dbb magazin Tatort Staatsdienst | Schutzengel im Dauerstress Gewalt gegen Beschäftigte | Handlungsoptionen für mehr Schutz dbb forum ÖFFENTLICHER DIENST | Europa und das Beamtenrecht 7/8 | 2022 Zeitschrift für den öffentlichen Dienst
STARTER Gewaltattacken nicht ad acta legen! Dass Beschäftigte im öffentlichen Dienst zunehmend Gewalt ausgesetzt sind, ist inzwischen keine Neuigkeit mehr. Wohl aber, dass die Dunkelziffer derjenigen, die attackiert wurden, sich aber nicht gemeldet haben, inzwischen bei 70 Prozent liegt. Und dies nicht allein aus Scham. Grund genug für den dbb Vorsitzenden Ulrich Silberbach, von einem „Skandal“ zu sprechen, weil sehr oft die Unterstützung für Betroffene fehle oder Justizbehörden Anzeigen nicht ernst nähmen. Dies und vieles andere geht aus einer Studie hervor, die vom Bundesinnenministerium in Auftrag gegeben und von dbb und DGB mitgetragen wurde. Und diese Untersuchung kann sehr wohl als repräsentativ eingestuft werden, schließlich hatte man etwa 10000 Beschäftigte und mehr als 1600 Behörden befragt. Falk Schnabel, Kölner Polizeipräsident, kennt die Problematik schon aus seiner Zeit als ehemaliger Leitender Oberstaatsanwalt und weist Mutmaßungen zurück, Gewalt würde hauptsächlich von Menschen mit Migrationshintergrund verübt. Und er nennt Beispiele, wie Betroffene besser geschützt und vor allem ernst genommen werden. Beides ist wichtig, geben doch vor allem im Außendienst Beschäftigte zu Protokoll, dass sie wegen der vielen schönen Momente ihren Job sehr gerne ausüben würden. Die Wertschätzung ihrer täglichen Arbeit darf nicht durch Ignoranz torpediert werden. red 12 28 TOPTHEMA Gewalt gegen Beschäftigte im öffentlichen Dienst 32 AKTUELL NACHRICHTEN 4 DBB FORUM ÖFFENTLICHER DIENST Beamte und Europa: Europarecht und Berufsbeamtentum sind kein Widerspruch 8 FOKUS ZOOM Ausgewählte Informationen zur Studie Gewalt gegen Beschäftigte 12 FACHTAGUNG Handlungsoptionen für mehr Schutz 14 REPORTAGE Tatort Staatsdienst 18 NACHGEFRAGT Falk Schnabel, Polizeipräsident von Köln: Wir müssen uns fragen, was da schief- gegangen ist 23 INTERN MITBESTIMMUNG Betriebsverfassungsrecht: Arbeitsbefreiung für die Betriebsratsarbeit 25 Personalvertretungen: Erleichterungen bei Freistellung und Kostenerstattung für Personalratsschulungen 26 FRAUEN Frauenpolitische Fachtagung 2022: Geschlechtergerechte Arbeitswelt als Chance und Risiko 28 JUNGE BESCHÄFTIGTE Die dbb Bundesjugendleitung hat einen Plan für ihre Amtszeit 32 Nachgefragt beim dbbj-Spitzenteam 33 SENIOREN 9. Altersbericht der Bundesregierung: Teilhabe braucht politisches Fundament 35 Zehn Jahre Deutscher Diversity-Tag: Vielfalt als größtes Potenzial 37 SERVICE DBB AKADEMIE Zertifikatskurs Management 2022/2023 erstmals in Berlin 38 Impressum 41 KOMPAKT GEWERKSCHAFTEN 42 8 © Colourbox.de Foto: Colourbox.de AKTUELL 3 dbb magazin | Juli/August 2022
NACHRICHTEN dbb Chef Ulrich Silberbach (vorne links) vor Beginn der Sitzung zur „Konzertierten Aktion“ der Sozialpartner im Bankettsaal des Bundeskanzleramtes in Berlin Konzertierte Aktion der Sozialpartner Abschied nehmen vom Gießkannenprinzip dbb Chef Ulrich Silberbach nahm am 4. Juli 2022 am ersten Treffen der Sozialpartner teil, zu dem Bundeskanzler Olaf Scholz unter der Überschrift „Konzertierte Aktion“ ins Kanzleramt eingeladen hatte. Der dbb begrüßt die Initiative grundsätzlich und wird seine Expertise einbringen. Im Vorfeld des Treffens erklärte Silberbach: „Vor einer konzertierten Aktion ist ein konzentrierter Austausch notwendig – unter anderem eine kritische Betrachtung der bisherigen Schritte zur Entlastung der Bürgerinnen und Bürger. Die vorhandenen Mittel dürfen nicht mit der Gießkanne verteilt werden. Außerdem muss die Umsetzung bei weiteren Maßnahmen immer mitgedacht werden. Der öffentliche Dienst ist ohnehin in praktisch allen Bereichen an der Belastungsgrenze, da sind Schnellschüsse eher kontraproduktiv. Gerade temporäre Einzelmaßnahmen verursachen nun mal in der Regel einen unverhältnismäßig hohen Verwaltungsaufwand.“ Unabhängig von der konkreten Umsetzung seien weitere staatliche Hilfen für die Bevölkerung aber sehr wahrscheinlich notwendig, erklärte Silberbach: „Um die Folgen der Preissteigerungen für die Beschäftigten abzumildern, brauchen wir eine adäquate Lohnpolitik mit entsprechenden Einkommenszuwächsen. Hier vertraue ich auf unsere gelebte Sozialpartnerschaft zwischen Arbeitgebenden und Gewerkschaften, die sich gerade in der Krise immer wieder als stabilisierend für das Land erwiesen hat. Die derzeitige Dynamik der Inflation werden wir damit alleine aber nicht ausgleichen können. Deshalb ist es gut, wenn wir nun gemeinsammit der Bundesregierung weitere Möglichkeiten ausloten.“ ■ Gespräch mit dem Bundestagsinnenausschuss Mehr Krisenfestigkeit und sichere Digitalisierung In einem Gespräch mit dem Innenausschuss des Bundestags forderte dbb Chef Ulrich Silberbach wirksame Maßnahmen gegen das sinkende Vertrauen in die Leistungsfähigkeit des Staates. „Die aktuellen politischen Herausforderungen für Deutschland sind geprägt durch einschneidende Krisenentwicklungen sowie die Auswirkungen der Coronapandemie. Gleichzeitig ist das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in den Staat in den letzten Jahren nachweislich gesunken“, erklärte der dbb Bundesvorsitzende bei einem Treffen mit dem Innenausschuss des Bundestags am 1. Juni 2022 in Berlin. „Dieser Entwicklung muss nachhaltig entgegengewirkt werden. Krisenfestigkeit muss mehr in den Fokus des Staates rücken.“ Dabei seien nicht nur gesellschaftliche Spaltung und der anhaltende Ukraine-Krieg sicherheitspolitische Herausforderungen. Durch die fortschreitende Digitalisierung steige auch die Notwendigkeit für einen verbesserten Schutz vor Cyberangriffen. Die sichere Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung ginge Hand in Hand mit den Maßnahmen gegen den demografischen Wandel, ergänzte der dbb Chef: „Um ein attraktiver Arbeitgeber und Dienstherr für qualifizierten Nachwuchs zu sein, muss auch die digitale Funktionsfähigkeit des Staates gesichert sein. Nur so können wir den Nachwuchs auch nachhaltig binden.“ Weitere Themen des Austausches, an dem auch der Zweite Vorsitzende und Beamtenvorstand Friedhelm Schäfer teilnahm, waren die Umsetzung der Rechtsprechung zur Alimentation, die Wochenarbeitszeit der Bundesbeamten sowie die Ruhegehaltfähigkeit der Polizeizulage. © Marco Urban 4 AKTUELL dbb magazin | Juli/August 2022
