dbb magazin 11/2022

dbb magazin Nachwuchskräfte | Gesucht! Gefunden? Interview | Lisa Paus, Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Einkommensrunde Bund und Kommunen | 10,5 Prozent mehr Einkommen gefordert 11 | 2022 Zeitschrift für den öffentlichen Dienst

STARTER Verjüngungskuren für Vater Staat dringend gesucht In den kommenden zehn Jahren verlassen etwa 27 Prozent der Beschäftigten im öffentlichen Dienst aus Altersgründen ihren Arbeitsplatz. Von den Verbleibenden waren 2021 nur drei Prozent unter 25 Jahren alt. Wie man hier, trotz oft widriger Umstände, Abhilfe schaffen kann, ist ein besonderes Thema dieser Ausgabe. Für unsere Reportage, die Personallücken, insbesondere in ländlichen Regionen, auf den Grund geht, hat sich Anke Adamik in Sachsen-Anhalt umgeschaut. Dort sucht etwa das Landratsamt Jerichower Land händeringend Nachwuchskräfte, auch weil es für Berufsanfänger zu viele Alternativen gibt. Auf eine besondere Problematik richtet der „Blickpunkt“ sein Augenmerk: die IT-Ausbildung an Hochschulen für den öffentlichen Dienst, die bisher aber kaum Studierende interessiert. Vielleicht liegt das auch daran, dass sie ein hohes Maß an Akribie, Geduld und Hartnäckigkeit mitbringen müssen, um die an sich attraktiven Studiengänge ausfindig zu machen. Hinzu kommt, dass es bundesweit keine gemeinsamen Ausbildungsstandards gibt. Selbst im BMFSFJ, dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, das „schon seit Jahren viele individuell zugeschnittene Modelle flexibler und mobiler Arbeit“ anbietet, haben sie bei der Rekrutierung junger Digitalisierungsfachleute noch kein probates Mittel gefunden, bekennt Bundesfamilienministerin Lisa Paus im Interview. Auch in ihrem Hause existierten „Bereiche, in denen uns die Gewinnung qualifizierter Beschäftigter immer schwerer fällt, etwa in der IT“. So bleibt es dabei: Im öffentlichen Dienst fehlen Zehntausende IT-Fachleute. Kein Aushängeschild für den „Arbeitsmarkt Staat“. red TOPTHEMA Junge Beschäftigte im öffentlichen Dienst 12 22 AKTUELL EKR BUND UND KOMMUNEN Einkommensforderung vorgestellt: 10,5 Prozent für den öffentlichen Dienst 4 dbb Branchentage: In Personal und Einkommen investieren 6 NACHRICHTEN 8 VORGESTELLT eGoverment MONITOR 2022: Zweifel an der Leistungsfähigkeit des Staates 10 DBB GEWERKSCHAFTSTAG 2022 Wahlen der dbb Führungsspitze: Kandidierende für die dbb Bundesleitung 13 ARBEITNEHMERRECHTE EuGH-Urteil: Wann Urlaubsansprüche nicht verfallen 15 FOKUS INTERVIEW Lisa Paus, Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 16 REPORTAGE Ausbildung im öffentlichen Dienst: Kein Idyll 18 BLICKPUNKT IT-Ausbildung an Hochschulen für den öffentlichen Dienst: „Das verrückte Labyrinth“ 22 ZUR SACHE Gewerkschaftliche Interessenvertretung: In Brüssel gibt es immer mehr zu tun 26 INTERN JUNGE BESCHÄFTIGTE Neues Online-Magazin der dbb jugend: #staatklar 28 FRAUEN Hauptversammlung der dbb frauen: Bessere Gleichstellungsgesetzgebung für Bund und Länder 30 SENIOREN 7. Seniorenpolitische Fachtagung: Pflege zukunftssicher machen 33 SERVICE 38 Impressum 41 KOMPAKT GEWERKSCHAFTEN 42 16 Model Foto: Colourbox.de 4 AKTUELL 3 dbb magazin | November 2022

dbb Chef Ulrich Silberbach erwartet schwere Tarifverhandlungen für den öffentlichen Dienst von Bund und Kommunen. „Das werden hammerharte Verhandlungen“, sagte der dbb Bundesvorsitzende Ulrich Silberbach am 11. Oktober 2022 bei der Vorstellung der gewerkschaftlichen Forderung für die am 24. Januar 2023 beginnende Einkommensrunde. Die Forderung nach 10,5 Prozent, mindestens 500 Euro mehr Einkommen sei angesichts der volatilen Lage aber „mehr als gerechtfertigt“, so Silberbach weiter. „Die Stimmung in den Betrieben und Behörden des öffentlichen Dienstes war noch nie so schlecht. Veraltete Ausstattung, steigende Arbeitsbelastung, hohe Krankenstände, sinkende Motivation: Das sind alles Alarmzeichen. Umso dringender sind jetzt positive Impulse beim Thema Bezahlung.“ Das Verhandlungsergebnis müsse deshalb am Ende zweierlei sicherstellen: „Die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes nehmen an der allgemeinen Einkommensentwicklung teil. Das ist ihr gutes Recht. Außerdem wird die Wettbewerbsfähigkeit des Staates als Arbeitgeber gesichert. Ein Blick auf die demografische Entwicklung zeigt, was für eine existenzielle Herausforderung die Nachwuchsgewinnung für Bund und Kommunen geworden ist. Uns fehlen ja jetzt schon 360000 Leute und diese Zahl wird schnell anwachsen.“ Der dbb Chef setzt daher auf dauerhafte Gehaltssteigerungen statt auf Einmalzahlungen. Mit den Arbeitgebern sei auch zu klären, „wie wir mit den im Raum stehenden Sonderzahlungen von bis zu 3000 Euro umgehen“, hatte Silberbach im Vorfeld der Vorstellung der Einkommensforderung am 9. Oktober 2022 gegenüber der Deutschen Presse-Agentur (dpa) gesagt. Die Bundesregierung hatte den Sozialpartnern in Aussicht gestellt, dass der Staat auf Steuern und Abgaben verzichtet, wenn sie sich auf solche Sonderzahlungen einigen. „Einmalzahlungen sehen wir kritisch, weil wir einen langfristigen Inflationsausgleich brauchen, der in den Einkommenstabellen greift.“ Als ergänzendes Instrument wolle er die Möglichkeit von solchen Sonderzahlungen aber auch nicht gänzlich ausschließen. EKR BUND UND KOMMUNEN Einkommensforderung vorgestellt 10,5 % für den öffentlichen Dienst „Einmalzahlungen sehen wir kritisch, weil wir einen langfristigen Inflationsausgleich brauchen.“ Ulrich Silberbach Der ver.di-Vorsitzende Frank Wernecke, dbb Chef Ulrich Silberbach und dbb Fachvorstand Tarifpolitik Volker Geyer (von links) erläuterten die Einkommensforderung der Gewerkschaften am 11. Oktober 2022 in Berlin vor der Presse. © Thomas Rosenthal (2) © Marco Urban 4 AKTUELL dbb magazin | November 2022

