dbb magazin Inklusiver Arbeitsmarkt | Zu viele Potenziale bleiben ungenutzt Interview | Manne Lucha, Minister für Soziales, Gesundheit und Integration in Baden-Württemberg Einkommensrunde Bund und Kommunen | Verhandlungen gehen in die Schlichtung 4 | 2023 Zeitschrift für den öffentlichen Dienst
Inklusion braucht Begegnung Der Sinn von Inklusion ist nicht, uns allen ein besseres Gewissen zu verschaffen. Inklusion soll Menschen mit Behinderungen gleiche Rechte und Chancen garantieren, in allen gesellschaftlichen Bereichen. Das ist ihr einfach nachzuvollziehender Zweck. Und obwohl alle von Inklusion sprechen, ist unsere Gesellschaft noch weit davon entfernt. „Es ist einfach so, dass die meisten – JournalistInnen, PolitkerInnen – lieber mit dem Pflegepersonal sprechen, dem Bürgermeister oder mit nicht behinderten StadtplanerInnen oder ExpertInnen. Man hört zu wenig Stimmen der Betroffenen. Da tun sich die Medien noch sehr, sehr schwer, mal genau zu recherchieren“, sagte der Aktivist für Inklusion und Barrierefreiheit, Raul Krauthausen, am 19. März 2023 auf ntv. Es sei nach wie vor so, dass die Deutungshoheit bei Menschen ohne Behinderung läge. Um das zu ändern, müsse definiert werden, was Menschen ausschließe, unter anderem Armut, bauliche Barrieren und Bürokratie. „Und das Einzige, was wir wirklich machen können, um das zu ändern, ist, Begegnungen zu schaffen“, so Krauthausen weiter. Mit dem 5. Forum Inklusion und Teilhabe unter dem Motto „Inklusiver Arbeitsmarkt – Pandemie als Katalysator?“ schafft der dbb am 24. und 25. April 2023 in Berlin einen Raum für solche Begegnungen. Das aktuelle dbb magazin wirft zudem Schlaglichter auf das Thema Inklusion und versucht Antworten zu geben, wie sich der Arbeitsmarkt verändern muss, umMenschen mit Beeinträchtigungen gleichberechtigte Chancen zu bieten. 12 4 TOPTHEMA Inklusion 28 AKTUELL EINKOMMENSRUNDE 2023 Tarifverhandlungen gehen in die Schlichtung 4 Tausende Beschäftigte protestierten für höhere Einkommen und berufliche Perspektiven 5 FOKUS INTERVIEW Manne Lucha, Minister für Soziales, Gesundheit und Integration in Baden-Württemberg 12 DOSSIER INKLUSION Inklusiver Arbeitsmarkt: Zu viele Potenziale bleiben ungenutzt 14 Kommune Inklusiv: Inklusion geht alle Menschen an 17 Inklusion beim Einstieg in den Job: Bei gleicher Eignung bevorzugt berücksichtigt? 18 Inklusion am Arbeitsplatz: Wir machen den Weg frei! 20 ZOOM Begriffsbestimmung: Was bedeutet eigentlich Inklusion? 21 EINKOMMENSPOLITIK Inflationsprämien: Einkommensverlust für Beschäftigte 22 ONLINE Onlinezugangsgesetz: Digitale Bürgerdienste in weiter Ferne 24 BILDUNG Kostenlose Online-Lernplattform: Weiterbildung mit dem eGOV-Campus 28 INTERN SOZIALWAHL Sozialwahlen 2023: Der dbb stellt sich zur Wahl 30 EUROPA Europäische Asyl- und Migrationspolitik: Sicherheit und Menschlichkeit dürfen keine Gegensätze sein 31 FRAUEN Hauptversammlung der dbb bundesfrauenvertretung: Einkommens- und Arbeitsbedingungen im Fokus 34 JUGEND Bundesjugendausschuss: Schutzkonzept und rote Karten 36 KOMPAKT GEWERKSCHAFTEN 42 © Nathan Anderson/Unsplash.com STARTER 14 AKTUELL 3 dbb magazin | April 2023
EKR 2023 Einkommensrunde Bund und Kommunen Tarifverhandlungen gehen in die Schlichtung Die dritte Verhandlungsrunde im Tarifstreit zwischen den Arbeitgebenden von Bund und Kommunen sowie den Gewerkschaften wurde in der Nacht zum 30. März 2023 in Potsdam ohne Einigung abgebrochen. Die Arbeitgeberseite hat die Schlichtung angerufen. Die Arbeitgebenden haben es nicht verstanden“, sagte dbb Chef Ulrich Silberbach nach dem Abbruch in Potsdam. „Bund und Kommunen respektieren die Sorgen und Nöte ihrer Beschäftigten nicht. Und sie schätzen die Frustration und die Entschlossenheit der Kolleginnen und Kollegen falsch ein. Nur so ist zu erklären, dass sie uns wieder kein wirklich verbessertes Angebot vorgelegt haben.“ Das sei zu wenig Bewegung in den wichtigen materiellen Fragen gewesen. Es gelte, Reallohnverluste zu verhindern und einen nachhaltigen Inflationsausgleich zu schaffen. „Das war von Anfang an klar. Nach jetzigem Stand der Dinge sind die Arbeitgebenden dazu nicht bereit. Die Verhandlungen sind damit gescheitert.“ Die Arbeitgebenden haben noch am Verhandlungsort angekündigt, dass sie die Schlichtung anrufen werden. Sollte diese nicht zu einer Einigung führen, drohen Urabstimmung und Arbeitskampf. Sollte es zum Vollstreik kommen, seien hierfür allein der Bund und die kommunalen Arbeitgebenden verantwortlich. Silberbach: „Wir haben in den Verhandlungen viele Runden gedreht und sind überhaupt nicht vorangekommen. An der Schlichtung werden wir uns selbstverständlich konstruktiv beteiligen. Sollte auch diese scheitern, kann es ab Ende April überall im Land zu umfassenden Streikmaßnahmen im öffentlichen Dienst kommen. Ich bin überzeugt, der Ärger der Kolleginnen und Kollegen über die Ignoranz der Arbeitgebenden wird zu einer hohen Beteiligung bei der Urabstimmung und zu einer großen Streikbereitschaft führen. Leidtragende sind alle – Beschäftigte genauso wie Bürgerinnen und Bürger.“ dbb Tarifchef Volker Geyer bedauerte, dass die Arbeitgeberseite statt eines abschlussfähigen Kompromissvorschlags lediglich unverbindliche „Denkmodelle“ in den Verhandlungsraum gestellt hätte, „die zu keinem Zeitpunkt die Ebene ernsthafter Kompromissvorschläge erreicht haben“. Diese Verweigerungshaltung sei „für die Menschen, die den öffentlichen Dienst heute am Laufen halten, völlig inakzeptabel“, bewertete Geyer die „Denkmodelle“ aus Sicht der Beschäftigten. „Und sie waren auch nicht geeignet, den öffentlichen Dienst auf einem immer stärker umkämpften Arbeitsmarkt erfolgreich zu positionieren.“ ■ Vom Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD) sind insgesamt über 2,5 Millionen Beschäftigte direkt oder indirekt betroffen: fast 1,6 Millionen Arbeitnehmende des Bundes sowie der Kommunen und weiterer Bereiche, für die der TVöD direkte Auswirkungen hat, sowie Auszubildende (6350 beim Bund, 56300 bei den Kommunen), Praktikantinnen und Praktikanten sowie Studierende in dualen Studiengängen und auch knapp 190000 Bundesbeamtinnen und Bundesbeamte, Anwärterinnen und Anwärter (16885 beim Bund) sowie über 500000 Versorgungsempfängerinnen und -empfänger des Bundes, auf die der Tarifabschluss übertragen werden soll. Mittelbar hat die Einkommensrunde auch Auswirkungen auf weitere Bereiche des öffentlichen Dienstes wie die Bundesagentur für Arbeit und die Deutsche Rentenversicherung. Hintergrund © Frank Zitka/dbb 4 AKTUELL dbb magazin | April 2023
