dbb magazin 5/2023

dbb magazin Daseinsvorsorge | Schlüsselelement für eine lebenswerte Zukunft Interview | Volker Wissing, Bundesminister für Digitales und Verkehr Einkommensrunde Bund und Kommunen | Tarifabschluss mit bis zu 16 % mehr Einkommen 5 | 2023 Zeitschrift für den öffentlichen Dienst

STARTER Bei der Daseinsvorsorge bleibt der Staat in der Pflicht Daseinsvorsorge in Deutschland geht über die Bereitstellung wichtiger Versorgungsinfrastrukturen hinaus. Neben Energieversorgung, Wasser und Abwasser, Verkehr und Telekommunikation umfasst Daseinsvorsorge auch Bildung, Gesundheit und soziale Sicherheit. Sie sorgt für die Erfüllung der Grundbedürfnisse von Bürgerinnen und Bürgern, insbesondere in wirtschaftlich schwierigen Zeiten. Daseinsvorsorge soll sicherstellen, dass allen grundlegende Dienste zugänglich sind, unabhängig von ihremWohnort oder ihrer sozialen Stellung. Sie ist damit ein wichtiges Element des sozialen Zusammenhalts. Dabei ist die Daseinsvorsorge auch auf ehrenamtliches Engagement angewiesen, denn viele grundlegende Dienstleistungen werden von Freiwilligen erbracht, die sich in gemeinnützigen Organisationen, Vereinen und Verbänden engagieren. Dieses ehrenamtliche Engagement darf allerdings nicht als Ersatz für staatliche Verantwortlichkeiten missverstanden werden: In erster Linie ist es eine grundlegende Aufgabe des Staates, Daseinsvorsorge zu finanzieren und zu organisieren. Das dbb magazin stellt in der aktuellen Ausgabe Aspekte der Daseinsvorsorge vor – von der Wasserinfrastruktur über die Arbeit des THW bis hin zur Obdachlosenhilfe – und die Menschen, die dahinterstehen. br 12 4 18 TOPTHEMA Daseinsvorsorge 26 AKTUELL EINKOMMENSPOLITIK Einkommensrunde 2023: Tarifabschluss mit bis zu 16 Prozent mehr Einkommen 4 NACHRICHTEN Pflegeunterstützungs- und -entlastungsgesetz (PUEG): Bundesregierung kassiert Entlastungsbudget 6 DBB FORUM dbb forum ÖFFENTLICHER DIENST digital: „Tätowiert – war’s das mit der Verbeamtung?“ 8 FOKUS INTERVIEW Volker Wissing, Bundesminister für Digitales und Verkehr 10 REPORTAGE Wasserversorgung: Mit Nachhaltigkeit gegen Wasserstress 12 DASEINSVORSORGE Klimaschutz: Aktionspläne gegen Hitzefolgen dringend gesucht 16 Zivil- und Katastrophenschutz: Das Vorsorge-Paradox 18 VORGESTELLT Berliner Stadtmission: Daseinsvorsorge direkt amMenschen 21 ONLINE Breitbandausbau: Aufholjagd mit Glasfaser 24 DBB FORUM INKLUSION Inklusiver Arbeitsmarkt: Ein Gewinn für die Wettbewerbsfähigkeit 26 EUROPA Europäischer Abend: „Alle brauchen qualifizierte Zuwanderung“ 29 INTERN FRAUEN Familienbarometer: Eltern brauchen mehr Unterstützung 33 JUGEND Quarterlife Crisis: Strategien gegen Sinnkrise und Zukunftsangst 34 SENIOREN Altersgerechtes Leben: Was Daseinsvorsorge für Senioren leisten muss 36 KOMPAKT GEWERKSCHAFTEN 42 © Uta Wagner AKTUELL 3 dbb magazin | Mai 2023

EINKOMMENSPOLITIK Nach einer intensiven Schlichtung und vier Verhandlungsrunden haben sich Gewerkschaften und Arbeitgebende am 22. April 2023 in Potsdam auf einen Tarifkompromiss für die Beschäftigten von Bund und Kommunen geeinigt. Einkommensrunden sind immer zäh. Aber dieses Mal war es besonders kniffelig“, kommentierte dbb Chef Ulrich Silberbach die schwierigen Verhandlungen mit Bund und Kommunen. Das Ergebnis könne sich aber durchaus sehen lassen. „3000 Euro Inflationsausgleich und mindestens 340 Euro tabellenwirksame Erhöhung für jede und jeden. Angesichts der Finanzschwäche vieler Kommunen ist das eine echte Hausnummer. Prozentual liegen allein die Tabellenerhöhungen – je nach Entgeltgruppen – damit zwischen 8 und 16 Prozent“, so der dbb Bundesvorsitzende Ulrich Silberbach am 22. April 2023 nach Verhandlungsabschluss in Potsdam. Natürlich hätten die Gewerkschaften vor allem bei Themen wie Laufzeit und Inflationsausgleich für Teilzeitbeschäftigte weitergehende Vorstellungen gehabt. Silberbach: „Mehr war aber vor allem bei den Kommunen nicht durchzusetzen. Auch dieser Kompromiss ist übrigens ohne die vielen Warnstreiks und Protestaktionen der letzten Monate überhaupt nicht vorstellbar. Der Einsatz der Kolleginnen und Kollegen hat sich gelohnt, spürbare Einkommenszuwächse werden erreicht – keine Kleinigkeit in diesen Zeiten.“ Abschließend wies Silberbach darauf hin, dass die Einkommensrunde für den dbb erst dann beendet ist, wenn das Volumen der Tarifeinigung zeitgleich und systemgerecht auf den Bereich Besoldung und Versorgung des Bundes übertragen ist. Schlichtungsempfehlung Zuvor waren die Tarifverhandlungen nach dem Scheitern der dritten Runde in ein Schlichtungsverfahren eingetreten. Die Beratungen der Schlichtungskommission waren am 14. April 2023 mit einer Einigungsempfehlung beendet worden, die mit dem Tarifabschluss weitgehend umgesetzt wurde. „Wir sind als Schlichter einen neuen Weg gegangen: Für 2023 gibt es einen Inflationsausgleich, ab 1. März 2024 einen Sockelbetrag verbunden mit einer linearen Erhöhung. Der Mix ist ein fairer Interessenausgleich, für den natürlich auch viel Geld in die Hand Einkommensrunde 2023 Tarifabschluss mit bis zu 16 Prozent mehr Einkommen dbb Chef Ulrich Silberbach, Bundesinnenministerin Nancy Faeser, der ver.di-Vorsitzende Frank Werneke und VKA-Präsidentin Karin Welge (von links) erläuterten das Tarifergebnis vor der Presse. © Jürgen Brandt © FriedhelmWindmüller (4) 4 AKTUELL dbb magazin | Mai 2023