Darüber hinaus betonte Silberbach, dass die Beschäftigten keinen Reallohnverlust hinnehmen dürften. Entsprechend hoch sei die Einkommensforderung. Ebenso sei die Stimmung bei vielen Mitgliedern der dbb Fachgewerkschaften angesichts der steigenden Energiepreise aufgeheizt und sorgenvoll: „Wenn wir uns im Frühjahr nicht auf eine vernünftige Lösung verständigen, wäre das echter sozialer Sprengstoff.“ Hinsichtlich der Rettungsaktionen des Staates für Unternehmen in der gegenwärtigen Gas- und zuvor in der Coronakrise unterstrich der dbb Bundesvorsitzende, es erzeuge „eine gefährliche Schieflage“, wenn der Staat marode Unternehmen rette, aber seine eigenen Beschäftigten finanziell nicht ausreichend ausstatte. „Schon heute haben zwei Drittel der Menschen kein Vertrauen mehr in den Staat“, sagte Silberbach unter Verweis auf die dbb Bürgerbefragung von Anfang September. Im Vorfeld der Einkommensrunde ausgesprochene Warnungen der Arbeitgeber, dass die Finanzlage des Staates keine Einkommensverbesserung für die Beschäftigten zuließe, wies der dbb Fachvorstand Tarifpolitik Volker Geyer entschieden zurück: „Dieses Mantra wird durch ständige Wiederholung nicht richtiger. Das Gegenteil stimmt: Wenn wir jetzt nicht in den öffentlichen Dienst und seine Beschäftigten investieren, bedeutet das nicht nur massive Reallohnverluste für die Kolleginnen und Kollegen, sondern auch eine nachhaltige Beschädigung der für die Überwindung der aktuellen Doppelkrise so wichtigen kritischen Infrastruktur Staat.“ Das bedeute, dass die Beschäftigten „ein sattes Pfund an Erhöhungen brauchen, ummit den wirtschaftlichen Problemen fertig zu werden, die jetzt und in der nächsten Zeit den Alltag prägen werden“. Die dbb jugend mahnt die Arbeitgeber, Nachwuchsgewinnung in dieser Einkommensrunde ernst zu nehmen: „Wir befinden uns inmitten mehrerer Krisen. Die Inflation und drohende Rezession trifft zunehmend junge Leute, die sich um die Sicherheit ihrer Zukunft sorgen. Auch sie müssen die steigenden Preise zahlen, obwohl ihnen meist wesentlich weniger Geld für ihre Lebenshaltungskosten zur Verfügung steht“, sagte der Vorsitzende der dbb jugend, Matthäus Fandrejewski, nach der Vorstellung der gewerkschaftlichen Forderungen. Eine Erhöhung der Ausbildungs- und Praktikantenentgelte um 200 Euro sowie die unbefristete garantierte Übernahme seien daher mehr als angemessen. Zudem sei sofortiges Handeln erforderlich, um rechtzeitig vor der prognostizierten Ruhestandswelle Nachwuchskräfte zu gewinnen: „Die Arbeitgeber müssen endlich einsehen, dass uns die Zeit davonläuft. Wir brauchen mehr junge Leute, und die bekommen wir nur, wenn wir den öffentlichen Dienst attraktiver gestalten. Unsere Forderungen sind ein wichtiger Schritt in diese Richtung.“ Auch die weiteren Kernforderungen hält der Vorsitzende der dbb jugend für richtig: „Es war und ist der öffentliche Dienst, der den Staat und die Gesellschaft in diesen anhaltenden Krisen am Laufen hält. Die Forderung nach einer Erhöhung der Tabellenentgelte um 10,5 Prozent, mindestens 500 Euro ist daher absolut angebracht.“ ■ „Die Beschäftigten brauchen jetzt ein sattes Pfund an Erhöhungen.“ Volker Geyer „Wir brauchen mehr junge Leute, und die bekommen wir nur, wenn wir den öffentlichen Dienst attraktiver gestalten.“ Matthäus Fandrejewski > Erhöhung der Tabellenentgelte um 10,5 Prozent, mindestens 500 Euro (Laufzeit 12 Monate) > Erhöhung der Ausbildungs- und Praktikantenentgelte um 200 Euro Die Kernforderungen Vom Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD) sind über 2,5 Millionen Beschäftigte direkt oder indirekt betroffen: fast 1,6 Millionen Arbeitnehmende des Bundes und der Kommunen sowie weiterer Bereiche, für die der TVöD direkte Auswirkungen hat. Weiter zählen Auszubildende, Praktikantinnen und Praktikanten sowie Studierende in ausbildungsintegrierten dualen Studiengängen ebenso dazu wie knapp 190 000 Bundesbeamtinnen und Bundesbeamte, Anwärterinnen und Anwärter. Auch soll der zu erzielende Tarifabschluss auf die mehr als 500 000 Versorgungsempfängerinnen und -empfänger beim Bund übertragen werden. Mittelbar hat die Einkommensrunde auch Auswirkungen für weitere Bereiche des öffentlichen Dienstes wie zum Beispiel die Bundesagentur für Arbeit (BA) und die Deutsche Rentenversicherung Bund (DRV Bund). Hintergrund © Jan Brenner Wie in der Einkommensrunde für Bund und Kommunen 2020 sind die Beschäftigten auch 2023 bereit, für ihr Anliegen auf die Straße zu gehen. AKTUELL 5 dbb magazin | November 2022

dbb Branchentage In Personal und Einkommen investieren Im Vorfeld der Forderungsfindung zur Einkommensrunde für die Beschäftigten von Bund und Kommunen hatten Kolleginnen und Kollegen aus vielen Sparten des öffentlichen Dienstes bis zur letzten Minute diskutiert. Einen regen Austausch gab es beim digitalen Branchentag der Gewerkschaft der Sozialversicherung (GdS) am 29. September 2022. Beschäftigte der Bundesagentur für Arbeit, der Deutschen Rentenversicherung Bund, der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung, der Deutschen Rentenversicherung Knappschaft-Bahn-See und der Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau sowie der GdSBundesjugendleitung signalisierten Engagement: „Es bleibt bei dem gewerkschaftlichen Grundsatz“, erklärte Siglinde Hasse, Geschäftsführerin der GdS und Verhandlungsführerin an vielen der betroffenen Tariftische, „wer nicht bereit ist, für seine Forderungen zu kämpfen, wird auch nichts bekommen.“ Diskutiert wurde nicht nur über Entgeltforderungen, sondern auch über Arbeitsbedingungen und den in der gesamten Verwaltung grassierenden Personalmangel. „Jetzt muss ein mutiger Schwenk der Arbeitgeber hin zu besserer Bezahlung erfolgen, sonst kann die Arbeitsfähigkeit der Sozialversicherung schon bald nicht mehr gewährleistet werden“, erklärte Volker Geyer, Fachvorstand Tarifpolitik des dbb. Am 5. Oktober 2022 fand der digitale Branchentag der Gewerkschaft Technik und Naturwissenschaft (BTB) statt. „Die völlig unklaren externen Faktoren machen aus der anstehenden Einkommensrunde mit Bund und Kommunen eine besonders große Herausforderung“, bekräftigte dbb Vize und Fachvorstand Beamtenpolitik Friedhelm Schäfer. „Wir stehen vor einer nie dagewesenen Situation, und aus meiner Sicht heißt das nicht, dass wir schicksalsergeben abwarten, wie sich alles entwickeln wird, sondern selbst eingreifen, zum Beispiel in der anstehenden Einkommensrunde.“ Sein Votum für eine hohe lineare Forderung fand die Zustimmung der Kolleginnen und Kollegen. Beim Branchentag des Verbands der Arbeitnehmer der Bundeswehr (VAB) am 6. Oktober 2022 in Kiel waren sich die Kolleginnen und Kollegen einig: Sicherheit hat ihren Preis. Und sie braucht gut bezahlte und motivierte Beschäftigte. „Durch die aktuelle Krisensituation ist die Bundeswehr zu Recht wieder mehr im Fokus der Politik. Es reicht aber nicht, wenn jetzt nur in Ausrüstung und Gerät investiert wird. Es muss auch in die Beschäftigten investiert werden“, forderte Volker Geyer. Auf dem Branchentag des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands (BLLV) am 7. Oktober 2022 diskutierten Lehrerinnen und Lehrer sowie Beschäftigte aus dem Bereich des Sozial- und Erziehungsdienstes mit BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann und dbb Tarifchef Volker Geyer. Dabei kamen nicht nur die Folgen der Coronapandemie, sondern auch die zusätzlichen Herausforderungen durch die aus der Ukraine geflüchteten Menschen zur Sprache. Neben Investitionen in Ganztagsbetreuung, Inklusion und Frühpädagogik müsse es auch eine spürbare Verbesserung bei der Bezahlung geben, so die einhellige Meinung. „Die Beschäftigten im Sozial- und Erziehungsdienst gehen seit Jahren an die Grenzen ihrer Belastbarkeit. In der bevorstehenden Einkommensrunde muss daher ein Zeichen der Wertschätzung gesetzt werden. Natürlich auch durch eine finanzielle Verbesserung“, so Fleischmann. Mit Mitgliedern der Flensburger komba sowie der vbob Fachgruppe beim Kraftfahrt-Bundesamt diskutierte Volker Geyer am 28. September 2023. Vor dem Hintergrund rasant steigender Preise für Energie und Lebensmittel fokussierte sich die Diskussion in Flensburg schnell auf die Bedeutung einer linearen Entgelterhöhung. „Die Lebenshaltungskosten sind massiv gestiegen, die Kolleginnen und Kollegen haben erneut eine tolle Leistung erbracht, also ist es nur recht und billig, dass die Einkommen spürbar ansteigen“, unterstrich Volker Geyer. Auch beim Branchentag der komba gewerkschaft in Nürnberg am 30. September 2022 standen die Herausforderungen durch dbb Tarifchef Volker Geyer auf dem Branchentag in München Lebhafte Diskussionen auch in Kiel Fachliche Diskussion im brandenburgischen Bollersdorf © Andreas Gebert © FriedhelmWindmüller © Kerstin Seipt 6 AKTUELL dbb magazin | November 2022