Einkommensrunde 2023 Tausende Beschäftigte protestierten für höhere Einkommen und berufliche Perspektiven Zwischen der zweiten und dritten Verhandlungsrunde haben bundesweit Tausende Beschäftigte mit Warnstreiks, Kundgebungen und Demonstrationen unterstrichen, dass die Arbeitgeberseite die Sorgen der Kolleginnen und Kollegen um ihre berufliche Zukunft und die Zukunft des öffentlichen Dienstes, aber auch ihren Frust und ihre Enttäuschung ernst nehmen sollte. Am 27. Februar 2023 fanden 24-Stunden-Warnstreiks in Nordrhein-Westfalen statt, unter anderem in Düsseldorf, Hagen und Bonn. „Ohne die Flughafenfeuerwehr steht der Flugbetrieb still. Das haben die Kolleginnen und Kollegen der Werksfeuerwehr mit Nachdruck gezeigt“, betonte Andreas Hemsing, komba Bundesvorsitzender und dbb Vize, bei einer Kundgebung in Düsseldorf. „Die Nadelstiche der ersten Streikphase haben nicht ausgereicht. Bund und Kommunen haben bislang kein akzeptables Angebot vorgelegt. Der Frust und die Enttäuschung der Beschäftigten darüber sind riesengroß.“ Auf der Kundgebung vor dem Stadthaus in Bonn rief dbb Verhandlungsführer Ulrich Silberbach die Arbeitgebenden auf, in der nächsten Runde in Potsdam ein wirklich einigungsorientiertes Angebot vorzulegen. „Fünf Prozent auf 27 Monate und keinerlei Mindestbetrag. Das ist kein respektvolles Angebot, sondern Ausdruck von Respektlosigkeit. Für die finanzielle Misere vieler Kommunen sind nicht die Kolleginnen und Kollegen verantwortlich und sie weigern sich jetzt zu Recht, die Zeche für eine seit Jahren verfehlte Finanzpolitik zu zahlen.“ Am 28. Februar waren die Beschäftigten in ganz Niedersachsen zu einem ganztägigen Warnstreik aufgerufen. In Hannover fand Silberbach bei einer Kundgebung von über 1500 Beschäftigten ebenfalls deutliche Worte: „Die ,Beton-Taktik‘ der Arbeitgeber ist zukunftsfeindlich. Sie bremst uns aus, sie schätzt uns nicht wert und sie sendet fatale Signale an den so dringend über all unsere Branchen hinweg benötigten Berufsnachwuchs.“ Alexander Zimbehl, 1. Landesvorsitzender des NBB – Niedersächsischer Beamtenbund und Tarifunion, unterstrich: „Die Kolleginnen und Kollegen haben keinerlei Verständnis mehr für die Hinhaltetaktik. Gerade in Anbetracht der Inflation und immer wieder von der Politik geäußerten Wertschätzung brauchen wir jetzt Taten, die wir in der Tasche spüren.“ Peter Specke, 2. Landesvorsitzender des NBB und © Kim Laubner AKTUELL 5 dbb magazin | April 2023
Vorsitzender der komba gewerkschaft niedersachsen, kritisierte die „Leere-Taschen-Rhetorik“ insbesondere der VKA: „Der Tariftisch ist der falsche Ort, um die finanziellen Probleme der kommunalen Haushalte zu lösen. Die finanzielle Lage beispielsweise der Kitaerzieherin oder des Bauhofmitarbeiters ist viel dramatischer als die des Stadt- und Staatssäckels, zumal die Kommunen erwiesenermaßen Einnahmen verzeichnen und im vergangenen Jahr sogar einen Nettoüberschuss erzielt haben.“ Am 2. März 2023 gingen auch in Kiel mehr als 1000 Beschäftigte gegen die Ignoranz der Arbeitgebenden von Bund und Kommunen auf die Straße. „Fünf Prozent auf 27 Monate sind kein Angebot, sondern ein schlechter Scherz“, machte Andreas Hemsing, komba Bundesvorsitzender und dbb Vize, deutlich. Heiko Teggatz, ebenfalls dbb Vize und Vorsitzender der Bundespolizeigewerkschaft (BPolG/DPolG), betonte: „Wir haben eigentlich alle Wichtigeres zu tun als diesen ewigen Tariftanz mit den Arbeitgebenden aufzuführen – eigentlich sorgen wir gerne dafür, dass das Land funktioniert. Aber wer meint, er könnte uns mit einem Nichtangebot hinter die Fichte führen, hat sich schwer getäuscht.“ Kai Tellkamp, Vorsitzender des dbb schleswig-holstein und komba Vize, unterstrich: „Aufgrund des dramatischen Personalmangels gehen die Kolleginnen und Kollegen seit Jahren auf der Felge, managen eine Krise nach der anderen oder auch mehrere gleichzeitig. Es ist ein Rätsel, wie die Arbeitgeber mit den mickrigen Krumen, die sie uns hinwerfen, neues Personal gewinnen wollen, um den öffentlichen Dienst fit für die Zukunft zumachen.“ „Die Daseinsfürsorge droht zu kollabieren.“ Mit deutlichen Worten hat dbb Tarifchef Volker Geyer am 7. März in Solingen höhere Einkommen im öffentlichen Dienst gefordert. Geyer stellte klar: „Unsere Forderung ist absolut berechtigt. Die Inflation ist weiterhin hoch und es ist kein Ende in Sicht. Gerade der Staat als Arbeitgeber darf seine Beschäftigten in dieser Krise nicht alleinelassen.“ Geyer warnte außerdem vor den langfristigen Folgen dieser Blockadepolitik für die Fachkräftegewinnung: „Wenn der öffentliche Dienst personell weiterhin ausblutet, wird die Daseinsfürsorge über kurz oder lang kollabieren – weil schlicht keine Menschen mehr da sind, die diese wichtige Arbeit machen wollen.“ Auch an den Standorten Ludwigsburg, Heilbronn und Tauberbischofsheim hatten zuvor Protestaktionen des BDZ Deutsche Zoll- und Finanzgewerkschaft stattgefunden. BDZ und dbb erwarten außerdem die zeitgleiche und systemgerechte Übertragung des Tarifergebnisses auf den Bereich der Beamtinnen und Beamten sowie Versorgungsempfängerinnen und Versorgungsempfänger des Bundes sowie eine Reduzierung der 41-Stunden-Woche im Bereich der Bundesbeamtinnen und -beamten und eine Verlängerung des Tarifvertrags zur Gewährung von Altersteilzeit. Beschäftigte der Bundesagentur für Arbeit (BA) haben am 13. März in Stuttgart einen ganztägigen Warnstreik und eine Kundgebung für höhere Einkommen durchgeführt. Unterstützt wurde die Demonstration vor der BA von weiteren Berufsgruppen des öffentlichen Dienstes. Der Bundesvorsitzende der vbba – Gewerkschaft Arbeit und Soziales, Waldemar Dombrowski, wies auf die enorme Arbeitsbelastung bei der BA hin: „Unsere Kolleginnen und Kollegen werden mit ständig neuen und sehr herausfordernden Aufgaben konfrontiert. So muss beispielsweise die Umstellung auf das Bürgergeld im laufenden Betrieb gestemmt werden. Gleichzeitig wird aber viel zu wenig in das Personal investiert. Das passt nicht zu © FriedhelmWindmüller © FriedhelmWindmüller © FriedhelmWindmüller © FriedhelmWindmüller © Jan Brenner © Kim Laubner 6 AKTUELL dbb magazin | April 2023
