dbb magazin 5/2023

und es sei nicht zuletzt wegen des europäischen Friedensprojektes zu einem „Raum der Chancen“ geworden. Auch die Einwanderung selbst sei zuallererst eine Chance für den Kontinent, wobei aber die Probleme, die sich insbesondere für Städte und Gemeinden ergäben, nicht verschwiegen werden dürften. Eine gemeinsame EU-Strategie dafür sei: „Für eine europäisches Herausforderung kann es nur eine europäische und nicht einzelne nationale Lösungen geben.“ EU-Kommissar Nicolas Schmit, verantwortlich für Beschäftigung, Soziales und Integration, skizzierte in seinem Impulsvortrag das besorgniserregende Lagebild des EU-weiten Fachkräftemangels: In ganz Europa suchten Unternehmen und Behörden „händeringend quer durch alle Branchen und Ausbildungsniveaus“ nach Fachkräften. Noch nie seien so viele Stellen im vereinten europäischen Wirtschaftsraum unbesetzt gewesen, und die demografische Entwicklung verschärfe die Problematik zunehmend. „Bis 2070 wird der Anteil der Erwerbstätigen an der Gesamtbevölkerung in der EU von 59 Prozent auf 51 Prozent sinken – das heißt, dass auf einen Erwerbstätigen ein Nichterwerbstätiger kommt.“ Diese Entwicklung stelle „ein großes Problem für die wirtschaftlichen Wachstumsperspektiven und den Wohlstand in den Ländern der Europäischen Union dar“, mahnte Schmit. „Daher ist es nur folgerichtig, dass wir dieses gemeinsame Problem auch gemeinsam angehen.“ Der EU-Kommissar forderte ein Maßnahmenbündel, dass aus seiner Sicht zügig und EU-weit umgesetzt werden müsse, um dem flächendeckenden Fachkräfte- und Nachwuchsmangel nachhaltig zu begegnen. Zum einen müsse die Bevölkerung „fit für den Arbeitsmarkt“ gemacht werden: Insbesondere den immerhin 13 Millionen Arbeitslosen in den Mitgliedstaaten der EU müsse durch entsprechende Aus-, Fort- und Weiterbildung Zugang zum Arbeitsmarkt verschafft werden. Es sei im Jahr 2023, das die EU-Kommission zum „Jahr der Kompetenzen“ ausgerufen hat, erklärtes Ziel, dass bis 2030 mindestens 60 Prozent der Erwerbstätigen mindestens einmal im Jahr eine Fortbildung machen könnten, so Schmit. Des Weiteren brauche es Mittel und Wege, um bislang unterrepräsentierte Menschen, insbesondere Frauen und Menschen mit Behinderungen, verstärkt in Arbeit zu bringen. Auch die rund acht Millionen jungen Menschen – in einigen EU-Staaten sind es fast 20 Prozent der jungen Bevölkerung –, die vom Arbeitsmarkt abgekoppelt sind, bedürften gezielter Maßnahmen, die ihnen Zugang zum Berufsleben ermöglichen. „Wir brauchen sie!“, unterstrich Schmit, „nicht nur für den Arbeitsmarkt, sondern auch für den sozialen Zusammenhalt.“ Als weiteren Baustein im Kampf gegen den Fachkräftemangel nannte der EU-Kommissar die Verbesserung der Arbeitsbedingungen in gesundheitlicher und materieller Hinsicht durch eine entsprechende Tarifpolitik. Und schließlich, so Schmit, sei eine geordnete Migrationspolitik ein wesentlicher Schlüssel zur Lösung des Problems. „Das ist ein Thema, an dem wir schlicht nicht vorbeikommen werden, deswegen sollten wir hier nun gemeinsam solidarisch und zukunftsgerecht handeln“, forderte er. Die EU-Kommission erarbeite hierzu derzeit verschiedene Konzepte, geleitet von dem Grundsatz, dass „Migration für alle, auch die beteiligten Drittstaaten, funktioniert“, erläuterte Schmit und nannte als Beispiele für Projekte mit gezielter Anwerbung und Ausbildung bereits vor Ort in den Drittstaaten einen „EU-Talentpool“ und „EU-Talent-Partnerships“. Weiter betonte Schmit die Wichtigkeit einer ganzheitlichen aktiven Integrationspolitik: „Da kommen Menschen, die Europa gemeinsammit uns voranbringen und unsere Werte mittragen wollen.“ Dabei bräuchten sie Unterstützung in Gestalt von Sprachkursen, Begleitungs- und Bildungsangeboten, Kinderbetreuung und Wohnraumvermittlung. „Natürlich gibt es keine Arbeitsmigration zum Nulltarif, das muss allen klar sein“, räumte Schmit ein. Doch wenn man die Dinge „einfach so laufen lässt“, führe dies genau zu jenen Parallelgesellschaften, die man eben nicht haben wolle und die es Populisten bislang immer einfach machten, gegen Migrantinnen und Migranten zu hetzen. „Europa muss seine Grenzen schützen. Aber auch seine Werte und seinen Wohlstand bewahren. Dazu gehört, dass wir denen Schutz gewähren, die Schutz brauchen, und eine geordnete Arbeitsmigration praktizieren, die verhindert, dass ganze Branchen wegen fehlenden Personals zusammenbrechen.“ EU-Kommissar Nicolas Schmit war digital zugeschaltet. Anton Hofreiter 30 FOKUS dbb magazin | Mai 2023

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