Neue Studie zu Gewalt BMI und Gewerkschaften wollen mehr Sicherheit Anlässlich der Veröffentlichung der neuen Studie zu Gewalt gegen Beschäftigte des öffentlichen Dienstes besuchten dbb Chef Ulrich Silberbach und Bundesinnenministerin Nancy Faeser am 24. Juni 2022 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ordnungsamtes in Berlin-Mitte. Bundesinnenministerin Nancy Faeser kommentierte die Studienergebnisse: „Mein Austausch mit von Gewalt Betroffenen hat meine Entschlossenheit nur noch verstärkt: Wir müssen mehr tun, um die Menschen zu schützen, die unser Land jeden Tag am Laufen halten – ob auf dem Amt oder als Retter in der Not. Das gebietet die Fürsorgepflicht für die Beschäftigten. Und das ist eine Frage des Schutzes unserer Demokratie vor Verrohung, Hass und Gewalt. Wichtig ist, jeden Übergriff ernst zu nehmen, zu melden und zur Anzeige zu bringen. Hier darf es keine falsche Scham und keine Hürden geben. Die Täter müssen hart verfolgt werden – und die Betroffenen brauchen Unterstützung. Wir werden uns mit den Gewerkschaften gemeinsam für eine bessere Gewaltprävention und einen besseren Schutz der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einsetzen.“ dbb Chef Ulrich Silberbach betonte: „Die Daten bestätigen unsere langjährigen Forderungen nach einer systematischen Erfassung der Angriffe auf die Beschäftigten und der Methoden der Prävention, Reaktion und Nachsorge. Es muss aufhören, dass die Ahndung der Fälle weitgehend volatilen Bewältigungsmustern vor Ort folgt. Neben dem breiten Konsens, dass eine Attacke auf Repräsentantinnen und Repräsentanten des Staats ein Angriff auf unsere demokratischen Institutionen und Werte und damit auf uns alle ist, brauchen wir bundesweit umfängliche einheitliche Handlungsempfehlungen, um die Kolleginnen und Kollegen nachhaltig zu schützen. Und ihnen in dem Fall, der dann trotz bestmöglicher Prävention doch eintritt, konsequent und sofort zur Seite zu stehen.“ Die belegte hohe Dunkelziffer müsse alle alarmieren, so Silberbach weiter. „Es kann nicht angehen, dass attackierte Beschäftigte Vorfälle nicht anzeigen, weil sie sich von ihren Vorgesetzten ohnehin keine Unterstützung versprechen. Wenn der Stellenwert des Themas Gewalt gegen Bedienstete mit jeder Hierarchieebene abnimmt, ist das schlicht ein Skandal. Auch da müssen wir ran – mit entsprechenden Fortbildungen und der Entwicklung von Leitfäden. Auch die Erkenntnis, dass Gefährdungsbeurteilungen einen vergleichsweise niedrigen Verbreitungsgrad besitzen, obwohl die Behörden zu ihrer Durchführung und Umsetzung der Ergebnisse gesetzlich verpflichtet sind, muss dringend aufgearbeitet werden“, forderte der dbb Chef. ■ Bundesinnenministerin Nancy Faeser und dbb Chef Ulrich Silberbach sprachen im Ordnungsamt von Berlin-Mitte mit Beschäftigten über ihre Gewalterfahrungen. Die von dbb und DGB mitgetragene Studie wurde 2020 vom Bundesinnenministerium beim Deutschen Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung (FÖV) in Speyer in Auftrag gegeben. Sie trägt erstmals vorhandenes Datenmaterial zusammen und ist in diesem Umfang einmalig. Insgesamt wurden über 10000 Beschäftigte und mehr als 1600 Behörden (exklusive Polizei) befragt. Weitere Berichte zum Thema in dieser Ausgabe. Die neue Studie © Christian Thiel AKTUELL 5 dbb magazin | Juli/August 2022
dbb Bundeshauptvorstand Personalgewinnung und Digitalisierung im Fokus Der dbb Bundesvorsitzende Ulrich Silberbach und Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther warben am 13. Juni 2022 in Kiel auf der Sitzung des dbb Bundeshauptvorstandes für einen starken öffentlichen Dienst. Zum Auftakt der zweitägigen Sitzung des dbb Bundeshauptvorstandes würdigte Ministerpräsident Daniel Günther die Arbeit der Beschäftigten in der Daseinvorsorge: „Wir wissen sehr genau, wie leistungsfähig der öffentliche Dienst in den vergangenen Krisenjahren war. Viele haben mitgeholfen, viele haben enormen Druck auszuhalten gehabt und viele sind dabei an ihre Grenzen und sogar darüber hinaus gegangen. Dafür gilt ihnen der ausdrückliche Dank der Landesregierung!“ Die vielleicht zentrale Herausforderung der nächsten Jahre werde die Personalgewinnung sein, so Günther weiter: „Die demografische Entwicklung und der sich zuspitzende Fachkräftemangel werfen eine entscheidende Frage auf: Finden wir überhaupt noch ausreichend Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die die vielen staatlichen Aufgaben erfüllen können? Die Bewerberlage hat sich jedenfalls in allen Bereichen deutlich verschlechtert.“ Diese Analyse teilte auch dbb Chef Ulrich Silberbach: „Wer einen leistungsfähigen öffentlichen Dienst will, muss auch eine leistungsfördernde Bezahlung und attraktive Arbeitsbedingungen sicherstellen.“ Hinsichtlich der aktuell diskutierten Maßnahmen der Landespolitik betonte er jedoch: „Das diskutierte ‚Partnereinkommen‘ für Beamtinnen und Beamte hilft nicht. Auch die Entscheidung, bestimmte Entlastungen und Einkommensbestandteile nur für aktive Beschäftigte vorzusehen, sorgt für berechtigte Unzufriedenheit. Für Pensionärinnen und Pensionäre sowie Rentnerinnen und Rentner haben sich die Lebenshaltungskosten genauso erhöht.“ Mit Blick auf die Digitalisierung der Verwaltung betonte Silberbach, dass diese unbedingt flächendeckend umgesetzt werden müsse. So funktioniere beispielsweise das Onlinezugangsgesetz (OZG) auf der Bundesebene möglicherweise gut, die Kommunen hingegen bräuchten noch viel organisatorische und finanzielle Unterstützung vom Bund und den Bundesländern. Silberbach: „Wenn klar ist, dass es bei der Digitalisierung nicht nur um einen Vorwand für Arbeitsplatzabbau geht, sondern um echte Modernisierung und Bürokratieabbau, dann kämpfen wir hier gerne an Ihrer Seite.“ Am 14. Juni 2022 verabschiedete der Bundeshauptvorstand, nach dem alle fünf Jahre stattfindenden dbb Gewerkschaftstag, das höchste Beschlussgremium des Dachverbandes, neben einer Vielzahl branchen- und berufsspezifischer Leitanträge zwei allgemeinpolitische Leitanträge: „Ein starker öffentlicher Dienst ist das Rückgrat des Staates!“ sowie zum „Klimawandel“. ■ Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther: „Viele haben enormen Druck auszuhalten.“ © Astrid Neumann 6 AKTUELL dbb magazin | Juli/August 2022