sammen.“ Kai Rosenberger, Vorsitzender des BBW – Beamtenbund Tarifunion, wies darauf hin, dass die Einkommensrunde bei Bund und Kommunen auch ein wichtiger Meilenstein auf demWeg zur Einkommensrunde der Länder ist, die im Herbst beginnt: „Die Politik muss den öffentlichen Dienst endlich wieder auf allen Ebenen wertschätzen, sonst fährt die Daseinsfürsorge vor die Wand.“ Am 16. März trugen die Beschäftigten von Bund und Kommunen auch in Freiburg ihren Protest auf die Straße. Am 23. März 2023 waren dem Aufruf des dbb zu drei Großdemonstrationen in Gelsenkirchen, Nürnberg und Saarbrücken mehr als 17000 Beschäftigte gefolgt. Der dbb Bundesvorsitzende Ulrich Silberbach appellierte in Gelsenkirchen vor über 10000 Teilnehmenden an die Arbeitgebenden, „die vorerst letzte Chance zur Einigung“ nicht ergebnislos verstreichen zu lassen. „Wir können nur hoffen, dass auch Bundesinnenministerin Nancy Faeser und die Präsidentin der Vereinigung kommunalen Arbeitgeberverbände, Karin Welge, erkannt haben, dass ihr Angebot aus der zweiten Runde nicht ausreicht, um den öffentlichen Dienst attraktiv zu gestalten, Fachkräfte zu gewinnen und den Beschäftigten endlich Wertschätzung zu zeigen!“ Matthäus Fandrejewski, Vorsitzender der dbb jugend, kritisierte in Gelsenkirchen: „Unsere Forderungen nach einer Entgelterhöhung für Auszubildende sowie Anwärterinnen und Anwärter um 200 Euro und die unbefristete Übernahme von Azubis haben die Arbeitgebenden komplett ignoriert.“ Die Zukunft des öffentlichen Dienstes und damit auch des Staates sei aber abhängig von gut ausgebildeten Nachwuchskräften. In Nürnberg versammelten sich über 2500 Beschäftigte zu einem Demonstrationszug und einer Kundgebung. „Der Frust bei den Kolleginnen und Kollegen ist groß – und das völlig zu Recht“, sagte dbb Tarifchef Volker Geyer. „Das Alibi-Angebot, das Bundesinnenministerin Nancy Faeser und die Präsidentin der Vereinigung kommunalen Arbeitgeberverbände, Karin Welge, in der letzten Runde vorgelegt haben, hätte angesichts der hohen Inflation für die Beschäftigten sogar Reallohnverluste bedeutet.“ Der Vorsitzende des Bayerischen Beamtenbundes (BBB), Rainer Nachtigall, wies auf die weitergehende Bedeutung des angestrebten Tarifabschlusses hin: „Das Ergebnis muss ohne Wenn und Aber auf die Beamtinnen und Beamten des Bundes übertragen werden.“ Ewald Linn, Landesvorsitzender des dbb saar, unterstrich bei einer Kundgebung in Saarbrücken vor den 5000 Teilnehmen © Kim Laubner © FriedhelmWindmüller © FriedhelmWindmüller © Lucas Pompino © Thomas Frey © Julia Petersen © Kim Laubner 8 AKTUELL dbb magazin | April 2023
den: „Die Beschäftigten geben alles dafür, dass die öffentliche Daseinsvorsorge in diesem Land für alle funktioniert. Durch die falsche Sparpolitik der vergangenen Jahre fehlen heute schon über 360000 Beschäftigte, weil die Jobs im öffentlichen Sektor für viele Fachkräfte im Vergleich zur Privatwirtschaft nicht attraktiv genug sind.“ Linn empfahl Landräten und Bürgermeistern, sich hinsichtlich der Finanzierung und der Aufgabenverteilung im öffentlichen Dienst deutlicher gegenüber Bund und Ländern zu positionieren: „Gehen Sie ruhig mal selbst auf die Straße, wir unterstützen Sie dabei gerne.“ Bereits an den Vortagen hatte es Aktionen in Berlin, Dresden und Hamburg gegeben. In der Hauptstadt sprach neben dem dbb Bundesvorsitzenden auch Dieter Dewes, Bundesvorsitzender des BDZ Deutsche Zoll- und Finanzgewerkschaft. Er richtete im Namen der vielen Beamtinnen und Beamten, die sich an der Demo vor dem Bundesinnenministerium beteiligt haben, einen Appell direkt an Nancy Faeser, sich intensiver für eine Einigung zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebenden einzusetzen. In Dresden bekräftigte der stellvertretende Vorsitzende der dbb Bundestarifkommission, Hermann-Josef Siebigteroth: „Die Nöte und Sorgen der Beschäftigten im öffentlichen Dienst wurden bislang ignoriert. Der schon jetzt kaputtgesparte öffentliche Dienst braucht keine weiteren Sonntagsreden mehr, sondern eine längst überfällige faire Bezahlung, eine Einstellungsoffensive zur Entlastung der Kolleginnen und Kollegen, Investitionen in die Infrastruktur der Dienststellen und den Verzicht auf weitere Einsparungen zulasten der Kolleginnen und Kollegen sowie der Bürgerinnen und Bürger.“ In Hamburg machte der dbb Landesvorsitzende Rudolf Klüver deutlich: „Wir sind es leid, immer und immer wieder als Bittsteller aufzutreten. Wir sind es leid, dass Arbeitgeber und Dienstherren unsere gute Arbeit nicht oder kaumwertschätzen. Warummüssen wir zum Beispiel den Senat hier in Hamburg verklagen, um eine verfassungsgemäße Besoldung für die Beamten zu erhalten?“ ■ Berichte zu allen Aktionen und weitere Bilder online: dbb.de/ einkommensrunde Webtipp © FriedhelmWindmüller © FriedhelmWindmüller © Anestis Aslanidis © Kerstin Seipt © Kerstin Seipt © FriedhelmWindmüller © Dirk Guldner © FriedhelmWindmüller AKTUELL 9 dbb magazin | April 2023
NACHRICHTEN Jahresgespräch mit Kultusministerkonferenz Fachkräftemangel bedroht Bildungsqualität Die dbb Bildungsgewerkschaften haben am 17. März 2023 aktuelle Herausforderungen des Bildungsbereiches mit der Kultusministerkonferenz (KMK) diskutiert. Neben der Einführung des Rechtsanspruchs auf Ganztagsbetreuung im Grundschulalter und dem im Koalitionsvertrag verankerten Kooperationsgebot wurde der Fachkräftemangel an Schulen als größte Herausforderung im Bildungsbereich identifiziert. „Trotz langjähriger und ausdauernder Warnungen der Gewerkschaften hat uns die Politik mit ihrer mangelhaften Personalplanung in eine wahrhaftige Bildungskrise manövriert“, kritisierte die stellvertretende dbb Bundesvorsitzende Simone Fleischmann. „Nun ist der Fachkräftemangel an allen Ecken und Enden spürbar und sogar noch deutlich gravierender als von der KMK zuletzt angenommen. Ihre Fehler muss die Politik jetzt selbst ausbügeln und nicht die Beschäftigten durch Mehrbelastung ausbaden lassen. Entsprechende Vorschläge der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission der KMK sind vielmehr dazu geeignet, das Berufsfeld unattraktiver zu machen und die Probleme zu verschärfen.“ Susanne Lin-Klitzing, Vorsitzende der dbb Fachkommission Schule, Bildung und Wissenschaft, wies auf die Folgen des Fachkräftemangels hin: „Neben den Beschäftigten sind in erster Linie die Schülerinnen und Schüler die Leidtragenden der verfehlten Personalpolitik. Die Versäumnisse der Kultusministerinnen und -minister der Länder haben besorgniserregende Auswirkungen auf die Qualität unserer Schulen.“ Lin-Klitzing warnte davor, dem Personalmangel durch Absenkungen des geforderten Qualifikationsniveaus bei Lehrkräften begegnen zu wollen. „Entsprechende Pläne etwa in Brandenburg sind ein Dammbruch, der letztlich unseremNachwuchs, der Bildungsqualität und der Bildungsgerechtigkeit in Deutschland schadet“, so Lin-Klitzing. Eine sinnvolle Lehrkräfte-Einstellungspolitik müsse zwingend auf einer Unterrichtsabdeckung von weitaus mehr als 100 Prozent basieren, nur so ließen sich Qualitätsverluste vermeiden und die vielfältigen Herausforderungen des Schulalltags bewältigen. ■ Yamina Ifli, stellvertretende Bundesvorsitzende des BvLB, Prof. Dr. Susanne Lin-Klitzing, Bundesvorsitzende des DPhV, KMK-Präsidentin Astrid-Sabine Busse, Gerlinde Kohl, Bundesvorsitzende der KEG, Gerhard Brand, Bundesvorsitzender des VBE, und die stellvertretende dbb Bundesvorsitzende Simone Fleischmann (von links) © dbb Manuel H. Erzieher dbb: wir. für euch. Wir sind da. Fur das Wertvollste, was ihr habt. ..