genommen werden muss – eine gute Investition in einen zukunftsfähigen öffentlichen Dienst“, sagte der Vorsitzende der Schlichtungskommission, Prof. h. c. Hans-Henning Lühr. Der ehemalige Bremer Staatsrat Lühr war von der Arbeitnehmerseite als Schlichter benannt worden. „Unter Berücksichtigung der hohen Inflationsraten, der Interessen der Beschäftigten, aber auch der Steuer- und Gebührenzahler kann ich trotz der ungewöhnlichen Höhe die Empfehlung der Schlichtungskommission mittragen und hoffe auf eine schnelle und einvernehmliche Regelung des Tarifkonflikts auf dieser Basis“, hatte der zweite Vorsitzende der Schlichtungskommission, der ehemalige sächsische Ministerpräsident Prof. Dr. Georg Milbradt, betont. Ihn hatte die Arbeitgeberseite als Schlichter berufen. Streiks abgewendet „Wir haben viel investiert am Verhandlungstisch und auf der Straße. Und wir sind nach dem Scheitern der Verhandlungen Ende März mit der Vorbereitung der Urabstimmung und des Vollstreiks zweigleisig gefahren. Denn nach unklarem Auftritt von Bund und VKA am Ende der dritten Verhandlungsrunde mussten wir damit rechnen, dass auch die Schlichtung nicht die Wende bringt“, blickte dbb Tarifchef Volker Geyer am 22. April vor der dbb Bundestarifkommission auf die vergangenen Wochen zurück. „Aber im Laufe der Schlichtung hat die Möglichkeit eines Tarifabschlusses ohne Urabstimmung und Vollstreik wieder an Wahrscheinlichkeit gewonnen. Alle haben sich bewegt. So ist heute ein Ergebnis vereinbart worden, dass ganz deutlich dem Willen der Gewerkschaften entspricht, den Beschäftigten im öffentlichen Dienst notwendige Einkommenserhöhungen zu verschaffen.“ Geyer machte jedoch auch keinen Hehl daraus, was nicht durchgesetzt werden konnte: „Bund und VKA haben sich hartnäckig geweigert, die bisherigen Altersteilzeitregelungen zu verlängern. Außerdem haben wir lange dafür gekämpft, dass Teilzeitbeschäftigte die Inflationsausgleichsprämie in vollem Umfang erhalten. Auch hier haben sich die Arbeitgebenden bis zuletzt verweigert.“ ■ > Ein steuer- und sozialabgabenfreies Inflationsausgleichsgeld in Höhe von 3 000 Euro (stufenweise Auszahlung ab Juni 2023). > Ab dem 1. März 2024 Erhöhung der Tabellenentgelte um 200 Euro (Sockelbetrag) und anschließend um 5,5 Prozent (Anpassung des Erhöhungsbetrags auf 340 Euro, wo dieser Wert nicht erreicht wird). > Ausbildungs- und Praktikantenentgelte werden zum gleichen Zeitpunkt um 150 Euro erhöht. > Vertragslaufzeit: 24 Monate. Mehr Infos sowie vorläufige Tabellen: t1p.de/tarifergebnis Die Eckpunkte der Einigung dbb Tarifchef Volker Geyer sprach vor der vierten Runde zu den Demonstrierenden am Verhandlungsort. Ohne die Mitglieder der dbb Gewerkschaften, die öffentlichen Druck aufbauen, wären Tarifkompromisse wie der jetzt erzielte nicht möglich. Zustimmung durch die dbb Bundestarifkommission, die während der vierten Verhandlungsrunde hybrid tagte. © Kim Laubner AKTUELL 5 dbb magazin | Mai 2023

Model Foto: Kzenon/Colourbox.de NACHRICHTEN Pflegeunterstützungs- und -entlastungsgesetz (PUEG) Bundesregierung kassiert Entlastungsbudget Der dbb hat Stellung zum Entwurf des Pflegeunterstützungs- und -entlastungsgesetzes (PUEG) genommen. Der Gesetzentwurf sieht ein Bündel an Maßnahmen vor, darunter leistungsrechtliche Verbesserungen und eine Neuregelung der Beitragsbemessung. Für Irritationen sorgt hingegen die Streichung des ursprünglich geplanten Entlastungsbudgets. Demnach soll der allgemeine Beitragssatz zum 1. Juli 2023 um 0,35 Prozentpunkte auf künftig 3,4 Prozent der beitragspflichtigen Einnahmen steigen. Zeitgleich soll der Beitragssatz für Kinderlose um 0,35 Prozentpunkte auf 0,6 Prozent steigen. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Berücksichtigung der Kinderzahl bei der Bemessung des Beitragssatzes führt dabei zu einem nach Kinderzahl gestaffelten Abschlag auf den allgemeinen Beitragssatz: Bei zwei Kindern beträgt dieser 0,15 Prozentpunkte und erhöht sich pro zusätzlichem Kind um weitere 0,15 Prozentpunkte bis zu einemmaximalen Abschlag von 0,6 Prozentpunkten. Die Abschläge gelten lebenslang. Der dbb kritisiert die unausgewogene Finanzierung der Leistungssteigerung, da die Leistungsdynamisierung und die Zuweisungen an den Pflegevorsorgefonds um ein Jahr aufgeschoben werden sollen. Darüber hinaus vermisst der dbb die im Koalitionsvertrag vereinbarte Finanzierung versicherungsfremder Leistungen aus Steuermitteln wie etwa der pandemischen Sonderbelastungen oder der Rentenversicherungsbeiträge für pflegende Angehörige. „Hätte die Bundesregierung an dieser Stelle Wort gehalten, wäre die Beitragssatzanpassung moderater ausgefallen“, sagte dbb Chef Ulrich Silberbach und kritisierte darüber hinaus die nach dem entsprechenden Kabinettsbeschluss vom 6. April 2023 bekannt gewordene Streichung des Entlastungsbudgets aus dem Gesetzentwurf. Mit dem Entlastungsbudget für pflegende Angehörige sollten die Leistungen der Verhinderungs- und der Kurzzeitpflege zusammengefasst werden, um flexibler und leichter in Anspruch genommen werden zu können. „Es beschleicht einen das Gefühl, dass das intransparente Leistungsdickicht politisch gewollt ist. Anders lässt sich die Streichung nicht erklären“, so Silberbach. Auch die Zusammenlegung der Leistungen der Kurzzeit- und der Verhinderungspflege werde schon lange diskutiert. Die derzeitigen komplizierten Anrechnungsmöglichkeiten und die der Inanspruchnahme seien kontraproduktiv, so der dbb Chef: „Gute pflegerische Versorgung in den eigenen vier Wänden darf nicht an mangelnder Kenntnis über das Leistungsrecht scheitern. Hier werden wir im Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens noch mal vehement nachhaken müssen.“ Insgesamt sei der PUEG-Entwurf „kein großer Wurf, sondern Flickschusterei“, erklärte Silberbach. „Wir brauchen Antworten auf Demografie, Fachkräftemangel und Inflation. Aspekte, die die Pflegeversicherung ganz unmittelbar betreffen und in ihrer derzeitigen Form infrage stellen. Fünfprozentige Leistungsanhebungen in einigen Bereichen führen gewiss nicht zu mehr Nachhaltigkeit und werden dem Namen des Gesetzes sicher nicht gerecht.“ Der Entwurf enthalte aber auch positive Ansätze wie die gesetzliche Verankerung der Leistungsdynamisierung verbunden mit der Koppelung an die Kerninflationsrate – eine langjährige Forderung des dbb. Positiv hervorzuheben seien darüber hinaus die Verlängerung des Förderprogramms zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Pflege bis zum Jahr 2030 und die neu geschaffene Förderung von wohnortnahen Modellprojekten unter Beteiligung von Ländern und Kommunen. Ebenso sei die angekündigte Einrichtung eines OnlineInformationsportals für Pflegebedürftige und deren Angehörige sinnvoll, in dem tagesaktuelle Vakanzen von Kurzzeitpflegeplätzen sowie in Einrichtungen der Tages- und Nachtpflege aufgelistet werden sollen. ■ „Gute pflegerische Versorgung in den eigenen vier Wänden darf nicht an mangelnder Kenntnis über das Leistungsrecht scheitern.“ Ulrich Silberbach 6 AKTUELL dbb magazin | Mai 2023