die Krisen imMittelpunkt: „Die Beschäftigten arbeiten seit Beginn der Pandemie imMärz 2020 durchgehend im Krisenmodus, es gibt einfach keine Atempause“, so Adalbert Abt, stellvertretender Bundesvorsitzender der komba. Am 20. September 2022 fand ein weiterer digitaler Branchentag mit den Beschäftigten aus dem Bereich des Sozial- und Erziehungsdienstes statt. Hier berichteten die Vertreterinnen und Vertreter der KEG offen von ihren Sorgen und Nöten. Volker Geyer: „Unser Land ist seit Jahren im Krisenmodus, so auch die Kindertagesstätten: Fachkräftemangel, immer neue gesetzliche Vorgaben und natürlich die Pandemie. Die Erzieherinnen und Erzieher gehen seit Jahren an ihre Grenzen. In der Einkommensrunde muss ein Zeichen der Wertschätzung gesetzt werden.“ Auch hier machten die Teilnehmenden deutlich, dass sie neben der Investition in die Ausbildung und bessere Arbeitsbedingungen eine signifikant spürbare Verbesserung bei der Bezahlung erwarten. Im brandenburgischen Bollersdorf hatte der Vorsitzende der komba brandenburg, Detlef Daubitz, am 22. September 2022 zum Branchentag eingeladen und seine Enttäuschung über die bisherige Krisenpolitik der Bundesregierung geäußert: „Es gibt viele Meldungen und große Hilfspakete, aber die Menschen in der Mitte der Gesellschaft wissen noch immer nicht, wie sie konkret unterstützt werden, um über den Winter zu kommen.“ Volker Geyer apellierte, „sich für Aktionen und Streiks bereitzuhalten, denn die Arbeitgeber werden uns im Januar 2023 ganz gewiss nichts schenken“. ■ Kolleginnen und Kollegen der komba in Flensburg Branchentag in Nürnberg © FriedhelmWindmüller © FriedhelmWindmüller

NACHRICHTEN Kritische Infrastruktur Zeit der Schönwetter-Daseinsvorsorge ist vorbei Die jüngste Sabotage an Nordsee-Pipelines und Bahnnetz sowie Probleme bei der Cybersicherheit belege den Handlungsbedarf beim Schutz der kritischen Infrastruktur, mahnt der dbb. Organisationen und Einrichtungen, die von zentraler Bedeutung für das Gemeinwesen sind, müssen auf ihre Sicherheit geprüft und mit der notwendigen personellen und sachlichen Ausstattung versehen werden. Fragen des Zivil- und Katastrophenschutzes haben eine ungleich höhere Bedeutung als noch vor einem Jahr. Auch wenn niemand ihn herbeireden möchte, muss auch an den Ernstfall gedacht werden. Eine Schönwetter-Daseinsvorsorge können wir uns nicht mehr leisten“, sagte der dbb Bundesvorsitzende Ulrich Silberbach am 19. Oktober 2022 beim Gewerkschaftstag des dbb Landesbundes von Sachsen-Anhalt in Wernigerode. In diesen kritischen Bereichen sei auf die eine oder andere Art der öffentliche Dienst gefordert. „Dort braucht es einen starken Staat. Doch genau dort wurde auch seit langer Zeit gespart, es mangelt fast überall an ausreichend Personal und einer angemessenen Ausstattung. Allerdings kann nur ein attraktiver öffentlicher Dienst ausreichend Beschäftigte anziehen und damit die Herausforderungen unserer Zeit bewältigen. Unsere Forderungen zur Einkommensrunde mit Bund und Kommunen sind dafür eine wichtige Maßnahme“, sagte Silberbach mit Blick auf die dbb Forderung nach einer 10,5 Prozent, mindestens 500 Euro höheren Bezahlung. Darüber hinaus sei eine Qualifizierungsoffensive durch umfangreiche Fort- und Weiterbildungsangebote ebenso notwendig wie flexiblere Arbeitsbedingungen. ■ Personalmangel im öffentlichen Dienst „Da wird einem angst und bange“ Vor der Einkommensrunde für die Beschäftigten von Bund und Kommunen hat dbb Chef Silberbach auf deren Bedeutung für die Personalgewinnung hingewiesen. Mit Blick auf die Bezahlung im öffentlichen Dienst sagte der dbb Bundesvorsitzende im Interview mit der „Rheinpfalz“ (Ausgabe vom 11. Oktober 2022): „Nehmen Sie das Bürgergeld. Eine Familie mit zwei Kindern erhält dadurch in Zukunft 1619 Euro. Dazu werden Miete und Heizkosten bezahlt – zwei Faktoren, die sich derzeit finanziell horrend bemerkbar machen. Ein Beschäftigter in der Einkommensgruppe A 7, also mittlerer Dienst, kommt mit zwei Kindern brutto auf rund 3000 Euro, wovon noch die Krankenversicherung und die Steuer abgehen. Letztlich beträgt die Differenz zum Bezieher des Bürgergelds knapp 400 Euro – wovon er aber noch Wohnung und Heizung selbst bezahlen muss. Da stimmt etwas nicht, wenn wir Beschäftigte des öffentlichen Dienstes gleichstellen mit Beziehern von Bürgergeld. Mir geht es hier nicht darum, Sozialneid zu schüren. Das Bürgergeld ist der richtige Ansatz, aber die Beschäftigten im öffentlichen Dienst müssen auch richtig bezahlt werden.“ Der Personalmangel sei jetzt schon enorm, betonte Silberbach: „Wir haben zu wenig Personal, die Beschäftigten kommen mit ihrer Arbeit nicht mehr nach. Wenn die öffentlichen Arbeitgeber jetzt versuchen, weitere Sparrunden zu fahren, verlieren wir jede Wettbewerbsfähigkeit auf dem Arbeitsmarkt. Deshalb muss bei den Einkommen nachgelegt werden.“ Erschwerend komme hinzu, dass es in der Fläche nicht genug Stellenzuwächse gegeben habe: „Der Bund hat beim Personal aufgestockt, etwa bei der Bundespolizei. In den Ländern sieht das anders aus. Wir haben gerade eine Grundsteuerreform, die in den Finanzämtern umgesetzt werden muss. Wenn man sich dann anschaut, wie die Personalsituation und die technische Ausstattung in diesen Ämtern ist, wird einem angst und bange. Die Kolleginnen und Kollegen bekommen permanent neue Aufgaben und sind gar nicht mehr in der Lage, diese zu bewältigen, weil sie noch einen Berg an Altlasten vor sich herschieben.“ ■ Model Foto: Colourbox.de Foto: graja/Colourbox.de 8 AKTUELL dbb magazin | November 2022

