dbb magazin Staatsfinanzen | Krisenfest trotz Rekordschulden? Interview | Dr. Marcus Optendrenk, Minister der Finanzen des Landes Nordrhein-Westfalen Bundesrechnungshof | Neuverschuldung gefährdet Handlungsfähigkeit 6 | 2023 Zeitschrift für den öffentlichen Dienst
STARTER Zukunftsinvestionen sind unerlässlich Die Dauerkrisen der vergangenen Jahre haben zu Rekordschulden für die Bundesrepublik geführt. Der Bundesrechnungshof beziffert die neuen Kreditermächtigungen der Jahre von 2020 bis 2023 auf rund 850 Milliarden Euro. Die Beschlüsse hätten den Schuldenberg des Bundes um rund 60 Prozent auf 2,1 Billionen Euro ansteigen lassen. In der Folge müssen die öffentlichen Haushalte künftig höhere Zinszahlungen leisten und werden weniger Geld für andere Ausgaben zur Verfügung haben. Weil nicht nur Zinsen gezahlt, sondern auch Schulden getilgt werden müssen, werden die Auswirkungen auf die Haushalte sehr langfristig sein. Da ein erheblicher Teil der Krisenkredite in Sondervermögen liege, bilde der Bundeshaushalt die wahre Lage der Bundesfinanzen nicht mehr ab, so der Bundesrechnungshof. Die Rekordschuldenaufnahme erfordere letztlich eine Überprüfung und Neuordnung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen. Trotz Rekordschulden muss der Staat in die Zukunft investieren, denn der Erhalt und die Verbesserung der Infrastruktur, Klimaschutz, Krisenresilienz und Digitalisierung sind unabdingbare Grundvoraussetzungen für eine erfolgreiche Volkswirtschaft, für Wettbewerbsfähigkeit und eine nachhaltige Schuldentilgung. Nach Auffassung des dbb schließt das ein, den öffentlichen Dienst personell und mit Sachmitteln so auszustatten, dass er seiner wichtigen Rolle als Dienstleister für Wirtschaft und Gesellschaft gerecht werden kann. Bleiben diese wichtigen Zukunftsinvestitionen aus, wird dies das Land und die Menschen weitaus teurer zu stehen kommen. br 14 8 TOPTHEMA Öffentliche Finanzen 28 AKTUELL NACHRICHTEN Modernisierung des Staates: Beschäftigte einbinden 4 MIGRATION Flüchtlingsgipfel: Der Staat muss handlungsfähig bleiben 5 DIALOG Onlinezugangsgesetz: Auf der Suche nach der digitalen Verwaltung 8 STUDIE Verwaltungsdigitalisierung: Deutschland fällt weiter zurück 12 ONLINE EU Data Act: Mehr Daten für den Staat 13 FOKUS INTERVIEW Dr. Marcus Optendrenk: Wer bestellt, muss auch bezahlen 14 STAATSFINANZEN Neuverschuldung gefährdet Handlungsfähigkeit 16 164. Steuerschätzung: 2025 wird die Billionen-Marke fallen 18 MEINUNG Kommunale Finanzen: Aus dem Gleichgewicht 20 PRIVATE FINANZEN Vermögen im Aufwind 22 EUROPA Kommunen brauchen mehr Unterstützung 24 Nachgefragt bei Anton Hofreiter 26 INTERN FRAUEN Sexualisierte Gewalt am Arbeitsplatz: Null Toleranz bei Grenzüberschreitungen 28 JUGEND Nachwuchsgewinnung: Ein „Glow-up“ für den Staatsdienst 33 SENIOREN Rente: Steigerungen bleiben hinter Inflation zurück 34 SERVICE Impressum 41 KOMPAKT Gewerkschaften 42 © Possessed Photography/Unsplash.com 16 AKTUELL 3 dbb magazin | Juni 2023