DBB FORUM dbb forum ÖFFENTLICHER DIENST digital „Tätowiert – war’s das mit der Verbeamtung?“ Tätowierungen sind in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Das gilt auch für den öffentlichen Dienst, wo viele Beschäftigte Körperschmuck tragen. Allerdings gibt es im Beamtenrecht auch restriktive Regelungen in Bezug auf Tattoos und Körperschmuck. Ist das noch zeitgemäß? Wo verlaufen die Grenzen zwischen gelebter Individualität und den Anforderungen an das Auftreten in einem öffentlichen Dienstverhältnis? Der dbb fordert beim Thema Tätowierungen bundesweit gleiche beamtenrechtliche Standards und deren regelmäßige Überprüfung mit Blick auf die gesellschaftliche Akzeptanz. Für den Zugang zum Beamtenverhältnis gibt es aufgrund des Lebenszeitprinzips und der eigenständigen Rechtsstellung besonders hohe Anforderungen an die Auswahl nach Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung. „So dürfen – neben weiteren Voraussetzungen – nur jene in das Beamtenverhältnis auf Lebenszeit übernommen werden, die auch charakterlich uneingeschränkt geeignet sind. Das äußere Erscheinungsbild ist dabei ein Teilaspekt, der Rückschlüsse auf die charakterliche Eignung zulassen kann. Auch von Tätowierungen können durch die besondere Symbolhaftigkeit gegebenenfalls Rückschlüsse auf die charakterliche Eignung oder eben Nichteignung gezogen werden. Zudem dürfen generell keine Zweifel an der unvoreingenommenen Amtsführung hervorgerufen werden“, erläuterte dbb Vize und Beamtenvorstand Friedhelm Schäfer am 20. April 2023 anlässlich des Diskussionsformats „dbb forum ÖFFENTLICHER DIENST“ in Berlin. Immer wieder hätten sich vor diesem Hintergrund Verwaltungsgerichte mit der Frage auseinanderzusetzen, ob tätowierte Beamtenbewerberinnen und Beamtenbewerber für die Übernahme in das Beamtenverhältnis ungeeignet sein könnten. „Zwar hat der Bund 2021 für Beamtinnen und Beamte des Bundes und der Länder grundsätzliche Vorgaben zum Erscheinungsbild gemacht, was ausdrücklich zu begrüßen ist“, so Schäfer. „Wir brauchen bundesweit gleiche beamtenrechtliche Standards, alles andere wäre unglaubwürdig und weder intern noch extern vermittelbar. „Allerdings gehören diese Standards regelmäßig auf den Prüfstand. Denn das Tragen von Tätowierungen ist gesellschaftlich mittlerweile weitgehend akzeptiert. Sind beispielsweise im Bereich einer obersten Dienstbehörde Tätowierungen eingeschränkt oder untersagt worden, so muss die weitere Entwicklung beobachtet und überprüft werden, ob die Einschränkung noch zeitgemäß und mit Blick auf die Persönlichkeitsrechte der betroffenen Beamtinnen und Beamten weiterhin gerechtfertigt ist. Gibt es diesbezüglich Zweifel, sind die rechtlichen Vorgaben anzupassen“, sagte der dbb Vize. Das Vertrauen der Bevölkerung in die Neutralität, Objektivität und Unparteilichkeit von Beamtinnen und Beamten sei ein überragendes Gut für den demokratischen und sozialen Rechtsstaat. Dies gelte insbesondere, wenn es sich um Uniformträgerinnen und Uniformträger handele, die hoheitliche Maßnahmen durchsetzten, so Schäfer, der mit Lars Oliver Michaelis, Professor für Europa- und Beamtenrecht, Valentino Tagliafierro, Personalratsvorsitzender bei der Feuerwehr Duisburg, und Christian Beisch, Vorsitzender des Bezirkspersonalrats bei der Generalzolldirektion, diskutierte. „Anpassung an die Lebenswirklichkeit der Menschen“ Nach Auffassung von Christian Beisch ist es auch für die Eingriffsverwaltung notwendig, mit der Zeit zu gehen und vornehmlich vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels mehr Toleranz gegenüber Körperschmuck zu zeigen, wenn es um das Einstellungsverfahren geht. In seinem Bereich mit rund 48 000 Beschäftigten arbeiteten zwar viele Kolleginnen und Kollegen im Innendienst, es gebe aber auch einen großen bewaffneten Vollzugsbereich mit Uniform. „Noch in den 90er-Jahren waren Tattoos oder anderer Körperschmuck wie Piercings oder Brandings ein ,No-Go‘ für den Eintritt in den Zoll. Mittlerweile ist das gesellschaftlich breit akzeptiert, sodass viele Bewerberinnen und Bewerber KörperModel Foto: Colourbox.de 8 AKTUELL dbb magazin | Mai 2023

schmuck tragen. Abgesehen vom sichtbaren Bereich gibt es da bei uns keine starren Regelungen, es werden Einzelfallentscheidungen getroffen.“ Eher stelle sich die Frage, was die Bevölkerung in Sachen Körperschmuck von der Eingriffsverwaltung akzeptiere und wo die Grenzen des guten Geschmacks oder der Verfassungstreue überschritten seien. „Eine ganz klare Grenze bilden da wie in anderen Bereichen des öffentlichen Dienstes auch verfassungsfeindliche Symbole, zur Schau gestellter politischer Extremismus, Sexismus und Gewaltverherrlichung. Das ist natürlich auch bei uns ein Ausschlusskriterium, weil man aufgrund dessen den Bewerberinnen und Bewerbern die Verfassungstreue durchaus absprechen kann.“ Insgesamt aber sei es unabdingbar, auf einem immer schwieriger werdenden Arbeitsmarkt mit der Zeit zu gehen und Zugeständnisse etwa bei Tattoos im sichtbaren Bereich zu machen, wenn man guten Nachwuchs gewinnen möchte. In der Praxis könne zwar durchaus je nach Einsatz der Beamtinnen und Beamten Verdeckung angeordnet werden, beispielsweise durch ein langärmeliges Hemd. Aber auch in der Zollverwaltung setze ein Umdenken ein: „Es kann jemand heute nicht mehr per se von einer Beförderung ausgeschlossen werden, nur weil sie oder er eine sichtbare Tätowierung trägt. Schon gar nicht in Anbetracht dessen, dass auch so manche Führungskraft beim Zoll mittlerweile tätowiert ist.“ Das gelte auch für Versetzungen über Ländergrenzen hinweg. „Über die Länge der Haare bei Kollegen diskutiert heute auch niemand mehr, das ist nichts weiter als Anpassung an die Lebenswirklichkeit der Menschen“, so Beisch. „Deutlich liberaler“ Juristische Einordnungen zum Thema lieferte Lars Oliver Michaelis. Grundsätzlich komme die Körperschmuck-Problematik überwiegend bei Bewerberinnen und Bewerbern im Beamtenbereich zum Tragen. Jene, die sich nach einer Verbeamtung tätowieren lassen, müssten in den seltensten Fällen Konsequenzen befürchten, führte der Professor für Staats-, Europa- und Beamtenrecht an der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung des Landes NRW aus. Bei der rechtlichen Entscheidungsfindung stünden jeweils Größe, Sichtbarkeit und Motiv der Tätowierung im Fokus, wobei Größe und Sichtbarkeit in der Regel normiert seien. In Nordrhein-Westfalen gelte zum Beispiel der Körperschmuckerlass, nach dem Tattoos bis zur Größe einer Handfläche mit dem Beamtenstatus vereinbar sind. Strengere Maßstäbe gebe es für Beamtinnen und Beamte, die eine Uniform tragen, da diese aufgrund der offiziellen Bekleidung nicht in erster Linie als Individuum, sondern als Verkörperung des Staates wahrgenommen und von den Bürgerinnen und Bürgern als neutral akzeptiert würden. Eine sichtbare Tätowierung könne diese Neutralität stören, so Michaelis. Verfassungswidrige, als links- oder rechtsextrem einzuordnende oder Waffen verherrlichende Motive seien ein grundsätzliches Ausschlusskriterium, betonte wie Beisch auch Michaelis, da sich durch die Wahl des Motivs durchaus Rückschlüsse auf die charakterliche Eignung der Beamtinnen und Beamten ziehen ließen. Ausführlich erörterte der Jurist die Schwierigkeiten, einheitliche Regelungen für den Umgang mit Körperschmuck und insbesondere Tätowierungen zu finden. So läge der Erlass von Dienstkleidungsvorschriften beim Bund und den einzelnen Bundesländern, die Eignungsfrage dagegen werde übergreifend geregelt. Zudem sei ungeklärt, ob Tätowierungen Teil der Eignungsfrage oder ein Thema der Dienstkleidung sind. Zu unterscheiden sei außerdem zwischen den verschiedenen Formen einer Verbeamtung – also Ernennung auf Widerruf, auf Probe oder auf Lebenszeit. So könne es etwa sein, dass Beamtinnen und Beamte mit einer Ernennung auf Widerruf oder Probe bei einer in diesem Status erfolgenden Tätowierung keine Chance auf eine Verbeamtung auf Lebenszeit hätten. Die Rückabwicklung eines bestehenden Beamtenverhältnisses sei nur in den seltensten Fällen rechtlich durchsetzbar, etwa bei einer arglistigen Täuschung. Die Wissenschaft, erklärte Michaelis, tendiere dazu, keine bundeseinheitlichen Regeln zu schaffen. Die Gesellschaft sehe Tätowierungen ohnehin zunehmend als unproblematisch an. In Zukunft könne deswegen womöglich auch das Uniformprinzip durchbrochen werden, so Michaelis’ These, die er mit dem Beispiel der Bundespolizei untermauerte. Dort sei man mit der Zeit deutlich liberaler geworden, auch große und sichtbare Tätowierungen an den Unterarmen spielten mittlerweile eine weitaus geringere Rolle als etwa beim Zoll oder bei der Bundeswehr. Der zunehmende Bewerbendenmangel vergrößere den Akeptanzrahmen der Dienstgebenden zusätzlich. Und auch die Grundrechte der Bewerberinnen und Bewerber – Meinungs- und Berufswahlfreiheit, das Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit – dürften nicht durch unverhältnismäßige Regulierungen eingeschränkt werden, gab der Jurist zu bedenken. DemWandel offen begegnen Valentio Tagliafierro, Stadtbrandmann bei der Feuerwehr Duisburg und Mitglied der komba gewerkschaft, berichtete, dass es bei seiner Verbeamtung vor über 20 Jahren trotz seiner Tätowierungen zu keinen Problemen gekommen sei. Auch in Gesprächen mit Vorgesetzten oder Vertretern der Politik hätten die Tattoos bislang keinerlei Schwierigkeiten bereitet. Immer mehr Menschen trügen Tattoos und anderen Körperschmuck und da insbesondere in den Berufen der Einsatzkräfte Parameter wie körperliche und fachliche Eignung weit wichtiger – im Zweifel überlebenswichtig – seien, sollten sowohl Dienstgebende als auch die Interessenvertretungen der Beschäftigten dem Akzeptanzwandel offen gegenüberstehen. „Menschen mit Tattoos sollten – besonders in Anbetracht des steigenden Fachkräftemangels – nicht pauschal abgestempelt werden“, riet Tagliafierro. ■ Moderatorin Ines Arland und dbb Vize Friedhelm Schäfer leiteten die Diskussionsrunde. © Jan Brenner AKTUELL 9 dbb magazin | Mai 2023