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Tarifeinheitsgesetz bleibt Fall für die Gerichte Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat am 5. Juli 2022 seine Entscheidung zu Individualbeschwerden des dbb und weiterer Gewerkschaften gegen das Tarifeinheitsgesetz (TEG) veröffentlicht. Demnach liegt kein Verstoß gegen die Grundrechte auf Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit aus der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) vor. Aus Sicht des dbb wird das TEG aber weiter für Unfrieden sorgen. Wir hätten uns eine klare Bestätigung unserer Rechtsauffassung gewünscht, denn das TEG ist unbestreitbar ein unverhältnismäßiger Eingriff in das Grundrecht auf die Koalitionsfreiheit einzelner Beschäftigter und in die Tarifautonomie“, sagte der dbb Bundesvorsitzende Ulrich Silberbach in einer ersten Reaktion auf die Entscheidung des EGMR. „Zudem sind die auch vom Bundesverfassungsgericht erkannten Schwierigkeiten der Ermittlung, wer wo die meisten Mitglieder hat, bis zum heutigen Tag nicht geklärt“, kritisierte Silberbach. „Die Gewerkschaften werden in Anbetracht der Rechtslage ihr Werben umMitglieder massiv verstärken und ausweiten. Das TEG sorgt in der Tariflandschaft also weiter für Unfrieden, Chaos und Ungerechtigkeit und bleibt ein Fall für die Gerichte. Das ist das Gegenteil von all dem, was der Gesetzgeber mit dieser überflüssigen Normierung der bislang funktionierenden Sozialpartnerschaft erreichen wollte. Vor diesem Hintergrund wäre es verantwortungsvoll, die Fehlentscheidung zu diesem Gesetz zu revidieren und es vernünftigerweise dorthin zu befördern, wo es hingehört: in den Papierkorb.“ Silberbach hob hervor, dass die Entscheidung des EGMR nicht einstimmig war und zwei Richter in einer gesonderten Stellungnahme ausführlich erläuterten, dass mit dem TEG durchaus unverhältnismäßig in Grundrechte Arbeitnehmender eingegriffen werde. „Wie die Sondervoten zweier Richter imUrteil des Bundesverfassungsgerichts, zeigt die Straßburger Stellungnahme, dass unsere Rechtsauffassung auch höchstrichterlich geteilt wird“, so Silberbach. Hintergrund Im Dezember 2017 hatte der dbb gegen das ursprüngliche Tarifeinheitsgesetz Beschwerde vor dem Straßburger Gerichtshof erhoben. Durch den Urteilsspruch des BVerfG am 11. Juli 2017 stand der Weg zum EGMR (Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte) offen. Die Individualbeschwerde richtet sich, wie auch zuvor die erste Verfassungsbeschwerde im Jahr 2015, gegen das im Juli 2015 in Kraft getretene Tarifeinheitsgesetz vom 3. Juli 2015. Nicht nur der dbb hatte diesen Rechtsweg beschritten, auch die im dbb organisierte Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) und der Marburger Bund hatten Beschwerden gegen das TEG in Straßburg eingereicht. ■ „Der öffentliche Dienst muss Krisenmanager sein, nicht Krisenherd“, forderte der dbb Bundesvorsitzende Ulrich Silberbach anlässlich des „Zukunftskongress Staat & Verwaltung“ am 21. Juni 2022 in Berlin. „Egal wohin wir schauen – Personal, Ausstattung, Digitalisierung, Arbeitsprozesse: Es knirscht an allen Ecken und Enden und das seit Jahrzehnten“, kritisierte der dbb Chef. „Die Beschäftigten tun, was sie kön- nen, aber zaubern können auch sie nicht“, betonte Silberbach. „Deswegen brauchen wir jetzt umgehend einen Modernisierungs- und Investitionsschub, ein großer Teil davon muss im Feld Digitalisierung erfolgen.“ Der Vermutung, dass das Beamtenrecht in Deutschland ein Hemmschuh bei der Gewinnung insbesondere von IT-Fachkräften für den öffentlichen Dienst sein könnte, erteilte Friedhelm Schäfer, dbb Vize und Fachvorstand Beamtenpolitik, anlässlich des Zukunftskongresses eine klare Absage. „Mit der Schaffung geeigneter Laufbahnen wurden ausreichende Möglichkeiten geschaffen, IT-Fachkräfte in den attraktiven Beamtenstatus aufzunehmen.“ Zukunftskongress Der „Zukunftskongress Staat & Verwaltung“ ist eine jährlich stattfindende Leitveranstaltung des Public Sectors für Digitalen Wandel. Vom 20. bis 22. Juni 2022 diskutierten Expertinnen und Experten die Herausforderungen, die Politik mit Blick auf Digitalisierung und Verwaltung künftig lösen muss. Zukunftskongress: öffentlicher Dienst als Krisenmanager Foto: Proxima Studio/Colourbox.de AKTUELL 7 dbb magazin | Juli/August 2022
DBB FORUM ÖFFENTLICHER DIENST Beamte und Europa Europarecht und Berufsbeamtentum sind kein Widerspruch Die Europäische Union hat keine unmittelbare Regelungskompetenz in Bezug auf das verfassungsrechtlich verankerte deutsche Beamtenrecht. Dennoch beeinflusst das Unionsrecht das Beamtenrecht in erheblichemMaße, beispielsweise durch die europarechtlichen Vorgaben für Beschäftigungsverhältnisse. Das 8. dbb forum ÖFFENTLICHER DIENST rückte die europarechtlichen Einflüsse auf das Beamtenrecht am 27. Juni 2022 in den Blickpunkt. Deutschlands nationales Dienstrecht und sein Berufsbeamtentum stärken Europa und tragen zu dessen Diversität bei, stellte dbb Chef Ulrich Silberbach zum Auftakt des Forums heraus. „Es ist kein Widerspruch, dass sich der dbb zu einem geeinten und vereinten Europa bekennt und gleichzeitig unser nationales öffentliches Dienstrecht hochhält. Beides, das Berufsbeamtentum und die europäische Staatszielbestimmung, sind in unserem Grundgesetz fest verankert", so Silberbach. Silberbach: Normenkollisionen vermeiden Als gewerkschaftliche Spitzenorganisation im öffentlichen Dienst gehöre es zudem zum Selbstverständnis des dbb, das Dienstrecht im Dialog mit Politik und Dienstgebenden in guter Sozialpartnerschaft verantwortungsbewusst weiterzuentwickeln. „Die Herausforderung ist dabei, die europäische Rechtsetzung und öffentliches Dienstrecht noch besser zu vereinbaren. Wir wollen, dass Ausnahmeregelungen, die zur Funktionsfähigkeit des öffentlichen Dienstrechts hier und da gebraucht werden, auch in Zukunft erhalten bleiben", erklärte der dbb Chef. „Ein Streikrecht für alle Beschäftigten des öffentlichen Dienstes, wie es das Europäische Recht vorsieht, ist mit dem deutschen Berufsbeamtentum unvereinbar“, betonte der dbb Chef. Pechstein: Europa rüttelt am Streikverbot Prof. Dr. Matthias Pechstein ist Inhaber des Jean Monet Lehrstuhls für Öffentliches Recht mit Schwerpunkt Europarecht an der EuropaUniversität Viadrina in Frankfurt an der Oder, übt die Schriftleitung bei der Zeitschrift für Beamtenrecht aus und berät und unterstützt den dbb seit Jahren als Experte. In seinem Impulsvortrag ging er auf das Streikverbot für Beamte im europäischen Kontext ein. Pechstein betonte, dass die Versuche zur Etablierung eines Streikrechts auch für Berufsbeamte zunächst mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Juni 2018 ihren Abschluss gefunden zu haben schienen. Das Verfassungsgericht habe die grundlegende Bedeutung des Streikverbots für Beamte als ein zentrales Strukturelement des deutschen Berufsbeamtentums herausgearbeitet. Die Einräumung eines Streikrechts für Beamte führe dazu, dass man das Beamtentum in seiner bisherigen Form aufgeben müsse. „Nun haben die Beschwerdeführer allerdings den Weg zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eingeschlagen und Individualbeschwerde gegen das Urteil des Verfassungsgerichts eingelegt“, erläuterte Pechstein. Grundlage sei, dass der „Ein Streikrecht für alle Beschäftigten des öffentlichen Dienstes, wie es das Europäische Recht vorsieht, ist mit dem deutschen Berufsbeamtentum unvereinbar.