Vereinbarkeit von Pflege und Beruf Pflege muss sich lohnen Bessere Bedingungen für die häusliche Pflege hat der dbb Bundesvorsitzende Ulrich Silberbach zum Europäischen Tag der pflegenden Angehörigen gefordert. Model Foto: Colourbox.de Wer sich kümmert, sollte dafür belohnt werden. Doch das Gegenteil ist der Fall: Wer Angehörige pflegt, erhöht sein Risiko, arm zu werden. Dagegen können nur strukturelle Lösungen helfen. Aus unserer Sicht ist die Einführung einer Lohnersatzleistung für Menschen, die privat pflegen, ein sozialpolitisch zwingender Baustein – vor allem angesichts der kriegs- und krisenbedingten Teuerung der Lebenshaltungskosten“, mahnte dbb Bundesvorsitzender Ulrich Silberbach am 6. Oktober 2022, dem Europäischen Tag der pflegenden Angehörigen. Wie eine solche steuerfinanzierte Entgeltersatzleistung für pflegende Angehörige aussehen sollte, hatte der vom Bundesfamilienministerium eingesetzte unabhängige Beirat zur Vereinbarkeit von Pflege und Beruf – in dem der dbb Mitglied ist – bereits Ende August 2022 in einem Bericht vorgestellt. Auch dbb frauen und dbb Senioren unterstützen eine entsprechende Umsetzung noch in dieser Legislaturperiode. Lösungen für Langzeitpflegende fehlen Bisher fehlen laut Horst Günther Klitzing, Vorsitzender der dbb Senioren, vor allem Regelungen, die gerade langzeitpflegende Angehörige vor Altersarmut schützen. „Pflegende Angehörige sind nicht nur die größte Stütze der Pflegeversicherung in Deutschland, sondern auch die am schlechtesten bezahlten Pflegekräfte. Und kritisch wird das vor allem dann, wenn die Pflegenden selbst hilfebedürftig werden. Denn obwohl für die Pflege als Angehöriger Versicherungsbeiträge je nach Höhe des Pflegegrades und aufgewendeter Zeit an die Rentenversicherung abgeführt werden, spielt das für die spätere Rente kaum eine Rolle“, warnte Klitzing. Pflege bringt vor allem Frauen in finanzielle Not Dieses Schicksal treffe vor allem Frauen im Alter hart, verdeutlichte dbb frauen Chefin Milanie Kreutz einmal mehr. „In mehr als 70 Prozent der Fälle werden Pflegebedürftige zu Hause in der Hauptsache von Frauen versorgt, oft genug zusätzlich zu Berufstätigkeit, Kinderbetreuung und Haushalt. Viele schrauben dann ihre Arbeitszeiten herunter. In der Folge reduzieren sich ihre Ansprüche auf Alterssicherung. Vielen bleibt im Ruhestand dann nur noch das Existenzminimum“, so Kreutz. Zudem verschärften steigende Energiekosten, hohe Mieten und zunehmende Lebensmittelpreise die finanzielle Not vieler pflegender Frauen. „Dass ausgerechnet diejenigen, die anderen im Alter unter die Arme greifen, am stärksten von Altersarmut betroffen sind, können und dürfen wir als Gesellschaft nicht akzeptieren“, mahnte Kreutz. Hintergrund Schätzungsweise rund 4,1 Millionen Menschen sind in Deutschland aktuell pflegebedürftig. Rund 80 Prozent von ihnen werden zu Hause versorgt, davon 2,1 Millionen ausschließlich durch ihre Angehörigen. Jeder fünfte pflegende Angehörige ist laut einer aktuellen Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) im Auftrag des Sozialverband VdK von Armut bedroht. Bei pflegenden Frauen liegt der Anteil bei rund einem Viertel (24 Prozent). Zum Vergleich: Das Armutsrisiko beläuft sich im Bundesdurchschnitt auf 16 Prozent. ■ AKTUELL 9 dbb magazin | November 2022

VORGESTELLT „Um substanzielle Fortschritte bei der Digitalisierung des Staates zu erreichen, muss dringend in eine bessere Sach- und Personalausstattung investiert werden.“ Ulrich Silberbach, dbb Bundesvorsitzender Foto: Colourbox.de eGovernment MONITOR 2022 Mangelhafte Digitalisierung befördert Zweifel an der Leistungsfähigkeit des Staates In Deutschland traut nur noch ein Viertel der Bürgerinnen und Bürger dem Staat zu, dass alle Verwaltungsleistungen in absehbarer Zeit online angeboten werden. Das ist ein zentrales Ergebnis des am 12. Oktober in Berlin vorgestellten eGovernment MONITOR 2022 der Initiative D21, an dem sich der dbb erstmalig als Partner beteiligte. Die Ergebnisse des eGovernment MONITORS 2022 decken sich mit denen unserer aktuellen dbb Bürgerbefragung – das Vertrauen der Bevölkerung in die staatliche Leistungsfähigkeit ist auf einem Tiefstand. Wenn nur noch 23 Prozent der Befragten glauben, dass der Staat gravierende Krisen gut meistern kann, müssen bei den politischen Verantwortlichen alle Alarmglocken angehen. Wir brauchen dringend einen Modernisierungs- und Investitionsschub für den öffentlichen Dienst, um aktuelle und künftige Herausforderungen meistern zu können. Schon heute fehlen Bund, Ländern und Kommunen 360000 Beschäftigte“, sagte der dbb Bundesvorsitzende Ulrich Silberbach am 12. Oktober 2022 in Berlin. Aus den Studienergebnissen wird deutlich, dass fehlende oder schlecht umgesetzte Verwaltungsdienstleistungen und eine mangelhafte Digitalisierung im Bildungsbereich langfristig eine Gefahr für die Akzeptanz von Verwaltung und Staat darstellen. Viel Vertrauen wurde insbesondere bei der Digitalisierung der Verwaltung verspielt. Das prominenteste Beispiel hierfür ist die Umsetzung des Onlinezugangsgesetzes (OZG). Deutschland hatte sich mit der Umsetzung des OZG hohe Ziele für die Verwaltungsdigitalisierung gesetzt: Die Bilanz bisher ist jedoch ernüchternd. „Bund, Länder und Kommunen sind meilenweit davon entfernt, wie geplant alle 575 Leistungen aus dem Onlinezugangsgesetz bis zum Jahresende in der Fläche und vollständig digital anbieten zu können. Die Erwartungen der Bevölkerung wie auch der Beschäftigten des öffentlichen Dienstes sind immens, dass jetzt endlich Fortschritte bei der Digitalisierung erzielt werden“, machte der dbb Bundesvorsitzende deutlich. „Der Vertrauensverlust in die staatliche Leistungsfähigkeit ist ein Resultat der jahrzehntelangen Sparpolitik auf Kosten von Behörden, Verwaltung und Infrastruktur. Um substanzielle Fortschritte bei der Digitalisierung des Staates zu erreichen, muss dringend in eine bessere Sach- und Personalausstattung investiert werden. Außerdemmuss das Kompetenz- und Verantwortungsdurcheinander zwischen Bund, Ländern und Gemeinden bei der Digitalisierung endlich ein Ende haben“, forderte der dbb Chef. Aktuelle E-Government-Nutzung Bei der Nutzung digitaler Verwaltungsleistungen ist im Vergleich zum Vorjahr kaum Bewegung zu sehen. Die Herausgeber der Studie kommen zu dem Fazit, dass der Staat die beabsichtigte Wirkung seiner Online-Dienste nur durch mehr Bekanntheit und eine höhere Zufriedenheit erreichen kann. Um E-Government-Angebote nutzen zu können, müssen die Bürgerinnen und Bürger wissen, dass die Leistung bei Bedarf online wahrgenommen werden kann und wo sie ihr Anliegen online abwickeln können. Die Studienergebnisse zeigen deutlich, dass bereits bestehende E-Government-Angebote noch nicht in der Breite der Gesellschaft bekannt sind. Exemplarisch hierfür ist, dass 44 Pro10 AKTUELL dbb magazin | November 2022

zent der Befragten das Kindergeld offline beantragt haben, ohne die Online-Alternative zu kennen. Digitale Bildung in den Schulen Ein Bestandteil des diesjährigen eGovernment MONITORs ist auch das Thema Digitalisierung der Schulen. Dabei stand die Frage, wo die deutschen Schulen im Jahr 2022 in Sachen Digitalisierung aus Perspektive der Eltern stehen, im Zentrum der Befragung. Die Ergebnisse zeigen, dass vielerorts wichtige Grundvoraussetzungen, um die Lernenden auf ein Leben im digitalen Zeitalter vorzubereiten, nicht erfüllt sind. Weder die im Rahmen des DigitalPaktes Schule bereitgestellten Mittel noch der pandemiebedingte Digitalisierungsschub haben bisher in Deutschland ausgereicht, um das Schulsystem in Bezug auf moderne Technologien und die Entwicklung von Digitalkompetenzen deutlich voranzubringen. Die Probleme sind grundlegend. So haben zum Beispiel nur 62 Prozent der Schülerinnen und Schüler die Möglichkeit, einen Internetzugang in ihrer Schule zu nutzen. Kritisiert wird auch die mangelhafte Geräteausstattung an den Schulen. Nur jeder zweite Elternteil zeigt sich mit dieser zufrieden. Als größte Hürden für den digitalen Schulunterricht werden von den Eltern zudem fehlendes Personal, fehlende finanzielle Mittel und nicht vorhandenes digitales Lehrmaterial genannt. Die Studienergebnisse zeigen deutlich, dass noch erheblicher Handlungsbedarf aufseiten der Politik besteht, um die Schulen fit für das digitale Zeitalter zu machen. jbr ... des großen deutschen Digitalisierungsnetzwerks von Politik, Wirtschaft und Verwaltung, Initiative D21, dem auch der dbb angehört, untersucht seit 2010 den Fortschritt der digitalen Transformation in Verwaltung und Staat. Im Fokus stehen dabei die Bekanntheit und Akzeptanz von digitalen Verwaltungsleistungen bei den Bürgerinnen und Bürgern sowie die Nutzung entsprechender Angebote. Erstmalig wurde in dem diesjährigen Bericht auch das Vertrauen der Bevölkerung in die staatliche Leistungsfähigkeit abgefragt. https://initiatived21.de/egovmon22/ Der eGovernment MONITOR ...