INTERVIEW Die Verkehrsinfrastruktur in Deutschland ist in die Jahre gekommen. Viele Straßen und Brücken sind Sanierungsfälle, langwierige Genehmigungsverfahren erschweren Neubauten. Das hat nicht nur Auswirkungen auf Wirtschaft und Industrie, sondern könnte auch die Energiewende verzögern. Was unternimmt die Bundesregierung, um dem entgegenzuwirken? Schienen, Straßen und Wasserwege sind die Lebensadern für Wirtschaft und Gesellschaft. Wohin es führt, wenn Sanierung und Ausbau der Verkehrswege jahrelang vernachlässigt werden, sieht man derzeit an verschiedenen Stellen im Verkehrsnetz. Wir müssen daher Brücken, Schienen, Straßen, Wasserwege und auch Radwege dringend modernisieren und das Netz überall dort ausbauen, wo es nötig ist, damit unsere Verkehrswege den Anforderungen von heute und der Zukunft gerecht werden. Vor allemmüssen wir schneller werden: beim Planen, Genehmigen und Bauen. So hat die Bundesregierung bereits zahlreiche gesetzliche Maßnahmen, wie zum Beispiel eine deutliche Verkürzung des Raumordnungsverfahrens auf maximal sieben Monate, auf den Weg gebracht. Ich setze mich außerdem für weitere gesetzliche Beschleunigungsmaßnahmen und Verfahrenserleichterungen bei allen Verkehrsträgern ein. Dazu bringen wir ein Genehmigungsbeschleunigungsgesetz auf den Weg. Auch durch die verstärkte Nutzung von neuen, digitalen Methoden können wir schneller werden. Building Information Modeling (BIM) ermöglicht es uns zum Beispiel, Projekte besser zu visualisieren und dadurch effizienter zu planen und umzusetzen. Damit kommen wir auf demWeg zu einer modernen Infrastruktur einen großen und vor allem schnelleren Schritt voran. Der Anteil der Schiene am Güterverkehr soll nach demWillen der Bundesregierung bis 2030 von rund 18 Prozent auf 25 Prozent steigen, die Verkehrsleistung im Personenverkehr soll sich gar verdoppeln. Das gibt das Schienennetz in seinem aktuellen Zustand aber nicht her. Wie können die Ziele trotzdem erreicht werden? Für die Erreichung unserer Klimaziele spielt die Schiene eine herausragende Rolle. Nach Jahren der Versäumnisse müssen wir die enormen Herausforderungen nun konsequent angehen. Zentraler Kompass ist der Deutschlandtakt, der etappenweise umgesetzt werden soll. Ziele sind: ein Halbstundentakt zwischen den Metropolen für den Personenfernverkehr, belastbare Systemtrassen für den Schienengüterverkehr und gut ausgebaute Knoten, von denen aus der Deutschlandtakt in die Fläche wächst und einen attraktiven ÖPNV ermöglicht. Dazu müssen wir bei der Modernisierung des Netzes systematischer vorgehen und Baumaßnahmen stärker bündeln. Daher steht künftig die Generalsanierung hoch belasteter Korridore imMittelpunkt. Im zweiten Halbjahr 2024 starten wir mit der Strecke Frankfurt–Mannheim (Riedbahn). Zudem arbeiten wir gemeinsammit dem Sektor an der Umsetzung des Masterplans Schienengüterverkehr. Der Anteil des Schienengüterverkehrs ist im Jahr 2021 deutlich angestiegen – auf knapp 20 Prozent. Ergänzend zu den bestehenden FörderVolker Wissing, Bundesminister für Digitales und Verkehr Wir müssen schneller werden: beim Planen, Genehmigen und Bauen Der Kulturwandel ist in der Verwaltung angekommen. © Jesco Denzel/Bundesregierung 10 FOKUS dbb magazin | Mai 2023