“ Ulrich Silberbach „Damit man jetzt nicht in die nächsten Fälle hineinläuft, sollten die betroffenen Sparten ihre Rechtsordnung mit dem Urteil in Einklang bringen.“ Prof. Dr. Matthias Pechstein © Jan Brenner (5) 8 AKTUELL dbb magazin | Juli/August 2022
EGMR seit geraumer Zeit eine Rechtsprechung entwickelt habe, nach der Beamte ein Streikrecht nach Art. 11 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) haben. Da es sich um Fälle in der Türkei handelte, galt hier türkisches Recht. Inwieweit dieses Streikrecht der Konvention auch für Beamte nach deutschem Recht gelte, sei bislang offen. Das Verfahren laufe seit zweieinhalb Jahren, und das Urteil stehe noch aus. Jedoch habe das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom Juni 2018 ausgeführt, dass selbst ein stattgebendes Urteil des EGMR auf verfassungsrechtliche Hindernisse in der Umsetzung stoßen würde. Außerdem habe das Gericht bereits früher deutlich gemacht, dass nicht jedes Urteil des EGMR eins zu eins in der deutschen Rechtsordnung umgesetzt werden könne und müsse, so Pechstein. Bergmann: Europas starke Einflussnahme „Das Beamtenrecht unterliegt inzwischen mannigfachen Einflüssen. Europarechtliche Themen landen fast täglich auf meinem Tisch“, leitete Prof. Dr. Jan Bergmann, Vorsitzender des Dienstrechtssenats am Verwaltungsgerichtshof (VGH) Baden-Württemberg und Honorarprofessor für Europarecht an der Universität Stuttgart, seinen Impulsvortag ein. „Das Grundgesetz mit seiner Garantie der althergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums ist nur noch teilweise Maßstab unserer Rechtsprechung. Das Europäische Recht steht darüber.“ Wie stark diese Einflussnahme ist, machte der aus dem VGH in Mannheim online zugeschaltete Verwaltungsrichter an einer Reihe unterhaltsam vorgetragener Beispiele deutlich. So schilderte Bergmann unter anderem das Verfahren und die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) aus dem Jahre 2000, durch die eine Frau aufgrund der europäischen Gleichbehandlungsrichtlinie für Frauen das Recht erstritten hatte, als Soldatin bei der Bundeswehr Dienst an der Waffe zu leisten. Auch erinnerte er an die Änderung der Besoldungspraxis mit der Ablösung der Altersbesoldung hin zur Erfahrungsbesoldung auf Basis der europäischen Gleichbehandlungsrichtlinie oder die aufgrund der Arbeitsschutzrahmenrichtlinie 2021 ergangene und ins deutsche Recht übertragene Rechtsprechung zur Bereitschaftsruhezeit, die ihm als Verwaltungsrichter eine Menge Klagen von Feuerwehrleuten und Polizisten beschert habe. „Hier hat der EuGH deutliche Pflöcke eingeschlagen“, so ein Fazit von Bergmanns Impulsvortrag. Schäfer: rote Linie Streikverbot In der Diskussion der Impulsvorträge bezeichnete dbb Vize und Fachvorstand Beamtenpolitik Friedhelm Schäfer das beamtenrechtliche Streikverbot als „rote Linie“ für eine rechtliche Einflussnahme durch die europäische Ebene. Man blicke deshalb mit Spannung auf die Entscheidung des EGMR. Alle, die ein Streikrecht für Beamtinnen und Beamte forderten, müssten sich vor Augen halten, was dies konkret bedeute. „Nicht nur ich halte eine Abkehr vom Berufsbeamtentum für die Aufrechterhaltung der staatlichen Daseinsvorsorge für ausgesprochen kritisch.“ Schäfer warb dafür, die strukturellen Vorteile des deutschen Beamtenrechts auch auf europäischer Ebene besser zu kommunizieren und etwaige Einflüsse durch europäische Entscheidungen frühzeitig zu antizipieren. „Wir, also alle 17 beamtenrechtlichen Rechtskreise in Deutschland, sollten mehr darauf schauen, was in Brüssel passiert, und unsere Vorstellungen dort einbringen, um im Idealfall über die Setzung im Europarecht noch mehr Vorteile für alle Verwaltungen erreichen zu können.“ Mit Blick auf das laufende Verfahren zum Streikrecht für Beamte bezweifelte Jan Bergmann, dass der EGMR in das deutsche Beamtenrecht eingreifen wird. „Dort verstehen sie sich als Hüter der Basisrechte der Menschen und sind nicht gewillt, in fein auszieselierte Rechtssysteme einzugreifen. Das würde ich eher dem EuGH zutrauen, weil dort das Streikrecht als Basisausstattung für den europäischen Arbeitnehmer gesehen wird und der europäische Arbeitnehmerbegriff bekanntlich nicht zwischen Beamten und Arbeitnehmenden differenziert.“ Sollte es dereinst eine europäische Gerichtsentscheidung für ein generelles Streikrecht geben, „Das Grundgesetz mit der Garantie der hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums ist nur noch teilweise Maßstab unserer Rechtsprechung. Das Europäische Recht steht darüber.“ Prof. Dr. Jan Bergmann „Ich halte eine Abkehr vom Berufsbeamtentum für die Aufrechterhaltung der staatlichen Daseinsvorsorge für ausgesprochen kritisch.“ Friedhelm Schäfer AKTUELL 9 dbb magazin | Juli/August 2022