ZOOM 4 Sitzungstage 631 stimmberechtigte Delegierte Modernes elektronisches Abstimmungsverfahren Mehr als 10 000 Quadratmeter Tagungsfläche 908 Anträge an den Gewerkschaftstag, darunter 35 Leitanträge 15 Veranstaltungen 16 Aussteller Rund 370 Gastdelegierte und Ehrengäste dbb Gewerkschaftstag 2022 Das Event in Zahlen Alle fünf Jahre tagt der Gewerkschaftstag als höchstes Beschlussgremium des dbb in Berlin. Selbst in der Hauptstadt ist es nicht leicht, einen geeigneten Tagungsort für mehr als 1000 Menschen zu finden. Das Estrel Congress Center (ECC) in Berlin-Neukölln bietet die nötigen Ressourcen. © Estrel 12 AKTUELL dbb magazin | November 2022

DBB GEWERKSCHAFTSTAG 2022 Wahlen der dbb Führungsspitze Ihre Kandidatur für die Bundesleitung ... ... haben bis zum Redaktionsschluss dieser Ausgabe 14 Personen erklärt, die in den Mitgliedsgewerkschaften, Landesbünden oder auf Bundesebene des dbb verantwortungsvolle Positionen bekleiden. Das dbb magazin präsentiert die Kandidierenden in alphabetischer Reihenfolge und informiert, wer sich bei den Wahlen am 28. November 2022 umwelches Amt bewirbt. ◼ geboren am 3. Mai 1961 in Solingen ◼ Mitglied der gkl berlin im dbb beamtenbund und tarifunion ◼ 2000 bis 2001 Vorsitzender der dbb jugend bund ◼ 1996 bis 2013 stellvertretender Landesvorsitzender dbb berlin ◼ seit 2013 Landesvorsitzender dbb berlin ◼ geboren am 6. Mai 1965 in Hirschberg/Saale ◼ Mitglied im Verband Deutscher Realschullehrer (VDR) ◼ seit 2010 Bundesvorsitzender des VDR ◼ seit 2017 stellvertretender dbb Bundesvorsitzender ◼ geboren am 14. Juli 1970 in München ◼ Mitglied im Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverband (BLLV) im Verband Bildung und Erziehung (VBE) ◼ seit 2015 Präsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands ◼ seit 2015 stellvertretende Bundesvorsitzende des VBE Frank Becker Jürgen Böhm Simone Fleischmann ALS STELLVERTRETENDE BUNDESVORSITZENDE ▶ ◼ geboren am 27. August 1961 in Köln ◼ Mitglied der komba gewerkschaft ◼ 2011 bis 2017 Bundesvorsitzender der komba gewerkschaft ◼ 2011 bis 2017 stellvertretender dbb Bundesvorsitzender ◼ seit 2017 dbb Bundesvorsitzender Ulrich Silberbach ALS BUNDESVORSITZENDER © Marco Urban ◼ geboren am 9. November 1965 in Lisberg ◼ Mitglied der DPVKOM (Kommunikationsgewerkschaft DPV) ◼ 2007 bis 2017 Bundesvorsitzender der DPVKOM ◼ seit 2017 stellvertretender Bundesvorsitzender des dbb und Fachvorstand Tarifpolitik Volker Geyer ALS FACHVORSTAND TARIFPOLITIK © Marco Urban © Marco Urban © Jan Roeder ◼ geboren am 17. August 1957 in Bassum ◼ Mitglied der Deutschen Steuer-Gewerkschaft (DStG) ◼ 2001 bis 2017 Vorsitzender des NBB Niedersächsischer Beamtenbund und Tarifunion ◼ seit 2017 Zweiter Vorsitzender des dbb und Fachvorstand Beamtenpolitik Friedhelm Schäfer ALS FACHVORSTAND BEAMTENPOLITIK © Marco Urban © Stromnetz Berlin/Fabian Starosta AKTUELL 13 dbb magazin | November 2022

◼ geboren am 19. September 1964 in Emsdetten ◼ Mitglied der komba gewerkschaft ◼ seit 2012 stellvertretender Vorsitzender der dbb Bundestarifkommission ◼ 2014 bis 2017 stellvertretender Bundesvorsitzender der komba gewerkschaft ◼ seit 2017 Bundesvorsitzender der komba Gewerkschaft Andreas Hemsing ◼ geboren am 17. August 1968 in Rottweil ◼ Mitglied der Deutschen Steuer-Gewerkschaft (DSTG) ◼ 2012 bis 2017 stellvertretender Vorsitzender des BBW – Beamtenbund Tarifunion (Baden-Württemberg) ◼ seit 2017 Vorsitzender des BBW Kai Rosenberger ◼ geboren am 3. August 1982 in Regensburg ◼ Mitglied der Deutschen Steuer-Gewerkschaft (DSTG) ◼ 2018 bis 2022 stellvertretender Bundesvorsitzender der DSTG ◼ seit 2022 Bundesvorsitzender der DSTG Florian Köbler ◼ geboren am 13. November 1972 in Itzehoe ◼ Mitglied der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG) ◼ seit 2019 Bundesvorsitzender der DPolG Bundespolizeigewerkschaft ◼ seit 2021 stellvertretender Bundesvorsitzender der DPolG Heiko Teggatz ◼ geboren am 20. Dezember 1973 in Köln ◼ Mitglied der Deutschen Steuer-Gewerkschaft (DSTG) ◼ seit 2012 Vorsitzende der DSTG-Bundesfrauenvertretung ◼ 2015 bis 2020 Beisitzerin in der Geschäftsführung der dbb bundesfrauenvertretung ◼ seit 2020 Vorsitzende der dbb bundesfrauenvertretung Milanie Kreutz ◼ geboren am 9. November 1968 in Brehna bei Bitterfeld ◼ Mitglied der Gewerkschaft der Sozialversicherung (GdS) ◼ seit 2012 Bundesvorsitzender der GdS ◼ 2003 bis 2014 Vorsitzender des dbb beamtenbund und tarifunion sachsen-anhalt ◼ seit 2017 stellvertretender dbb Bundesvorsitzender Maik Wagner ◼ geboren am 22. Juli 1964 in Nürnberg ◼ Mitglied der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG) ◼ 2017 bis 2020 Landesvorsitzender der DPolG Bayern ◼ 2016 bis 2020 stellvertretender Vorsitzender des Bayerischen Beamtenbundes (BBB) ◼ seit 2020 Vorsitzender des BBB Rainer Nachtigall ◼ geboren am 18. Februar 1959 in Dresden ◼ Mitglied der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) ◼ seit 2008 Bundesvorsitzender der GDL ◼ seit 2012 stellvertretender dbb Bundesvorsitzender Claus Weselsky ALS STELLVERTRETENDE BUNDESVORSITZENDE © FriedhelmWindmüller © Boris Trenkel © DPolG © Marco Urban © Marco Urban © SWR/Patricia Neligan © Andreas Gebert © Businessfotografie Inga Haar 14 AKTUELL dbb magazin | November 2022