NACHRICHTEN Modernisierung des Staates Beschäftigte einbinden Deutschland hat bei vielen Reformen kein Erkenntnis-, sondern ein Umsetzungsproblem. Wer strukturelle Änderungen will, muss auf die Expertise der Beschäftigten des Staates setzen. Das hat der dbb Bundesvorsitzende Ulrich Silberbach bei der Fachtagung „Staatsreform“ der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) am 8. Mai 2023 in Berlin deutlich gemacht. „Die Digitalisierung der Verwaltung steht exemplarisch für eines der zentralen Probleme bei uns: unklare Zuständigkeiten in der Politik, unzureichende Ausstattung in der Verwaltung, unzufriedene Bürgerinnen und Bürger im Land“, so der dbb Chef. „Wer das aufbrechen will, sollte nicht wie so oft teure externe Beratung einkaufen, sondern auf die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes hören. Sie sind die wahren Expertinnen und Experten und können und wollen pragmatische Lösungen für die drängenden Probleme des Landes finden. Ohne den gemeinsamen politischen Willen von Bund, Ländern und Kommunen sind ihnen aber die Hände gebunden.“ Gerade bei den einschneidenden Krisen der vergangenen Jahre habe sich gezeigt, dass Deutschland in vielen Bereichen eine „Schönwetter-Daseinsvorsorge“ habe, erklärte Silberbach. „Man denke nur an die mangelhafte Digitalisierung in den Gesundheitsämtern. Die ist uns während der Coronapandemie schmerzhaft auf die Füße gekracht – und einmal mehr waren es die Kolleginnen und Kollegen, die politische Versäumnisse durch enormen persönlichen Einsatz, so gut es eben ging, ausgebügelt haben.“ Aktuell drohe beim Fachkräftemangel die nächste Katastrophe, denn bereits heute fehlten dem Staat über 360000 Beschäftigte, während in den kommenden zehn Jahren rund 1,3 Millionen in den Ruhestand gingen. „Schon deshalb ist es höchste Zeit, endlich die von uns seit Jahren geforderte Aufgabenkritik vorzunehmen. Wer den Bürgerinnen und Bürgern ständig neue Versprechungen macht, ohne sich um die konkrete Umsetzung zu kümmern, schwächt langfristig das Vertrauen in den Staat und schlussendlich in die Demokratie“, bekräftigte Silberbach. ■ Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung Qualität muss gesichert werden Ab dem Jahr 2026 gilt der Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung im Grundschulalter. Ein breites Bündnis aus Verbänden und Gewerkschaften fordert Maßnahmen zur Qualitätssicherung. Der Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung birgt große Potenziale für die Bildungsgerechtigkeit, Chancengleichheit, Geschlechtergleichstellung und die Steigerung der Erwerbstätigkeit insbesondere für Frauen“, sagte der dbb Bundesvorsitzende Ulrich Silberbach am 15. Mai 2023. „Doch – gerade mit Blick auf die Kommunen – sehen wir auch die Gefahren: Das Problem des eklatanten Fachkräftemangels in Bildungs- und Erziehungsberufen ist weiterhin ungelöst, und es fehlen immer noch Konzepte für die bestehenden oder zu bauenden Räumlichkeiten. Eine qualitativ hochwertige Umsetzung des Ganztagsangebots rückt so in weite Ferne. Die Versäumnisse der Politik müssen damit einmal mehr von Beschäftigten, Eltern und vor allem den Kindern ausgebadet werden.“ Neben Maßnahmen zur Qualitätssicherung fordert das Bündnis aus mehr als 30 Gewerkschaften und Verbänden bei der Umsetzung des Rechtsanspruchs, die vorhandenen Fachleute kontinuierlich einzubeziehen. Dazu heißt es im Aufruf des Bündnisses, zu dessen Erstunterzeichnern der dbb gehört: „Wir fordern von Bund, Ländern und Kommunen den kontinuierlichen Dialog mit der Praxis und die Einbeziehung der Expertise der Fach-, Wohlfahrts- und Interessenverbände bei der Entwicklung eines wirkungsvollen Qualitätsrahmens.“ Für dbb Chef Ulrich Silberbach ist der von einem so breiten Bündnis zivilgesellschaftlicher Organisationen getragene Aufruf ein „klarer Handlungsauftrag an die Politik, damit die Umsetzung des Rechtsanspruchs sowohl den pädagogischen Ansprüchen gerecht wird als auch einen echten Beitrag zu sozialer und regionaler Chancengerechtigkeit leisten kann.“ ■ Model Foto: Pressmaster/Colourbox.de Model Foto: Colourbox.de 4 AKTUELL dbb magazin | Juni 2023