INTERVIEW Manne Lucha, Minister für Soziales, Gesundheit und Integration in BadenWürttemberg und Vorsitzender der Gesundheitsministerkonferenz (GMK) Versorgungsstrukturen müssen sich an den Bedürfnissen der nächsten Generation orientieren Mindestens 200 000 Pflegekräfte fehlen derzeit in Kliniken und Heimen. Gleichzeitig kamen 2021 auf 27 000 Jobangebote nur 9 000 qualifizierte Bewerbungen. Für Beschäftigte und Patienten sind die Zustände kaum noch tragbar. Kann dieser Gordische Knoten überhaupt noch durchschlagen werden? Die Zahl der Pflegekräfte konnte in den vergangenen Jahren zwar erhöht werden, das reicht aber noch nicht. Ich warne allerdings davor, die Pflege ständig nur schlechtzureden. Das heißt nicht, dass die Probleme nicht klar angesprochen werden sollen. Ich bin selbst ausgebildeter Krankenpfleger und habe auch in meiner Ausbildung beim besten Willen nicht nur gute Momente erlebt. Um junge Menschen zu gewinnen, müssen wir den Beruf noch stärker in seiner Vielfalt und Attraktivität bekannt machen – und die Bezahlung muss stimmen. Erst imMärz haben wir in BadenWürttemberg beispielsweise einen Ideenwettbewerb durchgeführt und tolle, kreative Initiativen ausgezeichnet, wie wir ausgestiegene Pflegekräfte wieder in den Beruf zurückholen und Arbeitsbedingungen verbessern können. Da waren von der an den Pflegedienst angeschlossenen Kita bis hin zum Schichtplan per Algorithmus eine Menge spannende Ideen dabei. Auch das ist Pflege. Nur wer selbst von seinem Beruf begeistert ist, kann auch andere dafür gewinnen. Bund, Länder, Kommunen und die Pflegeselbstverwaltung sollten in diesem Geist noch stärker zusammenarbeiten. Die bundesweite Kampagne „Pflege kann was“ ist deshalb ebenso wichtig wie die Einführung der generalistischen Pflegeausbildung. Die medizinische Versorgung in ländlichen Regionen ist ebenfalls problematisch. Ältere und Menschen mit Behinderung sind besonders von langen Wegen und lückenhafter Versorgung betroffen. Können Anreizsysteme helfen, mehr Ärzte aufs Land zu locken? Auch Baden-Württemberg ist von lokalen Versorgungsengpässen betroffen. Dies gilt vor allem für Haus- und Kinderärzte. Die Zahl der Ärztinnen und Ärzte ist in den letzten Jahren zwar stabil geblieben, durch die Zunahme von Anstellungen – 38,5 Stunden Arbeitszeit pro Woche und Teilzeittätigkeiten – sind die Ressourcen dennoch zurückgegangen. Finanzielle Anreize können der Entwicklung ein Stück weit entgegenwirken. Im Zuge unseres Förderprogramms „Landärzte“ Eine Krankenhausreform ist dringend notwendig. © Jan Potente/Sozialministerium Baden-Württemberg 12 FOKUS dbb magazin | April 2023
erhalten Hausärztinnen und -ärzte vom Land bis zu 30000 Euro, wenn sie sich in einer ländlichen Region niederlassen, in der die hausärztliche Versorgung nicht oder in naher Zukunft nicht mehr gesichert ist. Um vor allem junge Medizinerinnen und Mediziner für eine Niederlassung insbesondere in ländlichen Regionen zu gewinnen, haben wir in Baden-Württemberg im Jahr 2021 die Landarztquote eingeführt. Finanzielle Anreize reichen aber nicht aus. Gemeinsammit der in erster Linie zuständigen ärztlichen Selbstverwaltung müssen Bund, Land und Kommunen weiter daran arbeiten, die Versorgungsstrukturen, die Arbeitsbedingungen und die Infrastruktur an den Bedürfnissen der nächsten Generation auszurichten. Die zu beobachtenden Privatisierungstendenzen hin zu spezialisierten medizinischen Versorgungszentren gefährden aus Sicht des dbb die Versorgung. Welche Möglichkeiten gibt es, den Staat stärker in die Verantwortung zu nehmen? Ich betrachte diese Entwicklung ebenfalls mit Sorge. Das Problem bei den Medizinischen Versorgungszentren ist aber nicht, dass der Staat Privatisierungen zugelassen hat. Das Problem liegt darin, dass Finanzinvestoren die Berechtigung erwerben können, bundesweit MVZ-Standorte zu gründen oder aufzukaufen. Auf diese Weise können sich etwa Unternehmen ohne fachlichmedizinischen Bezug in Erwartung von Rendite an solchen Zentren beteiligen. Auch wenn diese als moderne Organisationsform Vorteile bieten, birgt dieser Einfluss erhebliche Risiken für die Versorgung der Bevölkerung. Die Gesundheitsministerkonferenz hat daher im Jahr 2022 beschlossen, eine Arbeitsgruppe einzurichten, die möglichst rasch Vorschläge für ein Regulierungsgesetz und eine entsprechende Bundesratsinitiative vorlegen soll. Das geplante Gesetz hat jedoch nicht das Ziel, dem Staat mehr Verantwortung zu geben. Ziel ist, dass die zuständige Selbstverwaltung der Ärzteschaft und Krankenkassen die rechtlichen Befugnisse erhalten, um den Einfluss von Finanzinvestoren auf die ärztliche Versorgung zu begrenzen. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach will das System der stationären Versorgung neu aufstellen. Der dbb fordert Entlastungen bei den Vorhaltekosten und hat eine die Fallpauschalen ergänzende Basisfinanzierung vorgeschlagen. Bevor am derzeitigen System der Fallpauschalen herumgeschraubt wird, sollte zunächst bei der Kostenverteilung angesetzt werden, wobei die Länder ihrer Pflicht nur unzureichend nachkommen. Wie stehen Sie dazu? Das sehe ich nicht so. Schlicht nur mehr Geld ins System zu pumpen, also eine ergänzende Basisfinanzierung, übertüncht meiner Meinung nach die strukturellen Probleme. Dies verschärft die finanzielle Schieflage der gesetzlichen Krankenversicherung. Das Versorgungssystem sollte so weiterentwickelt werden, sodass es in der Lage ist, den Herausforderungen zu begegnen und trotzdem die Qualität der Versorgung hochzuhalten. Eine Krankenhausreform ist daher dringend notwendig. Baden-Württemberg stellt derzeit jährlich rund 455 Millionen Euro Investitionsfördermittel zur Verfügung und kommt daher seiner Verpflichtung zur Investitionskostenfinanzierung in ausreichendemMaße nach. Für unser Bundesland liegt das Problem der derzeitigen Unterdeckung in der mangelnden Betriebskostenfinanzierung: Die im Bundesvergleich überdurchschnittlich hohen Lohnkosten werden hier durch das aktuelle Vergütungssystem nicht ausreichend gedeckt. Baden-Württemberg setzt sich deshalb im Zuge der Krankenhausreform dafür ein, dass überdurchschnittlich hohe Lohnkosten in Zukunft ausreichend vergütet werden. Menschen mit Behinderung arbeiten häufig aus gesundheitlichen Gründen nicht bis zum regulären Eintritt in den Ruhestand. Die Inanspruchnahme von Rehabilitationsmaßnahmen bleibt vielfach hinter den Möglichkeiten zurück. Wie können Menschen mit Teilhabebeeinträchtigung länger im aktiven Arbeitsleben gehalten werden? Teilweise besteht auch bei Menschen mit Behinderungen, genauso wie bei Menschen ohne Behinderungen, der Wunsch, so lange wie möglich zu arbeiten, um Tagesstruktur und soziale Kontakte beizubehalten, oder aus finanziellen Gründen. Daher können und dürfen wir nicht einfach davon ausgehen, dass Menschen mit Behinderungen vorzeitig aus dem Erwerbsleben ausscheiden müssen oder dies wollen. Sie sind