehrerinnen und Lehrern haben auch die Eltern Einfluss auf MINT-Bildungsentscheidungen. Wenn ein Elternteil in einemMINT-Beruf beschäftigt ist, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind MINT-Fächer studiert und dort arbeitet – das gilt besonders für Mädchen. Außerdem haben auch geschlechtsspezifische Stereotypvorstellungen von Eltern einen Einfluss auf die Einstellung ihrer Kinder zu Mathematik. Eltern sowie Lehrerinnen und Lehrer können schlussendlich nur dann etwas bewirken oder Vorbild sein, wenn sie tatsächlich von den Potenzialen und beruflichen Möglichkeiten von Mädchen überzeugt sind. Eine gesellschaftliche Entstereotypisierung von Fähigkeitszuschreibungen und Berufsbildern könnte dazu beitragen. Es ist denkbar, dass die dafür entscheidenden Botschaften auf lange Sicht auch über soziale Medien transportiert werden könnten. Die Fragen stellte Birgit Strahlendorff. Anica Kramer ist seit Oktober 2020 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsbereich „Bildung, Qualifizierung und Erwerbsverläufe“ am IAB. Zudem ist sie als Post-Doktorandin an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg tätig. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der empirischen Arbeitsmarktforschung und dabei insbesondere auf der Migrations- und Bildungsökonomik. Judith Hild war als wissenschaftliche Hilfskraft am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung angestellt. In ihrer Abschlussarbeit untersuchte sie die Effekte einer Mathematikreform auf die geschlechtsspezifischen Unterschiede bei MINT-Studien- und -Berufswahl. Nach Abschluss des Studiums wechselte sie in das Gesundheitswesen und arbeitet nun mit Daten der Gesundheitsversorgung. Die Studie: https://t1p.de/IAB Die Forscherinnen INTERN 31 dbb magazin | Mai 2022
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