MIGRATION Flüchtlingsgipfel Der Staat muss handlungsfähig bleiben Bei der Aufnahme und Versorgung von Geflüchteten müsse die Leistungsfähigkeit des öffentlichen Dienstes berücksichtigt werden, mahnt dbb Chef Ulrich Silberbach. Auch Vertreter von Städten und Landkreisen kritisieren die Ergebnisse des Flüchtlingsgipfels. Viele Kommunen kümmern sich aufopferungsvoll um geflüchtete Menschen, aber Tatsache ist auch: Die Ressourcen vor Ort sind endlich und die Beschäftigten gehen längst auf dem Zahnfleisch“, sagte der dbb Bundesvorsitzende beim Gewerkschaftstag des dbb Hessen am 10. Mai 2023 in Darmstadt. „Wir müssen darauf achten, dass der Staat auf allen Ebenen handlungsfähig bleibt. Sonst kann am langen Ende niemandemmehr geholfen werden. Leider ist hier ein Muster zu erkennen: Politik beschließt immer neue Aufgaben für den öffentlichen Dienst, ohne für genügend Geld und Personal zur Umsetzung zu sorgen. Bund, Länder und Kommunen schieben sich oft genug gegenseitig die Verantwortung zu – und unsere Kolleginnen und Kollegen gucken in die Röhre. Gerade in den Städten und Gemeinden ist das fatal, denn hier erleben die Bürgerinnen und Bürger den Staat und seine Verwaltung unmittelbar – und laut unseren Umfragen hält nur noch ein Drittel der Bevölkerung unsere Institutionen für handlungsfähig. Das ist zutiefst besorgniserregend.“ Silberbach forderte in diesem Zusammenhang außerdem, den öffentlichen Dienst grundlegend zu modernisieren: „Das fängt bei einer gründlichen Aufgabenkritik an und führt über eine neue Führungskultur bis zu einer echten und umfassenden Digitalisierung. Es kann doch nicht sein, dass Bund und Länder im Vorfeld des Flüchtlingsgipfels darüber streiten, ob und wann endlich eine vollständige Digitalisierung der Ausländerbehörden erfolgt. Da fragen sich die Menschen im Land zu Recht, warum hier seit den dramatischen Fluchtbewegungen im Jahr 2015 so wenig passiert ist.“ Ähnlich äußerte sich der Deutsche Städtetag. Mit Bezug auf die Ergebnisse des Bund-Länder-Gipfels kritisierte der Präsident des Deutschen Städtetages, Markus Lewe, am 11. Mai 2023 in der „Rheinischen Post“, dass Bund und Länder die vergangenen Wochen nicht genutzt hätten, um gemeinsam eine Lösung zu finden. Der Handlungsbedarf bei der Aufnahme und Integration von Geflüchteten sei seit Monaten offensichtlich, „die Städte werden jetzt trotzdem weiter auf der Wartebank sitzen gelassen, obwohl der Druck vor Ort Tag für Tag steigt. Das sorgt für viel Frust.“ Lewe warnte vor drohender Überforderung der Städte und Gemeinden, die immer mehr Aufgaben bei der Unterbringung und Integration geflüchteter Menschen wahrnähmen. Gleichzeitig stiegen die Flüchtlingszahlen. „Das ewige Schwarze-Peter-Spiel zwischen Bund und Ländern muss ein Ende haben. Integration ist kein Planspiel um Zahlen, sondern fordert uns in den Städten ganz konkret.“ Statt unsteter finanzieller Zuwendungen bräuchten die Städte Planungssicherheit, die nur aus dauerhaften Regelungen zur Finanzierung der Unterbringung sowie zur Versorgung und Integration von Geflüchteten resultieren könne. Ebenfalls wenig begeistert von den Ergebnissen des Gipfels ist der Deutsche Landkreistag (DLT). DLT-Präsident Landrat Reinhard Sager sagte: „Da hätte mehr rauskommen müssen. Eine Vertagung drängender Fragen von Begrenzung der Flüchtlingszahlen bis zum Finanzierungssystem hilft den Landrätinnen und Landräten nicht, für die die Situation Tag für Tag schwieriger wird. Wir haben keine Zeit und müssen schnell zu Verbesserungen kommen.