wertvolle Fachkräfte, deren Expertise wir brauchen. Indem wir besser auf die jeweiligen Angebote der Rehabilitation aufmerksammachen, können wir die Menschen dabei unterstützen, länger am Arbeitsleben teilzuhaben. Wir müssen ein verstärktes Gesundheitsbewusstsein entwickeln. Neben Präventions- und medizinischen Rehaleistungen unterstützt beispielsweise die Deutsche Rentenversicherung mit Angeboten zur Teilhabe am Arbeitsleben, die mitunter auch in den Betrieben, am konkreten Arbeitsplatz ansetzen. Welche praktischen Chancen sehen Sie in der neuen EUStrategie für die Rechte von Menschen mit Behinderungen 2021–2030? Menschen mit Behinderungen sind beim Zugang zur Gesundheitsversorgung, im Bereich Bildung, Beschäftigung und Freizeitaktivität sowie bei der Teilhabe am politischen Leben immer noch mit großen Hindernissen konfrontiert. Es ist deshalb richtig, dass sich die Europäische Kommission dieses Themas angenommen hat. Menschen mit Behinderungen haben etwa das Recht auf eine hochwertige Gesundheitsversorgung, einschließlich gesundheitsbezogener Rehabilitation und Prävention. Bereits 2014 haben wir dies im Gesundheitsleitbild BadenWürttemberg verankert. Um die Teilhabe an demokratischen Prozessen zu fördern, wurde in unserem Bundesland gesetzlich eine Interessenvertretung für Menschen mit Behinderungen innerhalb der Kommunalen Gesundheitskonferenzen verankert. Zielgruppenspezifische Themen können hier direkt durch diese Interessensvertreter eingebracht werden. Klar ist jedoch: Wir sind hier noch lange nicht am Ende. Ich erhoffe mir von der EU-Strategie deshalb weitere Impulse. ■ Menschen mit Behinderungen sind wertvolle Fachkräfte, deren Expertise wir brauchen. FOKUS 13 dbb magazin | April 2023
DOSSIER INKLUSION Inklusiver Arbeitsmarkt Zu viele Potenziale bleiben ungenutzt Menschen mit Behinderungen müssen besser in den regulären Arbeitsmarkt integriert werden. Dafür soll unter anderem das Gesetz zur Förderung eines inklusiven Arbeitsmarkts sorgen. Die Maßnahmen zielen darauf ab, mehr Menschen mit Behinderungen in reguläre Arbeit zu bringen, mehr Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen in Arbeit zu halten und zielgenauere Unterstützung für Menschen mit Schwerbehinderung zu ermöglichen. Für den dbb hat die Gewerkschaft der Sozialverwaltung (GdV) im Rahmen einer Verbändeanhörung zu dem Gesetzesvorhaben Stellung genommen. Die GdV vertritt bundesweit die Interessen der Beschäftigten in den Sozialverwaltungen der Länder und Kommunen. Sie begrüßt die Einführung einer vierten Stufe der Ausgleichsabgabe, die einer Forderung der dbb Arbeitsgruppe Inklusion entspreche und die derzeitige Praxis des „Sich-freikaufen-Könnens“ bekämpfe. Noch immer bleibe jedoch viel Potenzial von gut qualifizierten Menschen mit Behinderung ungenutzt, weil Unternehmen den vermeintlich einfacheren Weg wählen könnten, was auch vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels inakzeptabel sei. Weiter begrüßt die GdV den Ansatz, die Mittel der Ausgleichsabgabe vollständig zur Unterstützung und Förderung der Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu verwenden und Werkstätten für behinderte Menschen aus Steuermitteln zu finanzieren. Gesetzesvollzug muss beherrschbar bleiben Ablehnend äußert sich die GdV gegenüber der geplanten Genehmigungsfiktion für Anspruchsleistungen nach Ablauf von sechs Wochen, nach der eine beantragte Genehmigung als erteilt gilt, wenn eine Behörde nicht innerhalb der Frist darüber entscheidet. „Auch wenn die Genehmigungsfiktion an strenge Voraussetzungen geknüpft und aus Sicht der Antragsteller und der Arbeitgeber begrüßenswert ist, kann die GdV nicht unterstützen, dass der Druck auf die Beschäftigten der Integrationsämter und Inklusionsämter noch weiter erhöht wird. Die Sozialverwaltung leidet unter extremer Personalnot, und die GdV muss sich hier schützend vor die Beschäftigten stellen“, heißt es in der Stellungnahme. Kritisch betrachtet die GdV die Neuausrichtung des Sachverständigenbeirates Versorgungsmedizin, denn sie befürchtet Auswirkungen auf das bisherige und künftige Änderungsverfahren der Versorgungsmedizinverordnung. „Bereits jetzt ist die 6. Änderungsverordnung aufgrund der breiten Beteiligung seit Jahren überfällig und die weiteren notwendigen Anpassungen an die neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse können dadurch nicht erfolgen“, so die GdV, der es besonders wichtig ist, dass der Gesetzesvollzug beherrschbar bleibt. Daher müsse auch nach der Neuausrichtung des Sachverständigenbeirats sichergestellt sein, „dass neue wissenschaftliche Erkenntnisse in der Medizin Eingang in die © Thilo Schmülgen/Aktion Mensch (3) 14 FOKUS dbb magazin | April 2023
versorgungsmedizinischen Grundsätze finden, dies aber nicht dazu führt, dass aus dem Vollzug des Schwerbehindertenrechts eine Wissenschaft wird.“ Es müsse weiterhin der Grundsatz „So viel Pauschalierung wie möglich, so wenig Einzelfallregelung wie nötig“ gelten. Darüber hinaus kritisiert die GdV einige mit dem Gesetzentwurf einhergehende Änderungen im Sozialgesetzbuch (SGB) XIV sowie bisher ungeregelte Einzelheiten des Vollzugs. Dusel: Weitere Regelungen müssen folgen Auch der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Jürgen Dusel, begrüßt den Gesetzentwurf, insbesondere die Einführung der vierten Stufe der Ausgleichsabgabe. „Dieser Schritt ist lange überfällig. Es ist schlichtweg nicht akzeptabel, dass ein Viertel aller beschäftigungspflichtigen Arbeitgeber keinen einzigen Menschen mit Schwerbehinderung beschäftigt. Und das, obwohl Menschen mit schweren Behinderungen durchaus gut qualifiziert sind. Deswegen bin ich froh, dass es Hubertus Heil nun gelungen ist, diese Forderung innerhalb der Ampelkoalition durchzusetzen. Das Motto muss sein: null Verständnis für Null-Beschäftiger“, sagte Dusel am 21. Dezember 2022 in Berlin. Allerdings habe der Gesetzentwurf noch deutlich Luft nach oben. So sei es ein verfehltes Signal, die Bußgeldvorschrift in § 238 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX aufzuheben, nach der bislang ein Bußgeld verhängt werden konnte, wenn Arbeitgeber ihrer Beschäftigungspflicht nicht nachkommen. Außerdem enthalte der Entwurf keine nennenswerten Verbesserungen in Bezug auf die Zugänge in und die Übergänge aus den Werkstätten für Menschen mit Behinderungen. „Ein richtiger Schritt ist zwar die Aufhebung der Deckelung beim Lohnkostenzuschuss für das Budget für Arbeit. Aber eine Stärkung des Budgets für Ausbildung fehlt noch. Das Thema müssen wir jedoch auch dringend angehen. Wir müssen denjenigen, die außerhalb der Werkstatt arbeiten wollen, alle Wege ebnen, dies auch tun zu können – so, wie es auch im Koalitionsvertrag vereinbart ist.