ARBEITNEHMERRECHTE EuGH-Urteil Wann Urlaubsansprüche nicht verfallen Der Europäische Gerichtshof (EuGH) fällt immer wieder Urteile, die wichtige Maßstäbe für die Anwendung nationalen Arbeits- und Sozialrechts setzen. Aktuell ist das mit Blick auf die Unverfallbarkeit von Urlaubsansprüchen der Fall. Besonders die europäische Arbeitszeitrichtlinie ist immer wieder Grundlage für wichtige Gerichtsentscheidungen. Der EuGH gründet seine Urteile auf die europäische Zuständigkeit für den Arbeitsschutz. Damit wird auch das deutsche Arbeitsrecht erheblich durch europäische Arbeitsschutzrichtlinien bestimmt. Die Europäische Union hat nur begrenzte sozialpolitische Kompetenzen. Sie hat aber überall da erhebliche Einwirkungsmöglichkeiten, wo es um das Funktionieren des Binnenmarktes geht. Schlechte Arbeitsbedingungen können den Wettbewerb im Binnenmarkt verzerren. Deshalb wurde bereits 1989 von der damaligen Europäischen Gemeinschaft die Rahmenrichtlinie zum Arbeitsschutz angenommen. Ihre Inhalte und weitere darauf aufbauende Richtlinien prägen das deutsche Arbeitszeitgesetz und, soweit anwendbar, auch die Arbeitszeitverordnungen im öffentlichen Dienst. Die Anwendung des Begriffs „Arbeitnehmer“ ist in Europa also sehr weit gefasst. Um Schlupflöcher für Schlechterstellungen in den Mitgliedstaaten zu vermeiden, wird der Begriff Arbeitnehmer in der EU bewusst auf alle Beschäftigten angewandt. Somit gelten die europäischen Mindestschutznormen prinzipiell für alle Beschäftigten. Dies kann in Deutschland zu unbeabsichtigten Normenkollisionen zwischen dem EU-Recht und dem Beamtenrecht führen, denn nach deutschem Recht sind Beamte keine Arbeitnehmer. In der Regel werden Konflikte zwischen europäischem und öffentlichem Dienstrecht dadurch vermieden, dass die EU das öffentliche Dienstrecht als eigenständigen Rechtskreis im Hoheitsbereich der Mitgliedstaaten respektiert und anerkennt, dass es darin angemessene Schutzregeln im Sinne auch der europäischen Mindestschutznormen gibt beziehungsweise dass diese durch andere, eigenständige Regelungen voll kompensiert werden. Ähnlich verhält es sich nun mit Blick auf die aktuelle EuGH-­ Entscheidung zum Urlaubsanspruch von Arbeitnehmern vom 22. September 2022 (C-120/21). Das Bundesarbeitsgericht hatte dem EuGH drei bei ihm anhängige Verfahren zur Vorabentscheidung vorgelegt. Das geschieht immer dann, wenn höchste deutsche Gerichte um eine Klärung europarechtlicher Fragen für ihre abschließende Entscheidung bitten. Sie sind sodann in der europarechtlichen Auslegung ihres abschließenden Urteils an die Entscheidung des EuGHs gebunden. Der EuGH entschied nun, dass die Arbeitszeitrichtlinie und die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, die ein Recht auf bezahlten Jahresurlaub vorsieht, so auszulegen sind, dass der Anspruch eines Arbeitnehmers auf bezahlten Jahresurlaub nur dann erlöschen kann, wenn der Arbeitgeber ihn rechtzeitig in die Lage versetzt hat, seinen Urlaubsanspruch geltend zu machen. Daraus ergibt sich, dass der Urlaubsanspruch finanziell abgegolten werden muss, wenn der Arbeitnehmer dauerhaft krank oder erwerbsunfähig wird beziehungsweise nach seiner Genesung bereits in Rente ist und vor Renteneintritt oder krankheitsbedingt keine Möglichkeit mehr bekam, seinen Urlaubsanspruch geltend zu machen. Für die Beschäftigten mit Arbeitsverträgen ist diese Entscheidung gewerkschaftspolitisch begrüßenswert. Für Beamtinnen und Beamte stellt sich dieser Problemkreis aber so nicht. Denn anders als für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer (nach deutschem Recht) gilt für die Beamtinnen und Beamten der Grundsatz der Alimentation. Das bedeutet, dass die Beamten auch bei langer Krankheit keine Verluste bei der Besoldung haben, während die angestellten Beschäftigten nach sechs Wochen statt Arbeitslohn nur Krankengeld bekommen. Ähnlich sind wohl Fallkonstellationen zu beurteilen, in denen Ruhestand und Versorgung auf die Erkrankung folgen. Es bleibt daher zunächst abzuwarten, wie das BAG die Vorgaben des EuGH umsetzt. cm Der dbb begrüßt die Entscheidung des EuGH zum Fortbestand von Urlaubsansprüchen, da sie die Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer stärkt. Für das Beamtenrecht in Deutschland, das dem Alimentationsgrundsatz unterliegt und einen eigenständigen Rechtskreis darstellt, ist hingegen ein gutes und weitreichendes Schutzniveau vorhanden, sodass dieses Urteil nur bedingt Anwendung finden kann. dbb begrüßt Stärkung der Arbeitnehmendenrechte Foto: Colourbox.de AKTUELL 15 dbb magazin | November 2022

Lisa Paus, Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Chancengerechtigkeit darf nicht vomWohnort abhängig sein Der öffentliche Dienst gilt als familienfreundlich und ist daher vor allem für Frauen, die weiterhin den Löwinnenanteil der Care-Arbeit übernehmen, ein attraktiver Arbeitgeber. Doch wenn es um Leitungspositionen geht, sind weibliche Führungskräfte noch immer in der Minderheit. Wie kommen wir hier endlich voran? Da hat sich in den vergangenen Jahren schon einiges getan. 2015 ist das Erste Führungspositionengesetz in Kraft getreten. Damals lag der Anteil von Frauen an allen Leitungsfunktionen in der gesamten Bundesverwaltung bei 33 Prozent. Heute stehen wir bei 36 Prozent in der gesamten Bundesverwaltung und in den obersten Bundesbehörden sogar bei 39 Prozent. Gemessen daran, dass 52 Prozent aller Beschäftigten in der Bundesverwaltung Frauen sind, ist diese Entwicklung aber noch nicht zufriedenstellend. Wir müssen das Tempo weiter erhöhen. Darum haben wir uns im öffentlichen Dienst des Bundes mit dem Zweiten Führungspositionengesetz das ehrgeizige Ziel gesetzt, bis Ende 2025 alle Führungspositionen paritätisch zu besetzen. © Laurence Chaperon INTERVIEW 16 FOKUS dbb magazin | November 2022

