dbb magazin 5/2023

Anton Hofreiter (Bündnis 90/Die Grünen), Mitglied des Bundestages und dort Vorsitzender des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union, betonte in seinem Impulsvortrag, dass es gegen den Fachkräftemangel auch Zuwanderung brauche. Gleichzeitig kritisierte er die in seinen Augen unsachliche Diskussion über illegale Migration einerseits und Fachkräftezuzug andererseits: „Wir führen eine Debatte, die letztendlich jegliche Form von Willkommenskultur in vielen europäischen Ländern vergiftet, denn am Ende kriegen sie das nicht getrennt.“ In der Konsequenz führe das allzu oft zu einem gesellschaftlichen Klima, in dem sich die dringend benötigten Fachkräfte entschieden, stattdessen beispielsweise in Teile der USA oder nach Kanada zu gehen. Dass die Debatten über Zuwanderung oft populistisch geführt werde, sei damit also auch aus der ökonomischen Sicht der EU-Staaten falsch. Darüber hinaus sei der Umgang mit legaler und illegaler Migration nicht nur eine Frage der Menschenrechte, sondern auch von geostrategischer Bedeutung. So erwarteten die EU-Staaten beispielsweise mit Blick auf den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine, dass der globale Süden sich vorbehaltlos auf „unsere Seite stellt. Das wird nur etwas komplizierter, wenn wir ihre Staatsbürger imMittelmeer ertrinken lassen“, kritisierte Hofreiter. Menschenrecht und gesellschaftlicher Zusammenhalt im Blick Ein wesentlicher Faktor für einen besseren Umgang mit Migration sei etwa, dass Asylverfahren rechtsstaatlich, schnell und fair durchgeführt würden. Dafür brauche es aber mehr Ressourcen: „Wenn Menschen erst mal drei, vier Jahre im Asylverfahren feststecken und dann die Ablehnung bekommen – so kann man mit Menschen nicht umgehen“, findet Hofreiter. Wenn es saubere Verfahren gebe, müsse man in der Konsequenz allerdings auch bereit sein, im Fall der Fälle Abschiebungen durchzuführen. Das sei aber nicht so leicht, wie es scheint. „Viele Länder etwa in Afrika fragen uns: Warum sollten wir die Menschen zurücknehmen?“, so Hofreiter. Das Geld, das diese durch illegale oder legale Arbeit in der EU erwirtschafteten, sei für viele Länder schließlich ein echter Wirtschaftsfaktor. „Und deswegen muss auf Augenhöhe verhandelt werden. Mit ausreichend Arbeitsmigration, ausreichend Visa für Universitäten und Ausbildungsplätze.“ Linn Selle, Präsidentin der Europäischen Bewegung Deutschland (EBD) und hauptberuflich Leiterin des Referats Europa in der Vertretung Nordrhein-Westfalens beim Bund, identifizierte in ihrem Vortrag die Themen Klimawandel, Asyl und Migration sowohl für die zurückliegende Europawahl in 2019 als auch für die kommende in 2024 als beherrschend. Beide Themenfelder seien auch eng miteinander verknüpft, etwa bei der Herausforderung des ökologischen Wirtschaftsumbaus: „Die Batteriebranche braucht europaweit etwa 800000 neue Fachkräfte.“ Auch dafür sei Migration erforderlich, damit beispielsweise Energie- und Verkehrswende gelingen könnten. Damit Zuwanderung in die Europäische Union erfolgreich sein könne, brauche es dringend mehr Koordination zwischen den Mitgliedstaaten. „Gerade das Asylsystem braucht grundlegende Reformen, es kann nicht getrennt von der sonstigen Zuwanderung betrachtet werden“, erklärte die EBD-Präsidentin. Auch in diesem Feld müsse die EU am Ende ein „einheitlicher Markt“ werden. Mit Blick auf die mitunter populistisch geführten Debatten plädierte auch Selle dafür, dass die Politikfelder mit einemmöglichst breiten gesellschaftlichen Konsens zu befrieden seien, um sie konstruktiv bearbeiten zu können. „Breakout Sessions“ Um den vielschichtigen Themenkomplexen gerecht zu werden, diskutierten Fachleute und Gäste nach den Impulsvorträgen einzelne Gesichtspunkte in „Breakout Sessions“. Mit Blick auf die Attraktivität des öffentlichen Dienstes für Menschen mit Migrationshintergrund herrschte unter den Teilnehmenden der zweiten Session zum Thema Fachkräftemangel schnell Konsens: Er ist für alle beinahe gleich unattraktiv – ob mit Migrationsgeschichte oder ohne – und muss dringend moderner werden. „Modern, weltoffen, divers: Darauf kommt es den Menschen heutzutage an“, so die stellvertretende dbb Bundesvorsitzende Milanie Kreutz. Sie betonte, dass für Zugewanderte der erste Kontakt in Deutschland oft die Ämter seien. Hier müsse man bereits dafür sorgen, dass dieser Kontakt ein positiver sei und kein „Horror vor Behörden“ entstehe. Auch im Hinblick auf die demokratiestärkende Essenz des öffentlichen Dienstes sei dies von Belang: „Wir sind eine Brücke zwischen Bürgerinnen und Bürgern und der Politik – wir sind diejenigen, die umsetzen, was die Politik entscheidet. Wir müssen nahbar und verständlich sein und dürfen die Menschen nicht verschrecken.“ dbb Vize Friedhelm Schäfer sieht die Probleme jedenfalls nicht in der mangelnden Bereitschaft von Migrantinnen und Migranten, im öffentlichen Dienst zu arbeiten, sondern in den bürokratischen Vorgängen, die viele davon abhalten: „Im Asylrecht und bei der Anerkennung von Abschlüssen gibt es immer noch große Hürden. Hier müssen aber europaweite Lösungen gefunden werden – und das funktioniert nur dann, wenn der Wille von allen da ist. Momentan scheint das jedoch nur bedingt der Fall zu sein”. Mehr: t1p.de/EU_Abend ada, nak, ef, ows, br Linn Selle FOKUS 31 dbb magazin | Mai 2023

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