instrumenten für besseren Netzzugang, mehr Wettbewerbsfähigkeit und zur Modernisierung des Schienengüterverkehrs wollen wir auch den besonders kostenintensiven Einzelwagenverkehr mit einer Förderung der Betriebskosten entlasten. Die Förderrichtlinie wird derzeit erarbeitet. Der Digitalstrategie „Gemeinsam digitale Werte schöpfen“ mangelt es nicht an Projekten, Ankündigungen und Programmen. Was macht den neuen Fahrplan besser als vorangegangene Konzepte und wie zuversichtlich sind Sie, die festgelegten Ziele fristgerecht zu erreichen? Die Digitalstrategie der Bundesregierung führt nicht nur politische Schwerpunkte und Ziele zusammen, sondern legt auch Ergebnisse fest, die bis Ende der Legislaturperiode erreicht werden sollen. Daran werden wir uns 2025 messen lassen. Die Strategie priorisiert die Projekte, von deren Umsetzung die größte Hebelwirkung zu erwarten ist. Diese umfassen die Bereiche Netze und Daten, Normen und Standards sowie digitale Identitäten und moderne Register. Das Monitoring für die Umsetzung besteht aus drei Säulen: Das qualitative Monitoring stellt der Beirat Digitalstrategie Deutschland sicher, besetzt mit 19 Personen aus Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft. Seine Einschätzungen werden auf digitalstrategiedeutschland.de veröffentlicht. Das quantitative Monitoring erfolgt über eine Datenbank, die einen kontinuierlichen Überblick über die erzielten Fortschritte ermöglicht. In einer agilen Arbeitsgruppe findet ein regelmäßiger Austausch zwischen allen Ressorts statt. Die ergebnisorientierte Wirkungsmessung geschieht im Rahmen eines begleitenden und vom BMDV geförderten Forschungsvorhabens. Dadurch erreichen wir unsere Ziele und sorgen für den digitalen Aufbruch! Ihr Haus ist für viele Digitalthemen innerhalb der Bundesregierung federführend oder beratend zuständig. Deutschland liegt im europäischen Index für die digitale Wirtschaft und Gesellschaft (DESI) insgesamt nur auf Platz 13 von 27 EU-Mitgliedstaaten. Dabei sind flächendeckende Digitalisierung mit schneller Glasfaser und Highspeed-Mobilfunk unabdingbar, um Zukunftsthemen wie Klimaschutz, Energiewende und wirtschaftliche Transformation zu stemmen. Wie werden Sie die Daseinsvorsorge fit für die Zukunft machen? Im Bereich Konnektivität liegt Deutschland im letzten DESI-Bericht im EU-Vergleich auf dem vierten Platz. Diese gute Position beruht vor allem auf dem vergleichsweise gut ausgebauten Kupfernetz. Darauf können wir uns nicht ausruhen. Um unsere Netze zukunftsfest zu machen, ist eine flächendeckende Versorgung aller Haushalte und Unternehmen mit Glasfaser und mit dem neuesten Mobilfunkstandard erforderlich. Mit der Gigabitstrategie hat die Bundesregierung im vergangenen Jahr ein wichtiges Maßnahmenpaket auf den Weg gebracht. Vorrang hat der privatwirtschaftliche Ausbau der Netzinfrastruktur durch Unternehmen. Nur dort, wo dieser Ausbau nicht stattfindet, ist der Staat gefordert. Die Dynamik imMarkt ist groß und die Investitionsbereitschaft der Branche auch. Die Umsetzung der Gigabitstrategie läuft auf Hochtouren und befindet sich im Zeitplan. Lassen Sie mich aus den über hundert Einzelmaßnahmen zwei herausgreifen: Im Dezember 2022 ging das neue Gigabit-Grundbuch mit aktualisierten Daten zur Breitbandversorgung online. Es bündelt bestehende Geoinformationssysteme des Bundes und schafft damit Transparenz bei Bürgerinnen und Bürgern und den Unternehmen. Ein weiterer Meilenstein ist die Veröffentlichung der Potenzialanalyse zum privatwirtschaftlichen Ausbau. Im Ergebnis können 91 Prozent der Haushalte und Unternehmen privatwirtschaftlich mit Glasfaser erschlossen werden. Für kommunale Akteure ist das eine wichtige Information, um Bedarf und Umfang staatlicher Förderung einschätzen zu können. Denn oft geht es auch ohne den Einsatz von Steuergeldern, und das ist in der Regel auch schneller. Um die Zukunftsprojekte umzusetzen, braucht es nicht zuletzt schnell und effektiv arbeitende Verwaltungen. Warum kommen die Vereinheitlichung der IT-Strukturen von Ministerien und Behörden sowie digitaler Bürgerdienste nicht schneller voran? Die Digitalisierung der Verwaltung ist in Deutschland ein Gemeinschaftsprojekt, bei dem alle Ministerien gefordert sind und den Bundesländern eine erhebliche Bedeutung zukommt. Es ist entscheidend, dass hier viele mitmachen, um auf breiter Front etwas nach vorn zu bringen. Das fordern wir als Teamleader der Digitalisierung in der Regierung und bei den Ländern ein. Und ich merke: Der Kulturwandel ist in der Verwaltung angekommen. Bei der Umsetzung des Onlinezugangsgesetzes arbeiten Bund und Länder mittlerweile gut zusammen. Antragsverfahren werden als Standard nach dem „Einer-für-alle-Prinzip“ von einzelnen Ländern entwickelt und dann von vielen nachgenutzt. So wie bei der digitalen Fahrzeugzulassung, die zum 1. September flächendeckend in Deutschland möglich wird – für Bürger, aber auch für Unternehmen und Großkunden wie Autohäuser und Hersteller, die sich direkt an die Schnittstelle andocken können. Die Zulassungsdokumente kommen in Echtzeit und man kann direkt losfahren. Das sind 20 Millionen Zulassungsvorgänge pro Jahr, die nun komplett digital erfolgen können und viel Verwaltungsaufwand sparen. Für Schienen-, Straßen-, Wasserstraßen- und Offshore- Projekte können Genehmigungsanträge seit Februar 2023 unter „beteiligung.bund.de“ online gestellt werden. Noch in diesem Jahr sollen zudem Beteiligungsverfahren wie Einwendungen und Stellungnahmen online ermöglicht werden. Auch damit beschleunigen wir den Bau von Verkehrsinfrastruktur in unserem Land. Bei anderen Projekten wie dem digitalen Führerschein oder Anträgen für den Breitbandausbau werden wir schnell flächendeckende Angebote haben. Die IT-Konsolidierung des Bundes ist ein dringendes Projekt, denn wir brauchen in der Bundesverwaltung einheitliche technische Standards und kompatible IT-Lösungen. Ich bin zuversichtlich, dass wir unter der neuen Federführung von BMI und BMF zügig in die Umsetzung kommen. ■ Um unsere Netze zukunftsfest zu machen, ist eine flächendeckende Versorgung aller Haushalte und Unternehmen mit Glasfaser und mit dem neuesten Mobilfunkstandard erforderlich. FOKUS 11 dbb magazin | Mai 2023