sei das aus seiner Sicht keine Katastrophe, bekräftigte Bergmann. EU-Recht habe schon oft dazu geführt, dass die Verhältnisse sich ändern, und diese Veränderungen müssten keine Verschlechterung bedeuten. Man könne Europa als Instrument betrachten, „dass uns nutzt, den öffentlichen Dienst zu modernisieren. Dafür müssen wir früh im europapolitischen Raum ansetzen.“ Matthias Pechstein skizzierte den Fall, dass der EuGH im Sinne der Beschwerdeführer entscheidet: „Im Prinzip müsste die Bundesrepublik dann dem Urteil in diesem konkreten Fall stattgeben.“ Eine Gesetzes- oder Verfassungsänderung sei deshalb nicht nötig, den Beschwerdeführern bliebe eine Geldentschädigung. Allerdings würde von Urteilen des EGMR über den konkreten Einzelfall mit der Rechtsverbindlichkeit des Urteils eine gewisse Orientierungswirkung entfaltet. „Damit man jetzt nicht in die nächsten Fälle hineinläuft, sollten die betroffenen Sparten ihre Rechtsordnung mit dem Urteil in Einklang bringen“, erläuterte Pechstein. Dies ginge in Deutschland nach dem Urteil des 12. Juni 2018 nur, indem das Grundgesetz geändert würde und man aufnähme, dass auch Beamte streiken dürfen und das Beamtenrecht und der Beamtenstatus zugunsten eines allgemeinen Arbeitnehmerstatus aufgegeben würden. Das Verfassungsgericht habe hier allerdings mit seiner Feststellung vorgebaut, dass nicht jedem EGMR-Urteil Folge geleistet werden müsse. Pechstein wies außerdem darauf hin, dass dem dbb aufgrund seiner Bedeutung für die Entwicklung des deutschen Beamtenrechts eine Stellungnahme zur Individualbeschwerde vor dem EGMR bewilligt wurde, um eine zusätzliche Perspektive in die Entscheidungsfindung einzupflegen. Diskussion: Europakompetenz fördern „Die Förderung von Europakompetenz ist bei uns an der Hochschule verpflichtend“, erläuterte Prof. Dr. Markus Heimann von der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung in der zweiten Podiumsdiskussion, die sich dem Thema „Förderung der Europakompetenz im öffentlichen Dienst“ widmete. Das Ziel sei, europarechtliche Grundkompetenzen im Zusammenhang mit den Auswirkungen auf das deutsche Recht zu vermitteln, hob der Hochschullehrer hervor. „Es ist notwendig, eine Art kritisches Bewusstsein über das Funktionieren des gesamten Systems zu vermitteln.“ „In den vergangenen 20 Jahren haben wir ein vorbildliches System zum Europarecht aufgebaut“, fasste Jan Bergmann in seiner Funktion als Ansprechpartner für die Verwaltungsgerichtsbarkeit in Baden-Württemberg das Engagement zur Schaffung von Europakompetenz zusammen. „Wir haben unseren Geschäftsverteilungsplan mit Blick auf das Europarecht ebenso angepasst wie viele Vorlagen. Seit 2001 gibt es zudem in jedem Verwaltungsgericht Ansprechpartner für Europarecht, die bei einschlägigen Verfahren als extern Beratende tätig sein dürfen.“ Ein solches System funktioniere aber nur, wenn es von den Chefs aktiv unterstützt werde: „Der Fisch stinkt nicht nur, er duftet auch vom Kopf.“ Friedhelm Schäfer bekräftigte seine Forderung nach mehr „europäischer Grundbildung“ sowie Austausch mit europäischen Nachbarn und Institutionen auf Beschäftigtenebene. „Wir müssen erstens bereits in der Ausbildung Europarecht viel stärker lehren, um ein Grundbewusstsein für diese Aspekte zu schaffen. Zweitens müssen wir die Menschen, die täglich mit Europa zu tun haben, besser schulen – und zwar rechtzeitig, häufig kommen viele Fortbildungen einfach zu spät. Und drittens müssen wir mehr Wert darauf legen, Europarückkehrenden attraktive Perspektiven zu bieten.“ Dr. Pamela Sichel, Referatsleiterin „Europafähigkeit und Europaöffentlichkeitsarbeit“ im Staatsministerium Baden-Württemberg, erläuterte das im „Ländle“ seit rund 20 Jahren praktizierte Modell „Dynamischer Europapool“, in dem eine dauerhafte Personalreserve für die Verwendung auf europarelevanten Positionen im Inland („Heimspieler“) und bei den europäischen Institutionen („Auswärtsspieler“) vorgehalten wird. Das Angebot, international Erfahrungen zu sammeln, sei insbesondere bei der Gewinnung von Nachwuchs ein „absolutes Werbeargument“, berichtete Sichel. „Die jungen Menschen schätzen die Aussicht, nicht ihr ganzes Berufsleben lang an einemOrt zu verharren: Europa soll schließlich ein Karrierekick sein, kein Karriereknick.“ dbb jugend-Chef Matthäus Fandrejewski, zugleich Vorsitzender der Jugendorganisation des europäischen dbb Dachverbands CESI Youth, hat bereits eine steile „Europa-Lernkurve“ hinter sich: Während seiner Ausbildung zum Verwaltungsfachangestellten war er Praktikant in einer irischen Kommunalverwaltung. Er forderte eine bessere Einbindung von Europathemen in die Ausbildung des öffentlichen Dienstes und vor allemmehr Möglichkeiten des institutionellen Austauschs. „Auslandserfahrung sammeln zu können, ist für junge Menschen ein wesentliches Attraktivitätsmerkmal bei der Berufswahl.“ br/cri/ef/en/iba Die Teilnehmenden der Podiumsdikussion Prof. Dr. Jan Bergmann (zugeschaltet), Matthäus Fandrejewski, Dr. Pamela Sichel, Moderatorin Ines Arland, Friedhelm Schäfer und Prof. Dr. Markus Heimann (von links). „Europa soll schließlich ein Karrierekick sein, kein Karriereknick.“ Dr. Pamela Sichel 10 AKTUELL dbb magazin | Juli/August 2022
ZOOM bezeichnet ein von einem oder mehreren Dritten ausgehendes Verhalten, das sich gegen eine im öffentlichen Dienst beschäftigte Person richtet und einen Straftatbestand nach dem Strafgesetzbuch realisiert. „Gewalt“ sind Beleidigung/Bedrohung/ (versuchte) Körperverletzung/ (versuchte) Tötung/sexuelle Gewalt. „Straftatbestände“ (Z1 und Z2) betrachtet die Umfrage, in der bundesweit Behörden und Beschäftigte aus verschiedenen Bereichen befragt wurden. vor Ausbruch der COVID-19-Pandemie vom 1. Januar bis zum 31. Dezember 2019 während der Pandemie vom 1. Oktober 2020 bis zum 30. September 2021 Zwei Zeiträume Z1 Z2 beteiligten sich an der Befragung. 10 674 Beschäftigte machten Angaben zum Ausmaß der Gewalt, 40 Prozent davon hatten gemeldete Gewaltfälle. 1 465 Behörden beträgt die Dunkelziffer nicht gemeldeter Übergriffe. 70 Prozent der Beschäftigten, das ist jede/jeder Vierte, gaben an, bereits Gewalterfahrungen gemacht zu haben, 12 Prozent erlebten sogar mehrere Vorfälle innerhalb eines Jahres. 23 Prozent der erlebten gewalttätigen Übergriffe wurden durchschnittlich gemeldet. 30 Prozent Ausgewählte Informationen zur Studie Gewalt gegen Beschäftigte Wie oft ist es vorgekommen, dass Sie ... ... beleidigt/beschimpft/angespuckt wurden? Jemand versucht hat, Sie zu schlagen/ in sonstiger Weise körperlich anzugreifen oder Sie gesundheitlich zu schädigen? Die Antworten auf diese und unzählige andere Fragen sind die Substanz der neuen wissenschaftlichen Studie, in der das Deutsche Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung (FÖV) erstmals flächendeckende Zahlen zu Übergriffen auf Beschäftigte des öffentlichen Dienstes vorlegt. Einige Fakten im Zoom. 12 FOKUS dbb magazin | Juli/August 2022