“ Zwar sei es zu begrüßen, dass es zu Verfahrensverbesserungen und schnellerer Digitalisierung in den Ausländerbehörden kommen soll und Bund und Länder ihre Anstrengungen zur Rückführung von Menschen ohne Aufenthaltsrecht intensivieren wollen. „Allerdings fehlen klare Aussagen zur sofortigen Beendigung freiwilliger Aufnahmeprogramme, zur Erweiterung der Liste sicherer Herkunftsstaaten oder zum Vorschlag der Bundesinnenministerin, den Schutzstatus von Geflüchteten bereits an den EU-Außengrenzen zu prüfen“, so Sager. „Wenn die Koalition in Berlin in diesen wichtigen Fragen uneins ist, kann das nichts werden.“ Mindestens hätten Bund und Länder die Finanzfragen auf Dauer lösen müssen. Stattdessen werde weiter geprüft, um dann im November zu beschließen. Das sei zu langsam und lasse sich den unter der Last der aktuellen Situation ächzenden Landkreisen nicht vermitteln. ■ © Krzysztof Hepner/Unsplash.com AKTUELL 5 dbb magazin | Juni 2023
TARIF Aufsichtsrat der Autobahn GmbH Transparenz durchgesetzt Bei Neubesetzungen in der Geschäftsführung der Autobahn GmbH hat der Aufsichtsrat den Alleingang des Verkehrsministers gestoppt und ein offenes Auswahlverfahren durchgesetzt. In der Geschäftsführung der Autobahn GmbH soll die dreiköpfige Geschäftsführung um einen Sitz erweitert werden. Zugleich scheiden zwei bisherige Geschäftsführungsmitglieder aus. „Verkehrsminister Volker Wissing wollte die Posten ohne Stellenausschreibung und ohne Beteiligung des Aufsichtsrats besetzen. Dieses intransparente Stühlerücken haben wir gestoppt“, erklärte dbb Tarifchef Volker Geyer, der zugleich stellvertretender Vorsitzender des Aufsichtsrates ist, am 12. Mai 2023 in Berlin. „Wir brauchen Topleute, die das Vertrauen der Belegschaft haben. Deshalb haben wir ein Auswahlverfahren mit mehreren Kandidierenden durchgesetzt.“ Geyer formulierte darüber hinaus konkrete Erwartungen an eine erneuerte Geschäftsführung: „Aus Sicht der Beschäftigten muss die erneuerte Geschäftsführung schnell verinnerlichen, dass ein Dienstleister wie die Autobahn GmbH vor allen Dingen auf gut ausgebildete Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter angewiesen ist. Gerade angesichts des immer akuter werdenden Arbeitskräftemangels und des immer härteren Wettbewerbs um die besten Fachkräfte muss gelten: Bei unserem Personal reden wir stets von Investitionen und nicht einfach nur von Kosten.“ Geyer machte fer- ner klar, dass „wir auch gegenüber der erneuerten Geschäftsführung die Rechte der Beschäftigten der Autobahn GmbH jederzeit durchsetzen werden“. ■ Bundesagentur für Arbeit Tarifergebnis wird übertragen Die Übertragung des Tarifergebnisses von Bund und Kommunen auf die Beschäftigten der Bundesagentur für Arbeit (BA) ist in trockenen Tüchern. Sowohl der steuer- und sozialabgabenfreie Inflationsausgleich von 3000 Euro als auch die umfangreichen Tabellenerhöhungen werden für die Beschäftigten der Bundesagentur für Arbeit gelten. In einem ersten Schritt werden dieses Jahr mit dem Juni-Entgelt 1240 Euro als Einmalzahlung ausgezahlt. Voraussetzung ist, dass das Arbeitsverhältnis am 1. Mai 2023 und an einem Tag zwischen Januar und Ende