Das Problem ist, dass auch im öffentlichen Dienst die Vereinbarkeit von Beruf und Familie immer noch ein Hindernis ist. Viele Frauen arbeiten Teilzeit, das darf aber nicht länger ein Karrierehemmnis sein. Wir brauchen daher eine faire Verteilung von Sorgearbeit, und dafür müssen wir die Rahmenbedingungen schaffen. Klar ist: Immer mehr Frauen wollen Familie und Karriere. Sie wollen Verantwortung für ihre Kinder und im Beruf übernehmen. Nur elf Prozent der Führungskräfte im höheren Dienst arbeiten aktuell in Teilzeit, 73 Prozent davon sind Frauen. Führen in Teilzeit ist im öffentlichen Dienst genauso wie in der freien Wirtschaft noch die Ausnahme. Gemeinsammit der dbb bundesfrauenvertretung wollen wir das mit demModellprojekt „Führen in Teilzeit“ ändern. Ziel ist es, Teilzeitmodelle als Standardarbeitsverhältnisse anzuerkennen, beginnen wollen wir mit den obersten Bundesbehörden. Mein Ministerium nimmt da übrigens eine Vorreiterrolle ein: Es hat von allen Ressorts den höchsten Frauenanteil an allen Leitungsfunktionen: 62 Prozent. In 20 der 23 obersten Bundesbehörden sind aber immer noch weniger Frauen als Männer in Führungspositionen beschäftigt. Das zeigt: Der Weg ist noch lang. Es heißt, die Vereinbarkeit von Privatleben und Beruf sei gerade für junge Menschen wichtig, außerdem suchen viele von ihnen nach einem sinnstiftenden Job mit gesellschaftlichem Mehrwert. In diesen Bereichen kann der öffentliche Dienst punkten. Aber reicht das, um den Nachwuchsmangel im Staatsdienst zu bewältigen? Ich freue mich, dass das Bundesfamilienministerium und seine Behörden attraktive Arbeitgeber sind. Dabei spielt neben der Sicherheit des öffentlichen Dienstes auch eine Rolle, dass die Beschäftigten sich in unsere gesellschaftspolitischen Aufgaben einbringen wollen. Ob Demokratieförderung oder Gleichstellung, Familien- oder Jugendpolitik, unsere Themen sind ganz nah dran an den Menschen in unserem Land. Daneben ist aber auch wichtig, dass wir imMinisterium selbst leben, was wir für richtig halten: Schon seit Jahren – und nicht erst seit der Pandemie – bieten wir viele individuell zugeschnittene Modelle flexibler und mobiler Arbeit. Allerdings gibt es auch bei uns Bereiche, in denen uns die Gewinnung qualifizierter Beschäftigter immer schwerer fällt, etwa in der IT. Ein weiterer Aspekt zum Thema „Vereinbarkeit“: Der von IhremMinisterium eingesetzte unabhängige Beirat für die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf, dem auch der dbb angehört, hat ein Konzept zur Ausgestaltung einer steuerfinanzierten Entgeltersatzleistung für pflegende Angehörige erarbeitet. Gibt es schon konkrete Pläne, wann und wie das Vorhaben umgesetzt wird? Die Weiterentwicklung der Familienpflegezeit und die Einführung eines Familienpflegegeldes sind von größter Bedeutung und haben eine gesamtgesellschaftliche Dimension. Wir wollen hier einen sozialpolitischen Paradigmenwechsel herbeiführen. In meinemMinisterium wird deshalb mit Hochdruck an der Umsetzung gearbeitet. Ein erstes Eckpunktepapier zum künftigen Familienpflegezeitgesetz wird gerade erarbeitet. Ein funktionierende Kitalandschaft ist nicht nur wichtig für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Die frühkindliche Bildung, Erziehung und Betreuung in den ersten Lebensjahren sind vor allem entscheidend für die spätere Entwicklung der Kinder. Die Bundesregierung will deshalb eine Gesamtstrategie gegen den Fachkräftemangel in Erziehungsberufen entwickeln. Welche Bausteine sind dafür aus Ihrer Sicht zentral? Und welche konkreten Schritte sind geplant, um nicht nur den Umfang, sondern auch die Qualität der frühkindlichen Bildung sicherzustellen? Gut ausgebildete und motivierte Erzieherinnen und Erzieher sind Garanten dafür, dass Kitas auch ihre Aufgabe als frühkindliche Bildungsstätten erfüllen. Allerdings fehlt in vielen Kitas Personal, deshalb entwickelt der Bund gemeinsammit den Ländern und weiteren Akteuren eine Gesamtstrategie zur Fachkräftesicherung in den Erziehungsberufen. Damit wollen wir die Aus- und Weiterbildung stärken, Karrierechancen schaffen, finanzielle Hürden in der Ausbildung abbauen und die Arbeitsbedingungen verbessern. Mit dem Kita-Qualitätsgesetz stellen wir außerdem 2023 und 2024 insgesamt vier Milliarden Euro zur Verfügung. Damit können die Länder die Rahmenbedingungen für die Fachkräfte und die Qualität der Angebote verbessern, zum Beispiel mit besseren Personalschlüsseln oder der Qualifizierung von Fachkräften. Das nächste Ziel ist dann ein Qualitätsentwicklungsgesetz mit bundesweiten Standards für die Kindertagesbetreuung. Chancengerechtigkeit beginnt mit qualitativ guter frühkindlicher Bildung und darf nicht vomWohnort abhängig sein. In Deutschland setzen sich jährlich etwa 31 Millionen Menschen ehrenamtlich für die Gesellschaft ein, auch zum Beispiel in Gewerkschaften. Haben Sie Pläne, dieses Engagement zu unterstützen, etwa mit einem gesetzlichen Anspruch auf Sonderurlaub beziehungsweise Dienst-/Arbeitsbefreiung für ehrenamtliche Tätigkeiten? Und wie kann sichergestellt werden, dass die dort erworbenen vielfältigen Fähigkeiten im Beruf auch Anerkennung finden? Ich finde es großartig, dass sich in unserem Land so viele Menschen freiwillig engagieren und für andere einsetzen, ob im Sportverein, in der Nachbarschaftshilfe oder bei der Unterstützung von Geflüchteten. Mein Ministerium fördert das ehrenamtliche Engagement und will auch Menschen, die einer Beschäftigung nachgehen, für eine ehrenamtliche Tätigkeit begeistern. Für die Bundesbeschäftigten haben wir zum Beispiel gute Regelungen, die die Ausübung ehrenamtlicher Tätigkeiten durch Gewährung von Sonderurlaub oder Arbeitsbefreiung unterstützen und anerkennen. Vergleichbare Vereinbarungen durch die Tarifpartner wären passgenauer, als es eine allgemeine gesetzliche Regelung sein könnte. ■ Auch im öffentlichen Dienst ist die Vereinbarkeit von Beruf und Familie immer noch ein Hindernis. Wir brauchen eine faire Verteilung von Sorgearbeit. FOKUS 17 dbb magazin | November 2022

REPORTAGE Ausbildung im öffentlichen Dienst Kein Idyll Ländliche Regionen stehen vor der schwierigen Aufgabe, die Personallücken, die die Babyboomer reißen, mit frisch ausgebildetem Nachwuchs auszugleichen. Aber spielen die Schulabgänger in Sachsen-Anhalt da überhaupt mit? Die frühere Schuhfabrik beherbergt heute die Berufsbildenden Schulen „Conrad Tack“. Burg liegt an der Straße der Romanik: Unterkirche St. Nicolai Wer von Berlin in Richtung Westen fährt, kann im Vorbeifahren erleben, wie sich die Landschaft leert. Die Orte werden kleiner, die Autobahnausfahrten kommen seltener. Wälder, Felder, Seen, am Horizont mal eine rote Backsteinkirche oder sogar ein Burgfried. Eine ländliche Idylle, die hinter Potsdam beginnt und bis kurz vor die Elbbrücken bei Magdeburg reicht. Auch ein solches Idyll will verwaltet werden – schon damit es eines bleibt. Und weil die Menschen, die das hier seit den frühen Neunzigerjahren tun, sich langsam dem Ruhestand nähern, muss verstärkt ausgebildet werden. Der Fachkräftemangel macht sich auch im Land Sachsen-Anhalt deutlich bemerkbar. Wie gehen Landkreise mit dem Problem um? Wie finden sie geeignete Bewerber? Wie können sie im Landkreis gehalten werden? Fragen, die wir dem Landrat des Kreises Jerichower Land in Burg stellen wollen. Wir treffen Dr. Steffen Burchardt, einen agilen Mann um die 40, in seinem Büro im Landratsamt. Erstmals zog der SPDMann 2014 in den sanierten Verwaltungsbau aus der Kaiserzeit am Rande der Burger Altstadt. 2021 ist er mit Zweidrittelmehrheit wiedergewählt worden. Burchardt leitet eine Kreisverwaltung mit 530 Personen. Davon seien lediglich 50 verbeamtet. Von denen könnten schon jetzt nur etwa 50 Prozent besetzt werden. Weil das mittlere Alter in der öffentlichen Verwaltung des Kreises fehle, werden auch Quereinstiege ermöglicht, sagt der Landrat. Gebraucht würden aber auch deshalb mehr Mitarbeiter, weil inzwischen fast ein Drittel der Beschäftigten in Teilzeit arbeitete. Die Hälfte der Belegschaft mache den Job zudem teils von zu Hause aus. Unverbaute, weite Horizonte – die durchreisenden Großstädter lieben es. Die wenigen, die hier im Landkreis Jerichower Land leben, lieben es auch. Der Kreis hat nämlich eine Menge Platz für seine fast 90000 Einwohner: Die Bevölkerungsdichte liegt bei lediglich 56 Menschen pro Quadratkilometer – in Berlin sind es 4123. Die Liebe zur Heimat verlangt den Hiesigen Entbehrungen ab: Entbehrt werden hier zum Beispiel Bäcker, Lebensmittelhändler und Fachärzte, Postfilialen und Bahnhöfe, an denen Züge auch halten. Schulen mussten mangels Kindern schließen. Busse verkehren mancherorts, wenn überhaupt, nicht stündlich, sondern höchstens ein paarmal täglich. Die Einwohner waren in den ersten zwei Jahrzehnten nach der Wende von Schrumpfungsschmerzen geplagt und die Nachwirkungen spürt man bis heute. Als nach der Wende die beiden großen Arbeitgeber in der Kreisstadt Burg, die VEB Schuhfabrik „Roter Stern“ und der VEB Burger Bekleidungswerke dichtmachten, blieben vor allem die Kranken, die Alten und die schlecht Ausgebildeten. Die Jungen, die Flexiblen und die Akademiker zogen der Arbeit hinterher und kehrten zu selten zurück. Vor allem die jungen Frauen sahen für sich damals keine Perspektive, was dazu geführt hat, dass der Gegend nun die 15- bis 30-jährigen fehlen. Nachwuchsfachkräfte händeringend gesucht Das sind aber genau die, auf die Landrat Burchardt als Nachwuchskräfte im öffentlichen Dienst des Landkreises setzen muss. „Die Perspektivlosigkeit der Neunzigerjahre ist weg. Wer hier heute die Schule beendet, der hat eine ausreichende Auswahl an Arbeitsplätzen“, sagt er. Es gebe inzwischen 20 Prozent mehr Ausbildungsplätze als Schulabgänger. „Tendenz steigend.“ Kamen vor Jahren auf die fünf bis sieben Ausbildungsplätze des Jahrganges etwa 80 bis 100 Bewerber, haben sich für das gerade angelaufene Ausbildungsjahr nur etwa 75 Bewerber um zehn Plätze beworben. Burchardt und seine Kollegen konnten aus diesem Pool nicht alle Plätze besetzen. „Die hatten einfach zu viele Alternativen.“ Der Landrat möchte seine Bewerber nicht nur solide ausbilden. Er möchte, dass sie über die Stationen, die sie in der Ausbildung durchlaufen – laut Ausbildungsplan sind das 33 Sachgebiete – auch abzuschätzen lernen, wohin sie wollen, was ihnen liegt. dbb magazin | November 2022