REPORTAGE Der Fluss färbte sich blutrot. Eine Giftwelle, 70 Kilometer lang, schwappte Hunderte Kilometer stromab. Ihr folgten 150000 Aalkadaver. Bis hinunter zur niederländischen Grenze bei Emmerich starben die Insekten. In der Millionenstadt Köln durften Kinder nicht mehr am Rheinufer spielen. Vergiftungsgefahr. Und im rheinlandpfälzischen Flecken Unkel gipfelte die Katastrophe im lokalen Notstand. Tankwagen mussten die 4200 Einwohner versorgen. Kaffee wurde nicht nur hier mit Sprudelwasser gekocht. Notdurft war im nahe liegenden Wäldchen zu verrichten. Ein Feuer imWerk Schweizerhalle des Basler Chemiekonzerns Sandoz hatte in der Nacht zum 1. November 1986 eines der größten Umweltdesaster des 20. Jahrhunderts angerichtet. 20 Millionen Menschen, die entlang des Rheins bis zur Mündung in die Nordsee siedelten, bangten um ihr wichtigstes Lebensmittel: Trinkwasser, das hier oft aus dem Uferfiltrat gewonnen wurde. Rheinwasserwerke in Ludwigshafen, Wiesbaden, Mainz, Köln und Düsseldorf stellten auf Anweisung der Behörden tagelang die Versorgung ein und um. Am 4. November um 15 Uhr entschied auch der damalige Bonner Stadtwerkechef Reiner Schreiber: Das Wasserwerk Plittersdorf ist abzudrehen. Die betroffenen 75000 Haushalte, vor allem im Diplomatenvorort Bad Godesberg, mussten vorübergehend durch die Wahnbachtalsperre beliefert werden. Schreiber wollte jedem Risiko durch verunreinigte Uferfiltrate vorbeugen. Die Ursache des Basler Brandes ist bis heute Spekulation. Sicher ist: Ein Mix aus 30 Tonnen Pflanzenschutzmitteln und Löschwasser hat damals den Fluss für mehr als ein Jahr in ein totes Gewässer verwandelt. Das Ereignis kostete keine Menschenleben. Die 60 Meter in den Himmel schießenden Flammen bei Sandoz und die Welle der verendeten Aale signalisierten aber wie selten zuvor, dass die Grundversorgung vieler Bundesbürger mit Wasser eine anfällige Daseinsvorsorge ist. 37 Jahre danach: Ortstermin an der Talsperre, die 1986 die gefährdeten Bonner Stadtteile notversorgt hat. Von Siegburg führt der Weg über die B 56 und ein gewundenes Waldsträßchen nach Siegelsknippen und zu Dirk Radermacher. Seit Jahrzehnten ist das hier der Arbeitsplatz des Wasserbauingenieurs. Heute leitet er Bau und Betrieb imWahnbachtalsperrenverband (WTV), zu dem inzwischen der ganze Bonner Stadtbereich gehört. Der Mann ist unter der Regie von Verbandsgeschäftsführerin Ludgera Decking verantwortlich für die Versorgung von 800000 Menschen mit Trinkwasser. Nach wenigen Minuten Gespräch ahnen wir: Er kennt hier jedes Rohr. Die dicken blauen für das Oberflächenwasser aus der nahen Talsperre mit rund 230 Bächen und Rinnsalen als Lieferanten. Die dicken grünen für das Grundwasser aus dem Boden zweier ausWasserversorgung Mit Nachhaltigkeit gegen Wasserstress 5 500 Betriebe sorgen dafür, dass Deutschland mit reinem Trinkwasser versorgt wird. Doch nach den trockenen Sommern stellt sich die Zukunftsfrage: Reicht das werthaltige Nass noch aus? Verteilungskämpfe sind im Gang. Über Wasserpipelines wird geredet und über getrennte Leitungen fürs Trinken und für den Toilettengang. Betriebsleiter Dirk Radermacher: „Lückenloses System“ sorgt für sauberes Nass. Verbandsgeschäftsführerin Ludgera Decking: Ressorcen müssen „anders verteilt werden“. 12 FOKUS dbb magazin | Mai 2023

gewiesener Schutzgebiete – eine Methode, mit der 70 Prozent der Wasserversorgung der Bundesrepublik sichergestellt werden. Als dritte Quelle der Versorgung des Großraums um Bonn und Siegburg bis nach Rheinland-Pfalz dienen drei eigene Brunnen. Alles wird rund um die Uhr von der Betriebszentrale gesteuert. Pro Schicht führen zwei Experten Aufsicht. 20 Mitarbeiter sind derweil im Gelände unterwegs oder im weißen Spezialboot, mit dem sie die Wasserqualität prüfen. In Deutschland arbeiten fast 5500 Betriebe in der Wasseraufbereitung. Das Land ist für sein reines Trinkwasser bekannt. Das Wahnbachtaler gehört überdies zu der „weichen“ Sorte, es produziert wenig Kalkablagerungen und spart so privaten Haushalten häufiges Duscheputzen, manche Teefilter und Reparaturkosten. Damit das so bleibt und die werthaltige Flüssigkeit in die Wohnungen des Rheinlands südlich von Köln rauschen kann, muss sie „Multibarrieren“ passieren, die in den Flachbauten rundherum aufgebaut sind. „Wir wissen, dass wir nicht im Urwald leben“, sagt Radermacher. Viel Landwirtschaft, viele Betriebe und Siedlungen gebe es hier – mit viel Abwasser, was gesundheitliche Gefahren beim Trinkwasserkonsum bedeuten könnte. „Der WTV hat ein lückenloses System entwickelt, um die hohen Anforderungen der Trinkwasserverordnung in mehreren Stufen zu erfüllen.“ Filter für Filter wird das Nass sauberer. Beim zweistündigen Marsch durch die Röhrenwelt bei doch knappen Plusgraden stehen wir irgendwann vor der jüngsten Reinigungsoption. BeimWahnbachtalsperrenverband gibt es jetzt Ultraschalleinsatz als letzten Schritt der Rohwasserbehandlung. Das killt einen vielleicht verbliebenen Rest von schädlichen Organismen, ohne dass chemische Rückstände entstehen. Der Einsatz von Chlor und Kaliumpermanganat? Ist hier Vergangenheit. Auch die andere Vergangenheit, die der Sandoz-Katastrophe, ist lange her. Damals wurden Konsequenzen gezogen: mehr Sicherheit in den Chemiewerken entlang des Flusses. Eine Neujustierung des staatlichen Rheinwarnsystems. Heute stellen sich den Wasserförderern ganz neue Herausforderungen. Inflationäre Strompreise und damit ein heute schon 20-prozentiger Stromkostenanteil gehören dazu, verursacht meist durch die zahlreichen notwendigen Pumpen. Und langsam wird es Zeit für die Reparatur des ausgedehnten Rohrleitungsnetzes, das 70 bis 80 Jahre alt ist und so – wie überall in der Republik – irgendwann zur auch finanziellen Zeitbombe werden kann. Vor allem aber: Was ist mit der zunehmenden Trockenheit, den spürbaren Folgen des Klimawandels? Kann der Staat seine wichtigste Aufgabe, die Sicherstellung der Versorgung mit dem Lebensmittel Trinkwasser, überhaupt garantieren? Und wie? Nicht nur die WTV-Geschäftsführerin Ludgera Decking hat da längst eigene, drängende To-doListen im Kopf. Sparsame Deutsche Die Deutschen sind keine Verschwender von Trinkwasser. Das haben sie über drei Dekaden bewiesen. Ihr Pro-Kopf-Verbrauch lag in den 1990er-Jahren bei 145 Litern am Tag. Bis vor Kurzem waren es noch knapp über 120 Liter, hat der Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft BDEW ausgerechnet. Das meiste, 46 Liter, geht für Baden, Duschen und die Körperpflege drauf. 34 Liter spülen wir in der Toilette oder durchs Urinal runter. 15 Liter machen unsere Wäsche sauberer und acht Liter unser Geschirr und Besteck. Ganze fünf Liter täglich trinken wir oder nehmen es über das Essen zu uns. Wobei: Der Hausgebrauch stellt gerade ein Fünftel des gesamten Konsums dar. Der ganze „Wasserfußabdruck“ ist viel größer. Darin versteckt sich, umgerechnet auf Einwohner, zusätzlich die Abgabe an Industrie und Gewerbe, besonders stark an den Bergbau und die Energiebranche. Unterm Strich macht das zusammen 7200 Liter pro Kopf und Tag. „So viel wie 48 gefüllte Badewannen“, übersetzte einprägsam das ZDF. Dem privaten und industriellen Verbrauch steht die vorhandene Wasserressource durch die Natur gegenüber. Experten wie Radermacher sprechen vom „Dargebot“. Hier zeichnen sich die größten Sorgen ab. Selbst in Bonn, wo Westwinde bisher genug Regen heranpeitschen. 2015 stellte die WTV den ersten Anstieg des Verbrauchs seit Langem fest. Sie führte dies zunächst auf wachsende Zuwanderung zurück. Doch es folgten trockene Jahre, 2018 bis 2020, mit erneuten Verbrauchsanstiegen. Wenn es heiß ist draußen, trinken die Menschen mehr und sie sprengen öfter ihren RaKontrolle der „Multibarriere“-Bearbeitung des Trinkwassers: In der modernen Kommandozentrale wachen Experten im Schichtbetrieb über die Reinigungsstufen. FOKUS 13 dbb magazin | Mai 2023