Mai 2023 ein Anspruch auf Entgelt bestand oder vergleichbare Ersatztatbestände vorhanden waren. Von Juli 2023 bis Februar 2024 gibt es eine monatliche Nettosonderzahlung von 220 Euro. Nachwuchskräfte erhalten 620 Euro beziehungsweise 110 Euro. Teilzeitbeschäftigte erhalten die Beträge anteilig. Die Tabellenwerte erhöhen sich zum 1. März 2024 zunächst um einen Festbetrag von 200 Euro und anschließend in einem zweiten Schritt um 5,5 Prozent. Tabellenerhöhungen unter 340 Euro werden auf mindestens 340 Euro erhöht. Die Funktionszulagen steigen ebenfalls. Nachwuchskräfte – also Auszubildende und Studierende – erhalten ab 1. März 2024 150 Euro mehr Ausbildungsvergütung. Damit ergeben sich für die Beschäftigten im Jahr 2024 spürbare Tabellenerhöhungen mit sozialer Komponente von durchschnittlich 11,5 Prozent. Noch steht die Einigung unter Gremienvorbehalt. Die Bundesagentur für Arbeit (BA) ist der größte Arbeitgeber des öffentlichen Dienstes. Tarifrechtlich nimmt sie eine Sonderstellung ein. Es gibt einen zwischen Gewerkschaften und BA ausgehandelten Haustarifvertrag, der die dortigen Besonderheiten berücksichtigt. Insbesondere beinhaltet der Tarifvertrag ein fein ausverhandeltes System zur Eingruppierung. Die Anpassung, Neuausrichtung und Weiterentwicklung dieses Systems im Sinne der Beschäftigten hat sich der dbb zur Aufgabe gemacht. ■ Foto: Colourbox.de 6 AKTUELL dbb magazin | Juni 2023
Nach Auffassung von dbb Chef Ulrich Silberbach kann der digitale Staat nur gelingen, wenn die Verwaltungen mehr eigene IT- und Digitalkompetenzen aufbauen. „Dafür brauchen wir mehr Ausbildungskapazitäten und duale Studiengänge für die Bundes-, Landes- und Kommunalverwaltungen. Der Aufbau einer eigenen IT-Fachkräftebasis in der Verwaltung ist auch unerlässlich, um die Abhängigkeit von externer Beratung zu reduzieren“, sagte Silberbach am 3. Mai 2023 beim dbb dialog zum Thema „Dauerbaustelle Digitalisierung der Verwaltung: Wie geht es jetzt nach der ernüchternden OZGBilanz weiter?“ in Berlin. Es müssten aber nicht nur mehr Nachwuchskräfte vom Staat selbst ausgebildet werden: „Weiterhin brauchen wir massive Investitionen in die Fort- und Weiterbildung der vorhandenen Beschäftigten. Bereits heute investiert die Privatwirtschaft mehr als doppelt so viel wie der öffentliche Dienst in die Weiterbildung seiner Beschäftigten.“ Auch die Arbeitsbedingungen müssten verbessert werden. „Das bedeutet ganz konkret: flexible Arbeitszeiten, eine attraktive Bezahlung, eine moderne technische Arbeitsausstattung und eine innovative Verwaltungskultur. Denn zahlreiche Stellen bleiben zu lange unbesetzt und das vorhandene Personal ist trotz zuletzt erfolgter Aufstockung komplett ausgelastet. Der Normenkontrollrat hatte bereits 2021 kritisiert, dass für eine erfolgreiche Umsetzung des OZG insbesondere in den Ländern und Kommunen schlicht und einfach nicht genug Leute zur Verfügung stehen.“ Enttäuschende Bilanz Die enttäuschende Bilanz des OZG sei aber nicht von den Beschäftigten zu verantworten, stellte der dbb Chef klar: „Die Kolleginnen und Kollegen sind vielmehr die Leidtragenden einer verfehlten Politik und schlechter Rahmenbedingungen. Ohne ihren täglichen und hoch motivierten Einsatz würden wir noch viel schlechter dastehen. Neben dem Personalmangel ist es ein wesentliches Problem, dass die interne Verwaltungsdigitalisierung komplett vernachlässigt wurde. Man hat sich ausschließlich darauf konzentriert, dass etwa Anträge digital eingereicht werden können. In ganz vielen Fällen mussten die Beschäftigten diese dann ausdrucken und abtippen, weil sie nicht digital weiterverarbeitet werden konnten. So funktioniert es einfach nicht, das ist fatal.