Foto: Colourbox.de der Fälle sexueller Gewalt wurden nicht gemeldet. 68 Prozent fühlten sich fortan unwohl an ihrem Arbeitsplatz. 44 Prozent der Befragten gaben an, dass die Gewalterfahrung Folgen für sie hatte. 60 Prozent nannten als Folgen Schlafstörungen, depressive Verstimmungen, sogar Depressionen. 25 Prozent ergingen verteilt auf 1000 Beschäftigte durchschnittlich pro Umfragejahr. Verteilt auf beide Jahre wurden gemeldet: Fälle bei den Ordnungsämtern Fälle bei den Bürgerämtern Fälle bei den Gerichtsvollzieherinnen und -vollziehern Fälle im Justizvollzug Fälle in der kommunalen Sozial- und Arbeitsverwaltung Fälle bei Feuerwehren und Rettungskräften Fälle in der Justiz Fälle bei der Sozial-und Arbeitsverwaltung von Bund und Ländern Fälle an Hochschulen 314 189 114 62 43 18 13 0,7 6 16 Gewaltmeldungen FOKUS 13 dbb magazin | Juli/August 2022
Johann Saathoff, Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesministerium des Innern und für Heimat, betonte in seinem Grußwort, dass es zur Wertschätzung für die Beschäftigten gehöre, der Fürsorgepflicht als Dienstherr nachzukommen. Grundsätzlich sei die Sicherheit der Kolleginnen und Kollegen ein wichtiger Teil der Führungsverantwortung von Vorgesetzten. Die FÖV-Studie habe hier wichtige Erkenntnisse gebracht, beispielsweise sei der „Bedarf an niedrigschwelligen Meldewegen definitiv vorhanden“. Dass die Gewalt gegen Beschäftigte des öffentlichen Dienstes in den letzten Jahren vermehrt in den Fokus der Forschung gerückt sei, betonte Professor Jan Ziekow, Direktor des FÖV in Speyer, und verwies exemplarisch auf entsprechende Untersuchungen in Hessen und Sachsen. Fakt sei: „Beschäftigte werden immer wieder mit Gewalt konfrontiert.“ Die nun vorgelegte Studie liefere dafür eine solide Datenbasis. Auch Katja Karger, Vorsitzende des DGB-Bezirks Berlin-Brandenburg, unterstrich, dass Gewalt gegen Beschäftigte des öffentlichen Dienstes kein „Randphänomen“ sei. „Die Studie bestätigt alle unsere betriebliche Erfahrung.“ Friedhelm Schäfer, Zweiter Vorsitzender und Fachvorstand Beamtenpolitik des dbb, lobte die Arbeit der Forschenden: „Das Institut hat hier hervorragende Arbeit geleistet. Nun müssen endlich Strategien entwickelt und vor allem die Betroffenen konsequent in den Mittelpunkt gestellt werden.“ Gleichzeitig forderte Schäfer, dass nach der nun erfolgten Sachstandserhebung auch die Ursachenforschung vorangetrieben werden müsse. „Es reicht nicht, Scanner am Eingang oder Alarmknöpfe unter dem Schreibtisch zu installieren. Wenn wir nicht auch die Ursachen für Gewalt gegen die Beschäftigten in den Blick nehmen und sie bekämpfen, erledigen wir unsere Aufgabe nicht.“ Dunkelziffer: 70 Prozent nicht gemeldete Fälle Carolin Steffens und Axel Piesker vom FÖV erläuterten die Studienergebnisse, die sich aus der Befragung von 1630 Behörden und knapp 10700 Beschäftigten ergeben haben, ausführlich. Jede beziehungsweise jeder vierte Beschäftigte im öffentlichen Dienst ist innerhalb eines Jahres einmal oder mehrfach Opfer von Gewalt am Arbeitsplatz geworden. Die meisten dieser Vorfälle waren Beleidigungen und Bedrohungen. Besonders die hohe Dunkelziffer gebe Anlass zur Sorge: Nicht gemeldete Fälle machen laut der Studie 70 Prozent aus. Der von den Beschäftigten meistFACHTAGUNG Johann Saathoff, Parlamentrischer Staatssekretär im Bundesministerium des Innern und für Heimat (BMI) Prof. Dr. Jan Ziekow, Direktor des Deutschen Forschungsinstituts für öffentliche Verwaltung (FÖV) Gewalt gegen Beschäftigte Handlungsoptionen für mehr Schutz Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Verwaltungspraxis diskutierten am 24. Juni 2022 die Ergebnisse der vom Deutschen Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung (FÖV) erarbeiteten Studie „Gewalt gegen Beschäftigte im öffentlichen Dienst“ und skizzierten Handlungsoptionen. Fest stand am Ende: Gewalt gegen Beschäftigte des öffentlichen Dienstes ist keinesfalls ein Randproblem und muss mit einer klaren Null-ToleranzHaltung und konkreten Präventions- und Nachsorgemaßnahmen beantwortet werden. Foto: Colourbox.de 14 FOKUS dbb magazin | Juli/August 2022
genannte Grund für eine Nichtmeldung ist der Glaube, dass eine Meldung ohnehin nichts ändere, gefolgt von der Annahme, dass der Vorfall nicht meldewürdig war. Parallel zur allgemeinen Befragung führte das FÖV eine ergänzende Studie mit Fokus auf Gewalt gegen Beschäftigte im Personennah- und -fernverkehr durch. Darin gaben 40 Prozent an, bereits mindestens einmal Gewalt erlebt zu haben. Am häufigsten wurden Beschäftigte im Kundendienst und Begleitpersonal Opfer von verbalen oder physischen Attacken. Deckungsgleich mit der Hauptstudie zeigte sich, das auch hier die häufigsten Erscheinungsformen von Gewalt Beleidigung und Bedrohung waren. Die Dunkelziffer war mit 60 Prozent ähnlich hoch, ebenso die Gründe, weshalb die Vorfälle nicht gemeldet wurden. Als erste Handlungsoptionen aus der Studie, die zunächst der Bestandsaufnahme diente, formulierte Axel Piesker, bewährte Präventionsmaßnahmen zu adaptieren und zu nutzen. Auch im Bereich der Betroffenen sei deutlich mehr Unterstützung erforderlich. Raus aus der „blame-and-shame“-Schleife In der anschließenden Fishbowl-Diskussion zur Bewertung der Studienergebnisse hob FÖV-Direktor Jan Ziekow hervor, dass die Qualität der Erhebung in ihrer hohen Differenziertheit liege und die Daten daher eine gute Basis für weitere Analysen böten. Der Schutz der Beschäftigten lasse sich jedenfalls nur signifikant verbessern, wenn „wir ganzheitlich denken und uns gleichermaßen mit Situationen von Gewalt und mit dem Bild des öffentlichen Dienstes beschäftigen“, machte der Verwaltungswissenschaftler deutlich. Daher regte er weitere Untersuchungen an: „Wenn man an der Oberfläche bleibt, rutscht das wieder schnell in die ,blameand-shame‘-Diskussion: Irgendeiner ist immer schuld – aber die Ursachen liegen viel tiefer.“ Katrin Walter, Abteilungsleiterin D (öffentlicher Dienst) im Bundesministerium des Innern und für Heimat, zeigte sich betroffen vom Ausmaß und der Art der in der Studie geschilderten Gewalttaten. „Wir müssen uns vor Augen halten, dass Leute in Jobcentern oder Bürgerämtern den Umgang mit Straftätern nicht gelernt haben, wie etwa die Beschäftigten in den Ordnungsbehörden. Wir müssen dringend aktiv werden. Eine der Kernaufgaben der Dienstherrn ist die Fürsorgepflicht, und das Minimum an Vorsorge ist ja wohl, dass die Menschen gesund von ihrem Dienst nach Hause gehen können“, machte Walter deutlich. Verärgert zeigte sie sich darüber, dass Vorfälle von Betroffenen nicht gemeldet werden, weil Dienstvorgesetzte dies als unerwünscht oder überflüssig bewerteten: „Das ist klares Führungsversagen. Hier müssen wir gegensteuern.