“ Bentele: Bußgeld darf nicht entfallen Die Präsidentin des Sozialverbandes VdK, Verena Bentele, bemängelte vor der Beratung des Gesetzes im Bundestag am 1. März 2023 den „Skandal, dass sich mehr als 45000 Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber seit vielen Jahren weigern, auch nur einen einzigen schwerbehinderten Menschen einzustellen. Deshalb ist es richtig, endlich eine höhere Ausgleichsabgabe für Unternehmen einzuführen, die gegen die Beschäftigungspflicht verstoßen. Die Botschaft muss ganz klar sein: Wer sich ans Gesetz hält, spart künftig höhere Ausgleichsabgaben. Das ist auch ein Gebot der Solidarität mit den Arbeitgebern, die schwerbehinderte Menschen beschäftigen oder zum Teil sogar die Pflichtquote übererfüllen.“ Grundsätzlich sei der Entwurf aber ein „deutliches Zeichen der Bundesregierung, den Arbeitsmarkt in Deutschland inklusiver zu gestalten. Das ist dringend notwendig. Denn die Langzeitarbeitslosigkeit von Menschen mit Behinderung verschärft sich.“ Auch Bentele kritisierte den geplanten Wegfall des Bußgeldes und appellierte an den Bundestag, sich für dessen Beibehaltung starkzumachen: „Würden solche Ordnungswidrigkeiten wirksam verfolgt, gäbe es auch nicht so viele Verstöße gegen die Beschäftigungspflicht“, so Bentele. Darüber hinaus hätte sich der VdK Regelungen zum sogenannten Betrieblichen Eingliederungsmanagement gewünscht, wie es im Koalitionsvertrag angekündigt worden sei. „Zumindest sollten alle Beschäftigten einen Rechtsanspruch auf die sogenannte stufenweise Wiedereingliederung bekommen. Durch eine frühzeitige Intervention könnte der weit überwiegende Teil chronisch kranker oder behinderter länger erkrankter Beschäftigter wieder eingegliedert werden. Arbeitslosigkeit und vorzeitiger Rentenbezug kosten ein Vielfaches mehr als eine sinnvolle Prävention und Rehabilitation.“ Silberbach: BEMmuss verbessert werden Der dbb teilt diese Kritik. „Einerseits haben wir schon länger eine vierte Staffel in der Ausgleichsabgabe für Arbeitgebende gefordert und begrüßen deren Einführung ebenso wie die Erhöhung der weiteren Ausgleichsabgaben. Andererseits ist es nicht zielführend, Sanktionsmöglichkeiten aufzugeben“, sagte dbb Chef Ulrich Silberbach am 2. März 2023, nachdem der Gesetzentwurf in erster Lesung im Bundestag beraten worden war. Wenn die Nichterfüllung nicht mehr als Ordnungswidrigkeit geahndet werde, könnten sich Betriebe nach wie vor von der Beschäftigungspflicht freikaufen. „Hier muss der Gesetzgeber dringend nachbessern, gerade auch vor dem Hintergrund, dass rund 173000 Unternehmen in Deutschland gesetzlich verpflichtet sind, mindestens fünf Prozent ihrer Arbeitsplätze an Menschen mit Behinderung zu vergeben. Nur 40 Prozent kommen dieser Verpflichtung nach.“ Darüber hinaus sei das Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag, das Betriebliche Eingliederungsmanagement (BEM) qualitativ und quantitativ zu stärken, nicht in den Gesetzentwurf aufgenom- © Aktion Mensch FOKUS 15 dbb magazin | April 2023
men worden. „Der dbb erwartet vom Gesetzgeber eine zeitnahe Verbesserung des BEM im Sinne der betroffenen Beschäftigten“, bekräftigte Silberbach. Aktion Mensch: inklusiver Arbeitmarkt hat Luft nach oben Nach Auffassung der Aktion Mensch scheitert gelungene Inklusion auf dem Arbeitsmarkt derzeit immer noch an der Einstellungspolitik der Unternehmen. Das „Inklusionsbarometer Arbeit“ der Aktion Mensch und des Handelsblatt Research Institutes, das im November 2022 zum zehnten Mal erschienen ist, kommt zu wenig erfreulichen Ergebnissen: Die Folgen der Pandemie sind für Menschen mit Behinderung auf dem Arbeitsmarkt noch immer spürbar. Zwar sinken die Arbeitslosenzahlen nach Jahren der Krise wieder, gleichzeitig verschärft sich jedoch die Langzeitarbeitslosigkeit. Nahezu die Hälfte aller arbeitslosen Menschen mit Behinderung ist mindestens ein Jahr ohne Beschäftigung – ein Plus von über fünf Prozentpunkten im Vergleich zum Vorjahr. Erholung und Fortschritt der Inklusion auf dem Arbeitsmarkt scheitern dabei insbesondere an der Beschäftigungsbereitschaft der Unternehmen, die sich nach wie vor oft lieber von ihrer Verpflichtung freikaufen. Vor dem Hintergrund der positiven Erfahrungen von Unternehmen, die Menschen mit Behinderungen beschäftigen, sei die derzeitige Einstellungspolitik umso kritischer zu bewerten, so die Aktion Mensch. 80 Prozent geben laut einer repräsentativen Befragung im Rahmen der Studie an, keine Leistungsunterschiede zwischen Kolleginnen und Kollegen mit und ohne Behinderung wahrzunehmen. Einmal auf dem Arbeitsmarkt angekommen, bewertet das Gros der Angestellten mit Behinderung den Einsatz ihrer Fähigkeiten als adäquat: 89 Prozent bestätigen, dass sie ihren beruflichen Qualifikationen entsprechend eingesetzt werden. Gleichzeitig erweisen sich bestehende Arbeitsverhältnisse als stabil – im Jahr 2021 gab es mit 19746 so wenig Anträge auf Kündigung von Menschen mit Behinderung wie noch nie seit Erscheinen des ersten Inklusionsbarometers. „Die Entwicklung der Inklusion auf dem Arbeitsmarkt hängt entscheidend von der Beschäftigungsbereitschaft der Unternehmen ab. Doch trotz zunehmender Personalengpässe ignorieren viele das Potenzial von Arbeitnehmerinnen und Arbeitgeber mit Behinderung“, sagt Prof. Dr. Bert Rürup, Präsident des Handelsblatt Research Institutes. Sind Menschen mit Behinderung dagegen arbeitslos, zeigt sich ein anderes Bild: Im vergangenen Jahr gelang lediglich drei Prozent die Rückkehr in den Arbeitsmarkt, während es bei Menschen ohne Behinderung sieben Prozent waren. Arbeitslose ohne Behinderung haben folglich eine mehr als doppelt so hohe Chance, eine Anstellung zu finden, als Arbeitslose mit Behinderung. Dies verstärkt weiterhin die Gefahr der Langzeitarbeitslosigkeit: Mehr als 80000 potenzielle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer – und damit rund 47 Prozent aller arbeitslosen Menschen mit Behinderung – sind mindestens ein Jahr ohne Beschäftigung. „Der in ganz Deutschland erneut gestiegene Anteil an langzeitarbeitslosen Menschen mit Behinderung ist alarmierend – dieser Missstand verfestigt sich mehr und mehr. Ohne eine drastische Verstärkung der Inklusionsbemühungen wird die Ungleichheit auf dem Arbeitsmarkt in den kommenden Jahren kaum aufzuheben sein“, mahnt daher Christina Marx, Sprecherin der Aktion Mensch. ■ Das Inklusionsbarometer von Aktion Mensch und Handelsblatt Research kann kostenlos heruntergeladen werden: https://t1p.de/inklusionsbarometer Webtipp Arbeitgeber, die trotz Beschäftigungspflicht keinen einzigen schwerbehinderten Menschen beschäftigen, sollen künftig eine höhere Ausgleichsabgabe zahlen. Für kleinere Arbeitgeber sollen wie bisher Sonderregelungen gelten. Die bisherige Möglichkeit, Mittel der Ausgleichsabgabe nachrangig auch für Einrichtungen zur Teilhabe schwerbehinderter Menschen am Arbeitsleben – insbesondere für Werkstätten für behinderte Menschen – zu verwenden, soll gestrichen werden. Zur Verbesserung des Bewilligungsverfahrens der Integrationsämter wird für Anspruchsleistungen (Arbeitsassistenz und Berufsbegleitung im Rahmen der unterstützten Beschäftigung) eine Genehmigungsfiktion nach Ablauf von sechs Wochen eingeführt. Der vom Leistungsträger zu erstattende Lohnkostenzuschuss ist aktuell auf 40 Prozent der Bezugsgröße begrenzt. Durch die Abschaffung der Deckelung soll sichergestellt werden, dass auch mit der Anhebung des Mindestlohns auf zwölf Euro bundesweit der maximale Lohnkostenzuschuss – soweit nach den Umständen des Einzelfalls erforderlich – gewährt werden kann. Die Zusammensetzung des Sachverständigenbeirats Versorgungsmedizin soll zukünftig einem teilhabeorientierten und ganzheitlichen Ansatz folgen. Die Eckpunkte des Gesetzentwurfs Best-Practice-Beispiel: AfB social & green IT Berlin bietet Arbeitsplätze für Mitarbeiter mit und ohne Behinderung. Hier werden elektronische Geräte aufgearbeitet und im eigenen Shop sowie online verkauft und versendet. 16 FOKUS dbb magazin | April 2023