“ Was waren die zentralen Gründe für die mangelhafte OZG-Umsetzung? Wurde die Perspektive der Beschäftigten ausreichend berücksichtigt? Kommt jetzt mit dem OZG 2.0 die erhoffte WenDIALOG Onlinezugangsgesetz Auf der Suche nach der digitalen Verwaltung Das Onlinezugangsgesetz (OZG) hatte Bund und Länder eigentlich dazu verpflichtet, bis zum 31. Dezember 2022 sämtliche Leistungen der Verwaltung auch digital anzubieten. Laut dem Jahresbericht 2022 des Normenkontrollrats haben es Bund, Länder und Kommunen lediglich geschafft, flächendeckend 33 von 575 Services vollständig online anzubieten. Vor allem fehlen dem Staat eigene IT-Spezialisten, während die Abhängigkeit von externen Beratern viel zu groß ist. Juliane Hielscher leitete die Diskussionsrunde mit Ulrich Silberbach. Model Foto: dotshock/Colourbox.de © Jan Brenner (2) 8 AKTUELL dbb magazin | Juni 2023
de? Was muss sich wirklich ändern, damit die Digitalisierung der Verwaltung noch erfolgreich umgesetzt werden kann? Diese Fragen diskutierte Silberbach mit Thomas Bönig, Amtsleiter DO.IT – Amt für Digitalisierung, Organisation und IT sowie CIO/CDO der Landeshauptstadt Stuttgart, Patrick Burghardt, Digitalstaatssekretär, CIO des Landes Hessen und Vorsitzender des IT-Planungsrats, Dunja Kreiser, Mitglied der SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag, und Malte Spitz, Mitglied des Nationalen Normenkontrollrats. „In der Sackgasse nicht noch Gas geben“ Als CIO der baden-württembergischen Landeshauptstadt Stuttgart obliegt Thomas Bönig die Gesamtverantwortung für die Digitalisierung der Kommune – von der Verwaltung bis hin zur Smart City. Für ihn ist die bisherige Umsetzung des OZG „zunächst einmal gescheitert“, zumal die Kommunen an der Umsetzung des Gesetzes bislang nicht vernünftig beteiligt gewesen seien. „Der Föderalismus ist nicht das Grundproblem bei der Verwaltungsdigitalisierung, sondern der Umgang damit“, ist Bönig überzeugt. Darüber hinaus stellten Online-Zugänge allein noch keine Digitalisierung dar. Die Kommunen könnten zwar in einigen Bereichen gut mit Online-Formularen arbeiten, die von Bürgerinnen und Bürgern online ausgefüllt werden. „Aufgrund der aktuellen Gegebenheiten führen diese aber in der Verwaltung zu Mehrarbeit, weil sie eben nicht automatisiert weiterverarbeitet werden, sondern oftmals manuell nachbearbeitet werden müssen.“ Die Eingaben aus Formularen seien zudem oft noch nicht mit den Systemen dahinter kompatibel. Den Blick auf die Zukunft gerichtet, plädierte Bönig dafür, statt nicht erreichbarer Ziele besser eine Basis 20 oder 30 wichtiger digitaler Bürgerservices auf einer Plattform anzubieten, die dann für Bürgerinnen, Bürger und Verwaltung bruchlos nutzbar sind. „Menschen, die digitalaffin sind und sehen, was wir da machen, halten uns schlicht für nicht mehr kompetent. Wenn wir Ämter digitalisieren wollen, brauchen wir von der Planung bis zur Implementierung der Systeme digitale Kompetenz vor Ort.“ Die dazu notwendige Anwerbung von Fachkräften werde dem öffentlichen Dienst jedoch durch die besseren Einkommensstrukturen in der Wirtschaft erschwert. Die Kommunen müssten sich außerdem um zu viele Aspekte der Digitalisierung selbst kümmern. „Dafür fehlen uns schlicht die Ressourcen“, kritisierte Bönig. Als Grundproblem des OZG definierte Böning: „Das Gesetz digitalisiert das Papier, nicht den Prozess.