“ Eine deutliche Verbesserung der Sicherheit sei nur zu erreichen, wenn man konkret mit den Beschäftigten spreche, zeigte sich Walter überzeugt. Auch Katja Karger vom DGB betonte die Bedeutung der konkreten Arbeit vor Ort. Es sei beispielsweise nicht hinnehmbar, dass im Staatsdienst die eigentlich vorgeschriebenen Gefährdungsbeurteilungen nicht flächendeckend vorgenommen würden. „Hier gilt es, den Führungskräften den Spiegel vorzuhalten und die Arbeitgeber in die Pflicht zu nehmen“, so Karger. Auch die Verfolgung von Täterinnen und Tätern müsse etwa durch die Einrichtung von SchwerpunktStaatsanwaltschaften optimiert werden. Friedhelm Schäfer, Zweiter dbb Bundesvorsitzender und Fachvorstand Beamtenpolitik Präsentation der Ergebnisse der Studie: Carolin Steffens ... ... und Axel Piesker gehören zu den Mitherausgebern der wissenschaftlichen Erhebung. Erste Bewertung der Studienergebnisse durch die Teilnehmenden der Fishbowl-Diskussion: Moderatorin Corinna Egerer, Katja Karger (DGB), Katrin Walter (BMI), Jan Ziekow (FÖV) und Friedhelm Schäfer (dbb), von links © FÖV/Sandra Kühnapfel (9) FOKUS 15 dbb magazin | Juli/August 2022
dbb Vize Friedhelm Schäfer machte noch einmal eindringlich die Dimension des Problems deutlich: „60 Prozent fühlen sich sicher. Nur 60 Prozent. Das bedeutet, 40 Prozent gehen mit Angst im Bauch zur Arbeit. Und die Studie hat ja gezeigt, wie erschreckend hoch die Dunkelziffer ist. Um ein noch ehrlicheres Bild der Ausmaße des Problems zu bekommen, müssen wir daher unbedingt die Kolleginnen und Kollegen vor Ort davon überzeugen, dass es sich ‚lohnt‘, solche Vorfälle zu melden beziehungsweise anzuzeigen.“ Dafür müssten eben auch die Meldewege dringend optimiert und ausgebaut werden. Durch viele Beiträge aus dem Publikum, unter anderem von Vertreterinnen und Vertretern der dbb Fachgewerkschaften und Landesbünde, wurde die Diskussion um spannende Einblicke aus der Praxis bereichert. So wurden einige Fälle und Projekte zum Thema von der Länderebene, aus dem Justizvollzug, dem Nahverkehr und dem Bildungsbereich thematisiert. Gewaltphänomene und Präventionsansätze In zwei parallellen Block-Panels diskutierte die Fachtagung Gewaltphänomene und Präventionsansätze – zum einen mit Blick auf Beschäftigte mit regelmäßigem Bürgerkontakt in Dienstgebäuden, zum anderen mit Blick auf Kolleginnen und Kollegen im Außeneinsatz. (Block A): Paulina Lutz von der kriminologischen Zentralstelle/ Projekt „Angriffe auf Mitarbeiter*innen und Bedienstete von Organisationen mit Sicherheitsaufgaben“ (AMBOSafe) stellte eine Untersuchung von gewalttätigen Angriffen auf Rettungs- und kommunale Ordnungsdienste vor. Danach sind Alkoholisierung sowie Drogeneinfluss oder psychische Belastungen signifikante Risikofaktoren aufseiten der Täterinnen und Täter. Aufseiten der Betroffenen habe vor allem eine hohe Belastung zu Eskalationen geführt. Heike Würstl von der Geschäftsstelle des Landespräventionsrats Thüringen brachte Daten aus ihrer Studie „Gewalt gegen Einsatzkräfte der Feuerwehr und des Rettungsdienstes: Bestandsaufnahme Thüringen“ mit. In dieser Studie wurde der Gewaltbegriff enger auf ausschließlich körperliche Angriffe gefasst. Interessantes Ergebnis: die lokalen Unterschiede. So wurden mehr Taten in Großstädten verzeichnet. Dagegen gab es wenig Unterschiede in der Opferspezifik. Als mögliche Präventionsmaßnahmen nannte Würstl unter anderem Bildungsarbeit in Form von Werte- und Normenvermittlung, eine konsequente Strafverfolgung und technischen Schutz. (Block B): Johanna Groß, Professorin für Sozialen Wandel und Konfliktforschung an der Kommunalen Hochschule für Verwaltung in Niedersachsen, und Katrin Päßler, Fachbereichsleitung Arbeitsmedizin und Arbeitssicherheit bei der Stadt Aachen, nahmen den Innendienst in den Blick. Johanna Groß stellte die Gewalterfahrungsstudie vor, die ihre Hochschule 2019 gemeinsammit dem Niedersächsischen Städtetag in rund 120 Kommunen erhoben hatte. Die Ergebnisse bestätigten die von der aktuellen FÖVStudie zutage geförderten Erkenntnisse mit Blick auf Verbreitung und Häufigkeit der Konfliktereignisse. Bauliche, technische und organisatorische Präventionsmaßnahmen seien nur teilweise vorhanden. Häufig berichtet wurde hingegen das „Kleinreden“ von Vorfällen sowohl durch Betroffene selbst als auch durch Vorgesetzte. Katrin Päßler erläuterte das „Sicherheitskonzept Gewaltprävention“ der Stadt Aachen, das unter dem Titel „Aachener Modell“ mittlerweile als Best Practice bundesweit in Behörden und Verwaltungen Schule macht. Das Modell wurde als Reaktion auf eine Geiselnahme in einem Aachener Jobcenter 2007 angestoßen und seitdem stetig weiterentwickelt, seit 2017 ist es gesamtstädtisch verbindlich. Das differenziert ausformulierte Konzept soll gewalttätige Übergriffe und Gefährdungen auf Beschäftigte verhindern, eine hohe Rechts- und Handlungssicherheit bei beziehungsweise nach gewalttätigen Vorfällen erreichen und das subjektive Sicherheitsgefühl und die Sicherheit am Arbeitsplatz insgesamt erhöhen. In der sich an die Fachvorträge anschließenden Diskussion wurde deutlich, dass das „Aachener Modell“ von vielen Beschäftigten als wünschenswertes und sinnhaftes Sicherheitskonzept angesehen wird, das sich gut an die jeweils individuellen Gegebenheiten vor Ort anpassen lässt. Voraussetzung für eine Umsetzung seien Stellten in „Block A“ Projekte zur Situation Beschäftigter mit Bürgerkontakt außerhalb von Dienstgebäuden vor: AMBOSafe-Teammitglied Paulina Lutz und Heike Würstl vom Landespräventionsrat Thüringen (vorne von links). In „ Block B“ präsentierten Katrin Päßler von der Stadt Aachen (links) und Prof. Dr. Johanna Groß von der Kommunalen Verwaltungshochschule Niedersachsen jeweils ihre Konzepte für die Sicherheit der Beschäftigten mit Bürgerkontakt in Dienstgebäuden. 16 FOKUS dbb magazin | Juli/August 2022