Kommune Inklusiv Inklusion geht alle Menschen an Die Aktion Mensch fördert Modellkommunen für ein inklusives Miteinander. Das große Ziel des Projekts „Kommune Inklusiv“: Alle Menschen sollen gleichberechtigt und selbstbestimmt am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können. Alter, Religion, Geschlecht, Nationalität oder Behinderung sollen dabei keine Rolle spielen. Um dieses Ziel zu erreichen, haben sich in einem ersten Schritt fünf Kommunen auf den Weg gemacht, um die Gesellschaft vor Ort inklusiver zu gestalten. In einer öffentlichen Ausschreibung hatte die Aktion Mensch im Jahr 2016 nach diesen Modellstädten und -gemeinden gesucht. Noch bis Ende Juni 2023 begleitet sie die Modellkommunen Erlangen, Rostock, Schneverdingen, Schwäbisch Gmünd und die Verbandsgemeinde Nieder-Olm. Akteurinnen und Akteure vor Ort planen in diesem Rahmen Projekte für eine inklusive Gesellschaft. Die Maßnahmen sollen sich etablieren, dauerhaft zu Inklusionserfolgen führen und sich vor allem bundesweit fortsetzen. Weil viele Menschen beim Begriff Inklusion in erster Linie an Menschen mit Behinderung denken, liegt dem Projekt bewusst einen weiter Inklusionsbegriff zugrunde, der folgendermaßen definiert ist: „Jeder Mensch soll sich gleichberechtigt und unabhängig von Behinderung, sozialer Herkunft, Geschlecht, Alter, sexueller Orientierung oder sonstiger individueller Merkmale und Fähigkeiten an allen gesellschaftlichen Prozessen beteiligen können.“ So werden zum Beispiel in einem ersten Schritt die Bedingungen für bestimmte Zielgruppen verbessert, etwa für Seniorinnen und Senioren, Menschen mit Behinderung oder Geflüchtete. Nachdem entsprechende Erfahrungen in Lebensbereichen wie Freizeit, Arbeit oder Gesundheit gesammelt worden sind, können diese in die Zusammenarbeit mit weiteren Zielgruppen eingebracht werden. Am Ende sollen sich die Erfahrungen und Erfolge aus diesen Projekten auf alle Menschen und alle Lebensbereiche auswirken. Das Ziel ist die inklusive Kommune oder Stadt. Von den Erkenntnissen aus den Modellkommunen sollen auch andere Gemeinden, Städte und Kreise in Deutschland profitieren. So fließen die Erfahrungen aus der Initiative „Kommune Inklusiv“ in das Praxishandbuch Inklusion ein, das es als Online- und Printversion gibt. Darüber hinaus wird das Projekt wissenschaftlich begleitet. Forschende der Universitäten Frankfurt amMain und Marburg untersuchen, ob die Gesellschaft vor Ort durch das Vorhaben tatsächlich inklusiver wird. Dabei schauen sie sich drei Ebenen genauer an: Wie beurteilen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer die konkreten Maßnahmen vor Ort? Wie verändert sich der Sozialraum – also der Ort, an dem das Vorhaben wirken soll, beispielsweise eine Stadt, ein Stadtviertel oder eine Gemeinde? Wie verändern sich die Situation und die Gefühle der Menschen in den Modellkommunen? Mit dem neuen Förderprogramm „Inklusion vor Ort“ hat die Aktion Mensch das Projekt mittlerweile erweitert und per Ausschreibung neue Förderkommunen in Schleswig-Holstein und Nordrhein- Westfalen ermittelt. ■ … ist die größte private Förderorganisation im sozialen Bereich in Deutschland. Seit ihrer Gründung im Jahr 1964 hat sie mehr als fünf Milliarden Euro an soziale Projekte weitergegeben. Ziel der Aktion Mensch ist, die Lebensbedingungen von Menschen mit Behinderung, Kindern und Jugendlichen zu verbessern und das selbstverständliche Miteinander in der Gesellschaft zu fördern. Mit den Einnahmen aus ihrer Lotterie unterstützt die Aktion Mensch jeden Monat bis zu 1 000 Projekte. Möglich machen dies rund vier Millionen Lotterieteilnehmerinnen und -teilnehmer. Zu den Mitgliedern gehören: ZDF, Arbeiterwohlfahrt, Caritas, Deutsches Rotes Kreuz, Diakonie, Paritätischer Gesamtverband und die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland. Seit Anfang 2014 ist Rudi Cerne ehrenamtlicher Botschafter der Aktion Mensch. Die Infothek mit Materialien zum Projekt Kommune Inklusiv: aktion-mensch.de/kommune-inklusiv/infothek Die Aktion Mensch … © Jennifer Rumbach/Aktion Mensch e.V. FOKUS 17 dbb magazin | April 2023
Inklusion beim Einstieg in den Job Bei gleicher Eignung bevorzugt berücksichtigt? Das Risiko, arbeitslos zu sein, ist für Schwerbehinderte weit größer als für Nichtbehinderte. Stellenausschreibungen versprechen mitunter mehr, als Unternehmen zu halten bereit sind. Bei formeller Eignung werden schwerbehinderte und ihnen gleichgestellte Menschen zu Auswahlverfahren zugelassen und bei gleicher Eignung bevorzugt berücksichtigt.“ Die Entwicklung ist auf den ersten Blick erfreulich: Viele Stellenausschreibungen sowohl im öffentlichen Dienst als auch in der freien Wirtschaft laden Menschen mit Behinderung ausdrücklich in ihre Bewerbungsverfahren ein. Doch selbst Plattformen für die Online-Jobsuche wie Monster.de bezweifeln, dass dies ausreicht, um Unternehmen inklusiver zu gestalten. Rund drei Millionen Menschen im erwerbsfähigen Alter (Gesamtanteil etwa sechs Prozent) haben eine Schwerbehinderung. Die Arbeitsagentur bezifferte deren Erwerbsquote imMai 2022 für das Jahr 2017 mit 49 Prozent; für die Gesamtbevölkerung lag sie im gleichen Zeitraum hingegen bei über 78 Prozent. Im Jahr 2005 hatten die beiden Werte noch bei 41,6 beziehungsweise 73,8 Prozent gelegen. Der Anstieg der Erwerbsquote von Schwerbehinderten ist also in den zwölf dazwischenliegenden Jahren steiler verlaufen als der der Gesamtbevölkerung. Aber nur, weil ein Problem kleiner geworden ist, ist es noch nicht bewältigt. Auf der Arbeitgeberbewertungswebsite Kununu beschrieb Gregor Demblin, Gründer von myAbility, einer Jobplattform für Behinderte, das Problem schon vor gut drei Jahren: „Einerseits suchen Unternehmen nach wie vor verzweifelt nach Fachkräften, andererseits werden Menschen mit Behinderung bei der Zum Jahresende 2021 lebten in Deutschland laut Statistischem Bundesamt rund 7,8 Millionen schwerbehinderte Menschen. Als schwerbehindert gelten Personen, denen die Versorgungsämter einen Behinderungsgrad von mindestens 50 zuerkannt sowie einen gültigen Ausweis ausgehändigt haben. Bezogen auf die Gesamtbevölkerung waren 9,4 Prozent der Menschen in Deutschland schwerbehindert. 