holdern ausgehandelt. Entsprechend gering war die Motivation der Mitgliedstaaten, die geforderten Reformen umzusetzen. Wieso wird das Semester mit den EU-Mitteln verbunden, die den Mitgliedstaaten zur Bewältigung der wirtschaftlichen und sozialen Coronafolgen als Darlehen und Zuschüsse zur Verfügung stehen? Das Europäische Semester ist mit all seinen Schwächen ein etablierter Mechanismus. Da es bei den Coronahilfen vor allem auch auf die zeitnahe Verteilung und Umsetzung ankommt, ist eine Verknüpfung mit dem Semester und dessen etablierten Strukturen naheliegend. Allerdings ist die Verausgabung der Mittel auch an weitere Kriterien gebunden. Dadurch will man sicherstellen, dass die Gelder in zukunftsorientierte Projekte fließen, die den Europäischen Zielen wie der digitalen und klimaneutralen Transformation zugutekommen. Die Verbindung der EU-Mittel an das Europäische Semester war zwischen den politischen Fraktionen durchaus umstritten. Dies lag hauptsächlich an der Unzufriedenheit der progressiveren Kräfte gegenüber den von der Kommission ausgesprochenen Politikempfehlungen, die häufig einer neoliberalen Wirtschaftsauffassung folgten. So wurde in der Vergangenheit seitens der Kommission eine Kürzung öffentlicher Ausgaben verlangt, noch bevor die Wirtschaft in besonders von der Krise 2008/09 betroffenen Mitgliedstaaten wieder richtig Fahrt aufgenommen hatte. In vielen EU-Mitgliedstaaten wurde so eine Senkung der Personalausgaben im öffentlichen Dienst und ein Abbau der Sozialsysteme erzwungen. In der Coronakrise sind die Konsequenzen dieser Politik insbesondere im Gesundheitswesen schmerzhaft deutlich geworden. Werden die länderspezifischen Empfehlungen durch die Verbindung mit NextGenerationEU verbindlicher? Die nationalen Wiederaufbaupläne wurden zwar an die länderspezifischen Empfehlungen von 2019/20 angelehnt, folgen aber vor allem den von dem Rat und Europäischen Parlament gemeinsam beschlossenen Schwerpunkten des Wiederaufbaufonds. Die Mitgliedstaaten mussten innerhalb der beschlossen Kriterien (zum Beispiel 37 Prozent für den Klimaschutz und 20 Prozent für digitale Ausgaben) selber aktiv werden, um passende Projekte, Reformen und Investitionen vorzulegen und diese in enger Abstimmung mit der Kommission auszuhandeln. Die Mitgliedstaaten waren viel intensiver in den Prozess eingebunden und mussten eigeninitiativ tätig werden, was ebenfalls eine andere Dimension der Verbindlichkeit herstellt. Aus meiner Sicht ist dies ein gelungenes Modell für die Zukunft: demokratisch festgelegte Leitlinien auf EU-Ebene und Einbindung der Mitgliedstaaten in die Ausarbeitung der länderspezifischen Reformen. Welche Bedeutung haben das Europäische Semester und NextGenerationEU für den öffentlichen Dienst und die Verwaltung? Der öffentliche Dienst und die Verwaltung sind von dem EU-Semester, beziehungsweise NextGenerationEU, direkt betroffen, da ihnen die Aufgabe zukommt, entsprechende Reformen und Projekte auf nationaler und regionaler Ebene zu betreuen und umzusetzen. Deutschland besteht darauf, dass NextGenerationEU einmalig bleibt und nicht der Einstieg in eine gemeinsame Schuldnerhaftung. Was sagen Sie dazu? Es hat sich gezeigt, wie wichtig und effektiv ein solcher Mechanismus wie NextGenerationEU ist, um die wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen einer solchen Krise abzufedern und die Mitgliedstaaten auf den Finanzmärkten zu stabilisieren. Das gemeinsame europäische Krisenpaket ist ein deutliches Zeichen, dass wir aus den Fehlern der vorherigen Krise gelernt haben. Ich halte eine dauerhafte fiskalische Kapazität für wünschenswert, um einerseits große externe Schocks zu bewältigen und andererseits die dringend notwendigen öffentlichen Investitionen wie zur Bewältigung des Klimawandels zu steigern. Die Kapazität könnte letztlich die Form eines größeren EU-Haushalts annehmen, der aus eigenen Steuermitteln finanziert wird, eine sinnvolle Größe hat, die Fähigkeit besitzt, im Falle großer Schocks Kredite aufzunehmen, und sich auf die Investitionsprioritäten der EU konzentriert. Ich sehe dadurch keinen Konflikt mit den europäischen Verträgen. ■ Das vollständige Interview in den dbb Europathemen 3/2022: https://t1p.de/0g5km Webtipp Ich halte eine dauerhafte fiskalische Kapazität für wünschenswert, um einerseits große externe Schocks zu bewältigen und andererseits die dringend notwendigen öffentlichen Investitionen zu steigern. Im Rahmen des 2010 vom Europäischen Rat beschlossenen Europäischen Semesters werden den EU-Mitgliedstaaten seit 2011 jährlich im Vorfeld ihrer nationalen Haushaltsverfahren politische Leitlinien und Empfehlungen übermittelt, um die europäische Wirtschaftspolitik besser zu koordinieren und die Wettbewerbsfähigkeit der EU zu stärken. NextGenerationEU (NGEU) ist ein zeitlich befristetes Konjunkturpaket der EU, das 2020 im Zuge der COVID-19-Pandemie verabschiedet wurde. Der Fonds hat einen Umfang von 750 Milliarden Euro, die über gemeinsame europäische Anleihen am Kapitalmarkt aufgenommen wurden, aber durch Garantien der Mitgliedstaaten abgesichert werden. Europäisches Semester und NextGenerationEU Foto: ifeelstock/Colourbox.de FOKUS 25 dbb magazin | Juni 2022
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