Die Zusammenfassung der Ergebniss der Studie „Gewalt gegen Beschäftigte im öffentlichen Dienst“ im Internet: https://t1p.de/Foev Webtipp allerdings auch entsprechende Mittel, machte Katrin Päßler klar: „Prävention kostet Geld. Das muss allen klar sein.“ Päßler betonte zudem: „Eine absolute Sicherheit vor unvorhersehbaren Ereignissen kann es nicht geben. Aber mit dem Bewusstsein, dass etwas passieren kann, setzt Prävention ein.“ Verwaltungspraxis konkret: Wie weiter? Weitere interessante und auch neue Aspekte der Gewaltthematik brachte die abschließende Podiumsdiskussion mit Praktikerinnen und Praktikern aus der Verwaltung. Barbara Melcher verantwortet die Abteilung Prävention der Unfallkasse Brandenburg, die als Unfallversicherungsträger der öffentlichen Hand für die Tarifbeschäftigten zuständig ist. Sie wies darauf hin, dass von gewalttätigen Übergriffen weit mehr Bereiche des öffentlichen Dienstes betroffen seien, als dies in der (medialen) Diskussion dargestellt würde. „Unsere Zahlen zeigen: Der Öffentliche Gesundheitsdienst steht ganz oben auf der Liste. In der Allgemeinen Verwaltung sind zum Beispiel auch Jugendämter und Sozialbehörden betroffen, ebenso öffentliche Unternehmen wie beispielsweise Schwimmbäder.“ Melcher betonte, dass die Sicherheit der Beschäftigten in erster Linie in der Verantwortung der Arbeitgebenden und Dienstherrn liege. „Die Gefährdungsbeurteilung ist das A und O bei der Prävention.“ Diese Einschätzung teilte auch Jan Kaltofen vom Jobcenter Halle (Saale): „Ein Hauptproblem ist die nicht vorhandene Sensibilisierung von Behördenleitungen für das Gewaltproblem.“ Darüber hinaus befürwortete Kaltofen ebenfalls eine tiefergehende Analyse der Ursachen für Übergriffe. „Da dürfen wir auch falsches Verhalten unserer eigenen Beschäftigten nicht ausschließen“, mahnte er. Grundsätzlich hält der Praktiker die Ansätze von großen Organisationen wie der Arbeitsverwaltung auch auf andere Bereichen übertragbar: „In unserer Stadt sind wir dazu im Gespräch, um die kommunalen Servicebereiche ähnlich auszugestalten wie in unserem Jobcenter.“ Zuletzt seien hinsichtlich des Themas auch einige Erfolge zu verzeichnen: „Vor zehn Jahren war die Arbeitsverwaltung sicherheitstechnisch noch ‚Niemandsland‘. Das ist heute ganz anders.“ Ronald Mikkeleitis vom Ordnungsamt Berlin-Reinickendorf bedauerte, dass die Tätigkeit seiner Mitarbeitenden häufig unterschätzt werde. „Wir arbeiten in meinem Bezirk auf Augenhöhe mit der Polizei zusammen.“ Der Ordnungsamtsleiter, der bereits seit 2015 bundesweit praxisnahe Deeskalationsseminare anbietet, empfahl eindringlich, alle Bereiche mit direktem Bürgerkontakt im Fokus zu behalten. „Die Gewaltdelikte steigen Jahr für Jahr. Es ist längst überfällig, dass wir mit wirksamen Methoden – auch der Prävention – dagegen angehen.“ Mikkeleitis kritisierte die oft fehlende Wertschätzung gegenüber Ämtern und Behörden, die nicht zuletzt den Boden für Übergriffe bereite: „Wir sollten wieder in den Blick bringen, was der öffentliche Dienst für die Bürgerinnen und Bürger leistet.“ Wie Sicherheit und Schutz von Beschäftigten im öffentlichen Dienst bereits in der Praxis dienststellenübergreifend betrachtet und realisiert werden können, erläuterte Polizeioberrat André Niewöhner von der Initiative „Mehr Sicherheit und Schutz von Beschäftigten im öffentlichen Dienst“ aus Nordrhein-Westfalen. „Wir wissen, dass Bereiche, die als Ziele gewalttätiger Übergriffe weniger im Fokus stehen als beispielsweise Polizei, Ordnungsämter oder Rettungsdienste, sehr gefährdet sind. Es ist wichtig, diese Ecken ausleuchten.“ Die in der Arbeit der Initiative gewonnenen Erfahrungen zeigten, dass viele Grundkonzepte für Organisationsaufgaben übergreifend funktionierten, es aber auch Dinge gebe, die nur in bestimmten Tätigkeitsbereichen passten. „Das wichtigste ist, dass wir alle dabeihaben“, so der Leiter des Netzwerks. „Aus der Gemeinsamkeit entstehen strukturelle Gedanken, die wir der Politik mitteilen können.“ Killer jeder Konzeptumsetzung sei indes mangelnde Kommunikation, so Niewöhner. „Was man vorhat, muss man abstimmen, erst dann lässt sich prüfen, ob es klappt.“ Auch sei es enormwichtig, Führungskräfte jeweils konsequent einzubinden. cri/ef/iba/ows Aus der Praxis ihres Arbeitslebens schöpften die Teilnehmenden der Abschlussdiskussion ihre Argumente: Jan Kaltofen (Jobcenter Halle), Barbara Melcher (Unfallkasse Brandenburg), FÖVDirektor Jan Ziekow als Moderator, André Niewöhner (Polizei NRW) und Ronald Mikkeleitis (Ordnungsamt BerlinReinickendorf) (von links). FOKUS 17 dbb magazin | Juli/August 2022
REPORTAGE Gewalt gegen Beschäftigte Tatort Staatsdienst Verbale und auch körperliche Angriffe auf Menschen im öffentlichen Dienst nehmen zu. Vier von ihnen erzählen, wie sicher sie sich noch fühlen. Ein Lagebericht. „Als ich zur Seite taumelte, habe ich einen Tritt in die Hüfte bekommen und bin mit der anderen Hüfte auf den Bordstein gefallen.“ Jan Quente, Polizei-Zugführer, Stuttgart Wir hatten den Auftrag, die Strecke der Demonstration zu schützen“, erinnert sich der heute 38-jährige Stuttgarter Polizei-Zugführer Jan Quente an den Tag der Gewalt. „Mein Zug war verteilt. An einer Stelle standen fünf oder sechs Leute aus meiner Gruppe. Auf einmal kam ein schwarzer Block von 40 bis 50 Vermummten. Schnell wurden 150 daraus. Sie haben Transparente hochgehalten und auch ein Faceshield, um sich gegen Pfefferspray zu schützen.“ Die Stimmung kochte hoch. „Sie riefen: Die sind wenig, wir sind viel. Sie haben runtergezählt. Zehn, neun, acht, sieben, sechs. Da war uns klar: Die rennen gleich los. Sie liefen auf uns zu und haben die Gruppe überrannt. Eine Kollegin ist komplett übertrampelt worden von mehreren Demonstranten.“ Quente nennt das, was der Polizistin passiert ist, wirklich so: übertrampelt. Der 28. Februar 2016, ein Sonntagnachmittag. Mit einer „Demo für alle“ wollen Eltern gegen den Plan der grün-schwarzen Landesregierung protestieren, neue Inhalte für den baden-württembergischen Sexualkundeunterricht festzulegen. 4500 Menschen sind gekommen. Es geht um gesellschaftliche Grundsatzfragen, der Protest fordert Gegenprotest heraus. Linke werfen den Eltern Homophobie vor und dass sie von Leuten rechts außen durchsetzt seien. Die Polizei gerät zwischen die Fronten. Quente erzählt: „Ich habe in demMoment, wo sie auf uns zu sind, mit Pfefferspray gegengehalten. Ich wurde selbst nach hinten gedrückt und eingeschlossen von einer größeren Gruppe, habe versucht, mich mit dem Pfefferspray rauszuschlagen, aber das Spray ist dann mehr oder weniger zwischen Griff und Kartusche in meiner Hand explodiert.“ Pfefferspray wirkt schnell. Der Zugführer konnte kaum noch sehen. „Als ich zur Seite taumelte, 18 FOKUS dbb magazin | Juli/August 2022
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