50,3 Prozent der Schwerbehinderten waren Männer, 49,7 Prozent waren Frauen. Etwa 1,4 Millionen Menschen benötigten einen Rollstuhl. Behinderungen entstehen meist erst im fortgeschrittenen Alter. So war rund ein Drittel (34 Prozent oder 2,6 Millionen) der schwerbehinderten Menschen zum Jahresende 2021 ab 75 Jahren alt. Etwas weniger als die Hälfte (45 Prozent oder 3,5 Millionen) der Schwerbehinderten gehörte der Altersgruppe von 55 bis 74 Jahren an. Nur knapp 3 Prozent oder 198 000 waren Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren. Körperliche Behinderungen hatten 58 Prozent der schwerbehinderten Menschen. Geistige oder seelische Behinderungen hatten insgesamt 14 Prozent der schwerbehinderten Menschen, zerebrale Störungen lagen in 9 Prozent der Fälle vor. Bei den übrigen Personen (19 Prozent) war die Art der schwersten Behinderung nicht ausgewiesen. Schwerbehinderte in Deutschland Model Foto: Colourbox.de 18 FOKUS dbb magazin | April 2023
Suche komplett ausgeklammert. Diese Personengruppe ist in einem überdurchschnittlichen Ausmaß arbeitslos und es entstehen volkswirtschaftliche Kosten. Daraus ergibt sich also ein doppelter Schaden für die Wirtschaft.“ Blockaden in den Köpfen lösen Viele dächten, Inklusion beträfe sie nicht, weil keine Person mit Behinderung in ihrem Umfeld oder Unternehmen sei. Dies entpuppe sich bei näherem Hinsehen als ein weitverbreiteter Irrglaube. Studien hätten gezeigt, dass zwei Prozent der Belegschaft in jedem Großunternehmen jedes Jahr eine Behinderung erwerben, so Demblin über die Situation. „Gerade Personen mit offensichtlicher Behinderung werden von Unternehmen und Personalverantwortlichen von vornherein als weniger leistungsfähig eingestuft. Arbeitgeber gehen davon aus, dass höhere Krankenstände zu erwarten sind. Sie haben Angst vor allen möglichen gesetzlichen Regelungen und sind generell unsicher, wie sie richtig mit ebenjenen Personen sprechen und umgehen sollen“, sagt Demblin über die Unternehmen, die er nicht nur in Österreich, von wo aus myAbility operiert, sondern auch in Deutschland und der Schweiz zu Inklusionsfragen berät. Gründe, warum Unternehmen die Einstellung Behinderter vermieden, gibt es viele. Monster.de listet einige auf. So sei mitunter der bürokratische Aufwand hinderlich: In manchen Landkreisen redeten bis zu acht Ämter mit, wenn ein Unternehmen eine behinderte Person einstellen wolle. Die größten Hürden befänden sich aber in den Köpfen der Personalverantwortlichen. Es herrsche auch im 21. Jahrhundert eine immense Unsicherheit im Umgang mit behinderten Menschen: darüber, wie mit einer behinderten Angestellten zu sprechen sei, wie man mit einem Kollegen umgehen solle, der Assistenz benötigte, oder auch wie die eigenen Kunden auf den Kollegen oder die Kollegin reagieren könnten. Hinzu komme, dass viele Arbeitgeber schlicht glauben, dass behinderte Beschäftigte weniger belastbar und leistungsfähig seien. Doch nicht nur in Österreich, auch in Deutschland gibt es Aktivisten, die diese Situation ändern, Mythen und Ängste abbauen wollen. So das in den Stadtstaaten Berlin und Bremen aktive Projekt Inklupreneur, das Unternehmen auf ihremWeg zu einer inklusiven Arbeitskultur unterstützt und so hilft, Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderung zu schaffen. Neben einem Talentpool für Menschen mit Behinderung in der Bewerbungsphase bietet das Projekt auch Beratung und Hilfestellung für potenzielle Arbeitgeber. Durch die Vernetzung mit bereits inklusiv agierenden Unternehmen sollen „Neulinge“ in einen regen Erfahrungsaustausch eingebunden werden. Inklupreneur berät und hilft beim Aufbau einer inklusiven Unternehmenskultur und erarbeitet gemeinsammit dem Unternehmen ein passendes Inklusionskonzept. Für die Initiatoren geht es darum, den Unternehmen Wege zu zeigen, wie sie einen Mehrwert für den Betrieb und alle darin Beschäftigten schaffen sowie darüber hinaus mit gutem Beispiel vorangehen und zeigen können, dass Inklusion einfach möglich sei. Zentral dafür ist die „Jobcarving“ genannte Betrachtung der Stellenprofile. Können Aufgaben, die immer wieder liegen bleiben und weder akademische Qualifikation noch andere Vorkenntnisse benötigen, nicht umgeschichtet und vielleicht Menschen mit eingeschränkten kognitiven Fähigkeiten übertragen werden? Fachpersonal kann so mehr Raum für die Kerntätigkeiten gewinnen und vielleicht sogar Überstunden vermeiden. Bei dieser Umstrukturierung weg von Zuständigkeiten hin zu Tätigkeiten werden die Unternehmen von Jobcoaches und Mentorinnen unterstützt, die mitunter eigene Erfahrungen als Schwerbehinderte in der Arbeitswelt in die Beratung einbringen können. Hemmungen abbauen, Türen öffnen Ziel ist es letztlich, Hemmungen abzubauen und neue Türen zu öffnen. Inklusion bedeutet dabei nicht, einen Schutzraum für Behinderte zu schaffen, sondern ihnen einen Freiraum zu eröffnen, getreu dem – wohl zu Unrecht Albert Einstein zugeschriebenen – Motto: „Jeder ist begabt! Aber wenn du einen Fisch danach beurteilst, ob er auf einen Baum klettern kann, wird er sein ganzes Leben glauben, dass er dumm ist.“ Die Leistung ist für die Unternehmen nicht nur kostenlos, Inklupreneur wird als Modellvorhaben seit dem Start im April 2021 über staatliche Mittel gefördert. Letztendlich sparen die Firmen Geld: Unternehmen mit über 20 Beschäftigten müssten Ausgleichszahlungen leisten, wenn sie keine Behinderten einstellen. Allein das Landesamt für Gesundheit und Soziales in Berlin (LAGeSo) sammelte dadurch im Jahr 2021 knapp 50 Millionen Euro ein. Ob Start-ups oder Großunternehmen: Viel zu oft zahlen Firmen lieber, als sich mit Inklusionsamt, Agentur für Arbeit, Dienststellen für Arbeitssicherheit, Versicherungen und den Integrationsfachdiensten auseinanderzusetzen. Und die IHKs, bei denen es Inklusionsberatungen gebe, sprächen nicht die gleiche Sprache wie die Gründer, erklärt Nils Dreyer, Leiter der gemeinnützigen Organisation Hilfswerft, die mit dem Projekt Inklupreneur Menschen mit Behinderung bei Start-ups in Arbeit bringen will, im Jahr 2022 in einem Interview mit demMagazin Gründerszene. Der Fokus des Projektes Inklupreneur liegt jedoch nicht auf den Defiziten: „Wir wollen gemeinsam für eine neue, offene Arbeitskultur einstehen. Inklusion nicht nur belobigen, sondern wirklich verstehen und umsetzten“, heißt es auf ihrer Website. Wie das tatsächlich gelingen kann, schildern Betroffene in ihren „Erfolgsgeschichten“ auf dem Inklupreneur-Blog: inklupreneur.de/blog/. ada „Jeder ist begabt! Aber wenn du einen Fisch danach beurteilst, ob er auf einen Baum klettern kann, wird er sein ganzes Leben glauben, dass er dumm ist.” Model Foto: Colourbox.de FOKUS 19 dbb magazin | April 2023
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