sen. „Aktuell kommen wir noch gut hin“, heißt es an der Wahnbachtalsperre. Aber der Klimawandel und seine Wirkung? Ist im Spiel. „Wasserstress“ nennen sie das. Vor allem der Norden und Osten Deutschlands haben darunter zu leiden. 2022 waren die Umgebung des thüringischen Sömmerda und auch der Harz bundesweit die trockensten Landschaften. 600 Kilometer östlich der alten Bundeshauptstadt liegt die neue. Im eigentlich seenreichen Gebiet um Berlin ist der Grundwasserspiegel seit 2010 um einen Meter gesunken. „Unsere Landschaft ist knochentrocken“, warnt Brandenburgs Umweltminister Axel Vogel (Grüne). Nichts sei mehr im Lot. Brandenburger Obstbauern bangen um die Ernten ihrer Äpfel, die künstlich bewässert werden müssen. Bewältigt werden muss hier auch die Ansiedlung von Elon Musks E-Auto-Werk Tesla. Es hat den Durst einer Kleinstadt. Der Wasserverband WSE in der Region Strausberg-Elster tritt deswegen auf die Bremse und greift strikt durch. Die Ansiedlung von Gewerbebetrieben soll künftig von deren Wasserbedarf abhängig gemacht werden. Auch Familien werden Eingriffe des Staates spüren. Für Neukundenhaushalte, meist Zugezogene, wird der Verbrauch begrenzt. Sie dürfen nur noch 37 Kubikmeter pro Person und Jahr konsumieren. Der kanadische Wasserexperte Jay Familgietti hat weltweite Wasserverluste verglichen und eine Bilanz gezogen. „Satellitendaten zeigen, dass Deutschland in 20 Jahren Wasser im Umfang des Bodensees verloren hat. Das ist unvorstellbar viel.“ Das Rechercheportal „Correctiv“ sammelte Daten über den Grundwasserstand in Deutschland. „An knapp der Hälfte der ausgewerteten Orte ist das Grundwasser in den Dürrejahren zwischen 2018 und 2021 auf den tiefsten Stand seit 1990 gefallen“, stellte er fest. Konflikte sind vorprogrammiert Unterhalb des Radarschirms der großen Berliner Politik, die das brisante Thema eher niedrig fährt und im Entwurf der „nationalen Wasserstrategie“ durchgreifende Maßnahmen erst ab 2030 anvisiert, tobt deshalb längst ein Verteilungskampf. Großstädte und Metropolen gegen die Landstriche ringsum, die meist die Wasserlieferanten der Ballungsräume sind. Immer öfter bemühen beide Seiten Gerichte, wie im niedersächsischen Lüneburg, wo Verwaltungsrichter den Hamburger Senat ausbremsten, der mehr Trinkwasser aus der Nordheide verlangte. In Hessen geht die Bevölkerung auf die Straße: Die Mainmetropole Frankfurt, die nur ein Viertel ihres Wasserverbrauchs selbst fördert, schockte mit der Prognose einer Bedarfssteigerung zwischen 2018 und 2030 von 54 Millionen auf 62 Millionen Kubikmeter. Den gewaltigen Mehrbedarf will sie unter anderem im Vogelsbergkreis tanken. Dessen Bürger bauten an Ortsrändern prompt Protesttafeln auf: „Weniger Grundwasser nach Rhein-Main!“ Ein besonders explosiver Wasserkonflikt köchelt in Bayern. Es gehe umMengen, aber auch um Geld und für manche um die Existenz, wie es Michael Pöhnlein sagt, der Bürgermeister in Markt Nordhalben ist. Nicht nur, dass zunehmend Konzerne wie Aldi, Red Bull oder Krombacher bundesweit möglichst preiswerte Grundwasserreservoirs anzapfen möchten, ummehr Mineralwasser oder andere Getränke zu produzieren. In drei Bundesländern, neben Thüringen und Hessen eben auch in Bayern, kostet die Entnahme von Wasser aus dem Boden gar nichts. Erhebt eine große Ländermehrheit den „Wassercent“, wenn auch in sehr unterschiedlicher Höhe, gehen die wasserfördernden Kommunen im Süden leer aus. Das wollen dort 16 der betroffenen Gemeinden nicht mehr mitmachen. CSU-Ministerpräsident Markus Söder hat seit Ende Februar einen Brandbrief einer „Interessengemeinschaft wasserliefernder Kommunen in Bayern“ (IWK) auf dem Tisch. Initiiert hat sie der Bürgermeister Pöhnlein. Romantisch wie ein Fjord schlängelt sich die Talsperre Mauthaus durch den Frankenwald und Nordhalbens Gemeindegebiet. Der Stausee liefert das Rohwasser für 400000 Menschen. Pöhnlein ist über die fehlende Bezahlung für die Nutzung in seinem Gebiet aufgebracht: „Die Trinkwassersperre Mauthaus ist in Oberfranken der größte Lieferant. Jetzt sind sogar Lieferungen nach Thüringen im Gespräch. Die Stadt Erlangen konnte für 20000 Menschen einen neuen Stadtteil bauen, weil sie das Wasser von uns bekommen.“ So viel Ausbeutung, wie sie es wohl verstehen, wollen die Gemeinden nicht mehr dulden: „Wir wollen an dieser Wertschöpfungskette beteiligt werden.“ Gemeinden wie Markt Nordhalben, Dürrwangen, Farchant, Schwangau oder die Stadt Miesbach am Alpenrand, die die Landeshauptstadt München mitversorgen muss, betonen im Schreiben an den Regierungschef: „Wir stehen Dirk Radermacher in seinem Reich: Durch mächtige Rohrleitungen fließt getrennt Talsperren- und Grundwasser. Staumauer unter Kontrolle: Dieser Gang führt in die tiefen Betriebsteile der Wahnbachtalsperre. 14 FOKUS dbb magazin | Mai 2023