„Wer hier seinen Abschluss macht, der bekommt ein Angebot. Die Besten können sich aussuchen, wohin sie gehen im Haus.“ Fast alle kämen aus der Region: „Die sind hier groß geworden. Die haben hier Anker.“ Wichtig sei ihm auch die Art des Miteinanders insgesamt im Haus, die Kollegialität, dass alle sich auf Augenhöhe begegnen, damit „die Leute hier ankommen und sich als Teil der Verwaltung fühlen“. Glück haben die Auszubildenden, weil sie auch die Berufsschule in Burg selbst besuchen können. Die bildet seit 2018 wieder Verwaltungsfachangestellte aus. Schwierig sei es imMoment, die Auszubildenden nach den Homeschooling-Perioden der Coronazeit erfolgreich durch die Prüfungen zu bringen. Die Durchfallquote habe zuletzt ungewöhnlich hoch bei 50 Prozent gelegen, sagt Burchardt. Die Berufsschüler müssten nun das Jahr wiederholen, was nicht nur teuer sei. Auch ihre fehlende Arbeitskraft könne direkt vor Ort nicht ohne Weiteres ersetzt werden. So was fuchst den Landrat regelrecht. Wie erreicht er die Bewerber überhaupt? „So eine Ausbildungsmesse ist mittlerweile ein schwieriges Format geworden“, findet der Landrat, der sich mit seiner Familie nach Studium und Arbeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg für die Rückkehr in den Heimatkreis entschieden hat. „Diese Generation funktioniert anders.“ Mitunter fehle die Identifikation mit der Region; die Jungen seien viel mobiler. „Die sind viel eher bereit, etwas Neues auszuprobieren und das Gewohnte hinter sich zu lassen.“ Die künftigen Auszubildenden sagten teils eine Woche vor Ausbildungsstart ab – mitunter kämen sie einfach gar nicht, weil sie etwas Besseres gefunden hätten. Mit dieser Erfahrung steht Burchardt nicht allein da. Auch im Land Berlin, so hört man, können die Ausbilder im öffentlichen Dienst ein Lied davon singen. Sie würden in solchen Fällen Bewerber aus Reservepools ansprechen. Das kann so ein ländlicher Kreis wie das Jerichower Land nicht leisten. Die Bewerber hätten im August dann längst was anderes gefunden. Kurzer Ortswechsel: Belma Bekos arbeitet bei der Integrationsbeauftragten des Berliner Senates. Sie betreut unter anderem eine Kampagne, mit der das Land Schulabgänger und da speziell auch migrantische Jugendliche anspricht. Leute mit Migrationshintergrund seien vor allem in den Berliner Verwaltungen unterrepräsentiert, weiß sie. Die Integrationsbeauftragte setze das Berliner Partizipationsgesetz um und helfe so, das ist Bekos wichtig, bei „der Schaffung gleicher Zugänge“. Das Land Berlin braucht besonders viele Berufseinsteiger und bildet sehr breit aus: Eben nicht nur die 5 177 Verwaltungsfachangestellten, die im Jahr 2021 laut Senatsfinanzverwaltung eine Ausbildung begonnen hatten. Sondern auch Feuerwehrleute und Gärtner, Pflegepersonal oder KfzMechatronikerinnen ​– eigentlich wird alles gesucht. Deshalb heißt die Kampagne auch „MACH WAS DU WILLST, ABER MACHS MIT UNS“. Warum das erst jetzt erfolgt, obwohl Berlin seit Jahrzehnten ein Integrationsproblemmit jungen Leuten mit Migrationshintergrund hat, bleibt das Geheimnis der Vorgängerregierungen. Auch der Kreis Jerichower Land wolle, so Steffen Burchardt, eine Ausbildungsoffensive starten. Erstes Projekt sei ein Imagefilm, in dem die Menschen aus der Kreisverwaltung die Vielfältigkeit ihrer Arbeit vorstellen. „Es ist nach wie vor so, dass viele Jugendliche gar keine richtige Vorstellung haben: Was macht ein Kreis, was die Stadt? Du erreichst sie eben nur noch über so moderne Medien.“ In ganz Deutschland ergibt sich dasselbe Bild: In den kommenden zehn Jahren verlassen etwa 27 Prozent der Beamtinnen und Angestellten aller Ebenen den öffentlichen Dienst aus Altersgründen. In den kommenden 20 Jahren mehr als die Hälfte. Der Anteil der unter 25-Jährigen lag im Jahr 2021 jedoch bei lediglich etwa drei Prozent. Dieses riesige Loch zu stopfen oder gänzlich andere Wege zu finden, wie die Arbeit von weniger Menschen in der gleichen Qualität erbracht werden kann, ist eine der Hauptherausforderungen der kommenden beiden Jahrzehnte. Hinzu kommt, dass dieser Generationenwechsel auch die Wirtschaft betrifft. Aktuell spricht die Agentur für Arbeit von 846000 offenen Stellen in der Bundesrepublik. Das Nürnberger Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung hingegen meldet für das zweite Quartal 2022 1,9 Millionen offene Stellen. Was das die Volkswirtschaft kostet, hat vor einigen Wochen die Boston Consulting Group in einer Studie errechnet. Ausgehend von der Annahme, dass auf jedem dieser Arbeitsplätze eine durchschnittliche Jahreswirtschaftsleistung von 84 000 Euro erbracht werden würde, summiert sich das bei einer Million offener Stellen auf 84 Milliarden Euro, die dem Bruttosozialprodukt verloren gehen. Und so buhlen Die zehn Plätze des Landkreises Jerichower Land zur „Ausbildung zum Verwaltungsfachangestellten (m/w/d), Fachrichtung Kommunalverwaltung“ für August 2023 sind bereits seit Mitte Oktober auf Interamt ausgeschrieben. https://t1p.de/interamt Zehn freie Ausbildungsplätze „Wer hier seinen Abschluss macht, der bekommt ein Angebot.“ Landrat Steffen Burchardt will, dass sich die Auszubildenden mit dem Haus identifizieren. 20 FOKUS dbb magazin | November 2022

RkJQdWJsaXNoZXIy Mjc4MQ==