zum Trinkwasserschutz. Doch wir fühlen uns derzeit wie ein Zulieferer, der sein hochwertiges Produkt amWerkstor eines Konzerns abliefert, aber keinen gerechten Lohn für seine Leistung erhält.“ Das ist kein Poker umMehreinnahmen. Der parteilose Pöhnlein zählt gegenüber dem dbb magazin die katastrophalen Folgen der aus seiner Sicht misslichen Lage für seine eigene Gemeinde auf: Auf Wasser zu sitzen, kann auch nötige Entwicklungen blockieren. Die Naturschutzauflagen im Fördergebiet seien hoch, zuletzt seien bei ihm sämtliche Industriebetriebe abgewandert oder insolvent gegangen. Neue Baugebiete dürften nicht ausgewiesen werden. „Wir haben praktisch kaum Gewerbesteuereinnahmen. Das Handwerk ist notleidend. Wir sind von Staatshilfen abhängig, wollen aber endlich auf eigenen Beinen stehen.“ Neue Konzepte müssen her Bayerns Staatsregierung will über die Einführung eines Wassercents nach der bevorstehenden Landtagswahl beschließen. Aber die Koalition aus CSU und Freien Wählern ist uneins. Denn Bayern zählt zu den für die Verbraucher überaus preiswerten Regionen. 3,47 Euro je 1000 Liter zahlt man hier im Schnitt. Bundesweit sind das 4,15 Euro. Das weiß auch Michael Pöhnlein. Bekämen seine Kommune und die anderen endlich Geld für ihr Wasser, „muss das an den Verbraucher weitergegeben werden“, räumt er ein. Künftige Wasserpolitik wird ihren Preis haben. Der Streit kann heftiger werden. In der Schublade von Landespolitikern liegen noch andere Lösungspakete, um eine drohende Trockenzeit zu überstehen. Fernwasserversorgung heißt die eine Überschrift, auch „Wasserspange“ genannt. Quer durch Deutschland könnten ein Meter breite Pipelines verlegt werden. Regenreichere Regionen liefern dann den austrocknenden Gebieten zu. Die Süddeutsche Zeitung hat dafür jedoch „Kosten locker imMilliardenbereich“ ausgemacht, und der Schwarzwälder Bote fragte in einer Schlagzeile: „Trinken die Bayern bald unseren Bodensee leer?“ Offen ist, wie über solche Ansätze verhandelt werden kann: Zwischen Regionen? Zwischen Ländern? Oder muss der Bundestag entscheiden? Und: Wer soll das bezahlen? Abseits von Wassercentstreit und Spangenoptionen denken Kommunalpolitiker Michael Pöhnlein in Bayern und WTB-Geschäftsführerin Ludgera Decking in NRW bei der Zukunftssicherung für sauberes, ausreichend verfügbares Trinkwasser auch an einen sehr einleuchtenden dritten Ausweg. Kommt er, wird er unseren Alltag verändern. Danach müssten die Ressourcen technisch aufgespalten werden. „Man sollte gutes Trinkwasser nur noch dort einsetzen, wo man diese hohe Qualität braucht“, sagt Pöhnlein. Zum Trinken eben. Nicht zum Klospülen. „Die Wasserresourcen müssen anders verteilt werden“, findet Decking. Für Toiletten „können wir Regenwasser oder Brauchwasser nutzen“. Dann berichtet sie, wie das funktioniert: Nahe der Wahnbachtalsperre bei Bonn testet die Stadtreinigung von Troisdorf, wie Wasser nachhaltiger verteilt werden kann. Sie hat ein Sozialgebäude errichtet, in demMüllwerker duschen dürfen und vor der Türe ihre Lkw gereinigt werden. Das genutzte Duschwasser dient dem Säubern der Müllautos. Es ist eine Mülltrennung der nächsten Generation. Text: Dietmar Seher Fotos: Uta Wagner Über 300 Bundesbürger wurden vom Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit gebeten, ihre Meinungen zur Sicherung einer guten Wasserversorgung in der Zukunft zu sagen. Manche Vorschläge (wie etwa den „Wasser-Soli“) diskutierten dafür gebildete Runden durchaus kontrovers. In vielen Punkten war man sich jedoch einig. Hier einige Forderungen aus dem Katalog. > Über nachhaltige Wassernutzung soll schon in Schulen und Bildungseinrichtungen diskutiert werden. > In Aufklärungskampagnen sollen Bürger über alle Medienkanäle „Best Practice“ erfahren, wie nachhaltige Wassernutzung abläuft. > Der Staat muss die Wassernutzung stärker regulieren. Die Forderung: Die Bundesregierung soll Einsparziele für den Verbrauch vorlegen, ähnlich wie bei CO2. > Der Wasserverbrauch über dem Grundbedarf muss mindestens die anfallenden Kosten sowie die Regeneration des Wassers decken. > Es sollte höhere Standards für Kläranlagen geben. > Der Anteil der versiegelten (bebauten) Landschaft muss zurückgenommen werden, um Grundwasserneubildung zu unterstützen. > Grundwasserentnahme sollte notfalls regional begrenzt werden, insbesondere in Trockenphasen. Auch eine „Priorisierung“ für verschiedene Nutzerinnen und Nutzer könnte helfen. > Mehr Brauchwasser soll in Landwirtschaft, Gartenbewässerung und Industrie genutzt werden. > Mehr Digitalisierung, um den Wasserverbrauch bei der Herstellung von Papier zu reduzieren. > In der Landwirtschaft ist für weniger Gülleeintrag zu sorgen. Was die Bürger übers Wassersparen denken Klinisch rein: Riesige Wasserbecken dominieren das Umfeld der Zentrale des Wahnbachtalsperren-Verbands. FOKUS 15 dbb magazin | Mai 2023

DASEINSVORSORGE Klimaschutz Aktionspläne gegen Hitzefolgen dringend gesucht Nicht erst die zurückliegenden Sommer haben gezeigt, dass Perioden extremer Hitze und Dürre in Deutschland immer häufiger werden und immer länger andauern. Hitze und ihre Folgen werden für Mensch, Tier und Pflanze zu einer ernsthaften Bedrohung. Höchste Zeit, aktiv zu werden. Aber wie? Der Hitzesommer 2003 forderte europaweit 70000 Todesopfer – eine Zahl, die damals noch niemand so recht zur Kenntnis nahm. In den drei Sommern 2018 bis 2020 waren es allein in Deutschland 19000. Schon die Juli-Hitze des Jahres 2022 kostete hierzulande mindestens 3000Menschen das Leben. Weltweit geht dieWeltgesundheitsorganisation für die kommenden Jahre vonMillionen Hitzetoten aus – Tendenz steigend. Besonders in den Städten werden Tagestemperaturen von über 30 Grad im Schatten für vulnerable Gruppen –Menschen über 65 Jahren, Schwangere, Kinder, Vorerkrankte, Obdachlose, Menschen, die im Freien schwerer Arbeit nachgehen – zum Problem. Das gilt erst recht, wenn solche Phasen länger anhalten. Bodenversiegelung und dichte Bebauung beispielsweise sorgen dafür, dass die Hitze auch nachts nicht entweichen kann. „Tropische Nächte“ von 20 Grad undmehr setzen dann nicht nur vulnerablen Gruppen zu. Was ist erforderlich? Zunächst einmal: Problembewusstsein. Sommer wie die jüngsten sind keine Ausnahmeerscheinung mehr. Immer mehr Menschen werden in naher Zukunft durch Hitze und ihre Folgen gesundheitliche Schäden davontragen – bis hin zum Tod. Dehydrierung, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Zunahme von Allergien, etwa durch aggressivere Pollen und verlängerte Vegetationsphasen, sowie Infektionen durch invasive Mückenarten und Vermehrung von Bakterien in salzarmen Gewässern sind nur einige der relevanten Konsequenzen. Das erfordert akut, mittelfristig und auf lange Sicht Eingriffe, Reaktionen und Anpassungen auf kommunaler Ebene – dort, wo die Hitze jeweils zuschlägt, dort, wo die Menschen leben und arbeiten. Städte sind anders betroffen als ländliche Regionen, zum Notfall kann extreme Hitze aber überall werden. Medikamente beispielsweise wirken bei Hitze anders als bei Normaltemperaturen. Das müssen Hausärzte und -ärztinnen wissen, um ihre Patienten entsprechend zu instruieren. Fällt die Temperatur nach einer Hitzewelle, kommt es vermehrt zu Schlaganfällen, wenn der Körper versucht, den Wärmeaustausch den veränderten Bedingungen anzugleichen. Darauf müssen Kliniken und Rettungsdienste vorbereitet sein. Doch während für natürliche Extremereignisse wie Wald- und Flächenbrände, Erdbeben, Überschwemmungen oder Stürme Notfallpläne existieren, herrscht mit Blick auf extreme Hitzeereignisse in dieser Hinsicht vielerorts noch Wüste. Dabei ist die Liste der Aufgaben lang, die der Beteiligten ist es auch. Ein koordiniertes und geübtes Vorgehen ist beziehungsweise wäre daher essenziell. Akut müssen vulnerable Gruppen besonders geschützt werden, etwa durch Warnungen im Vorfeld, Vorbereitungen in Pflege, Gesundheitswesen und Katastrophenschutz, durch Handlungsanweisungen für die Bevölkerung, Zurverfügungstellung kühlender Räumlichkeiten und Verschattung sowie Sicherstellung von Energie- und Wasserversorgung. Mittel- und langfristig geht es darum, vor allem die Städte hitzeresilient zu machen: Foto: alfotokunst/Colourbox.de 16 FOKUS dbb magazin | Mai 2023

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