“ Aus seiner Sicht eine Sackgasse, „und es macht keinen Sinn, in einer Sackgasse auch noch Gas zu geben“. Die Leidtragenden seien Bürger und Beschäftigte gleichermaßen. „Am Ende muss eine Verwaltungsleistung stehen, die den Ansprüchen einer modernen Gesellschaft gerecht wird, aber davon sind wir bisher noch sehr weit entfernt. Es müssen mehr zentrale Lösungen umgesetzt werden.“ Daher wünscht sich der CIO eine progressive, bundesweite Digitalstrategie, um schneller zu Ergebnissen zu kommen. Digitalisierungsdruck macht Rechtsanspruch überflüssig Patrick Burghardt kündigte an, nach dem aus seiner Sicht nicht vollkommen erfolglosen ersten Aufschlag des Onlinezugangsgesetzes beim „OZG 2.0“ einen „großen Schritt weiter vorangehen, etwas wagen“ zu wollen. Nachdem der Zugang zu digitalen Bürgerdiensten mittlerweile gut geregelt sei, gehe es jetzt um die Umsetzung der Anwendungen in den Verwaltungen. Mit den EfA-Leistungen (EfA = „Einer für Alle“), die die jeweils federführenden Bundesländer aufgesetzt haben und derzeit unter Hochdruck weiterentwickeln, werde man die Verwaltungsdigitalisierung jetzt schnell nach vorne bringen, zeigte sich Burghardt überzeugt. „Ich würde das OZG nicht als gescheitert bezeichnen. Die geschaffenen Strukturen werden die Digitalisierung jetzt weiter in die Fläche bringen.“ Burghardt warnte davor, sich in der pauschalen Digitalisierung aller Verwaltungsprozesse und in individuellen Konfigurationsanforderungen zu verlieren. „Wir müssen jetzt schnell das zur Verfügung stellen, was der Markt auch abnimmt“, also insbesondere sämtliche gängigen und von Bürgerinnen, Bürgern und Unternehmen häufig abgefragten Dienstleistungen. Angesichts der Zahl von 11000 Kommunen werde der Staat nicht alle individuellen Digitalisierungsanforderungen abdecken können, „da brauchen wir schlicht auch die Zusammenarbeit mit der freien IT-Wirtschaft“, so Hessens CIO. Den Vorwurf, dass Bürgerinnen und Bürger im Zuge der Entwicklung digitaler Verwaltungsdienstleistungen nicht ausreichend einbezogen worden seien, wies Burghardt entschieden zurück. In den eigens für die Userbeteiligung eingerichteten Werkstätten bei der Entwicklung der digitalen Fachverfahren seien alle Beteiligten regelmäßig intensiv einbezogen worden, „das war schon gelebte Bürgerbeteiligung mit sehr gutem Input der User“. Einen Rechtsanspruch auf digitale Verwaltungsleistungen hält Burghardt für überflüssig, ebenso jede weitere zeitliche Fristsetzung. Der hohe Druck sowohl auf länder- als auch auf kommunalpolitischer Ebene werde automatisch dafür sorgen, dass Digitalisierung und Registermodernisierung nun zügig umgesetzt würden. Dunja Kreiser, Thomas Böning, Malte Spitz und Patrick Burghardt (von oben links). „Wir brauchen massive Investitionen in die Fort- und Weiterbildung der vorhandenen Beschäftigten.“ Ulrich Silberbach AKTUELL 9 dbb magazin | Juni 2023
Bei der Umsetzung des OZG arbeitet Hessen mittlerweile im Rahmen einer länderübergreifenden Kooperation mit dem Saarland und Rheinland-Pfalz zusammen und tauscht Online-Prozesse aus, die auf einer gemeinsamen technischen Plattform entwickelt werden. Die im Verbund entwickelten Lösungen können in den jeweiligen Landes- und Kommunalverwaltungen der Kooperationspartner eingesetzt werden. In einer gemeinsamen Prozessbibliothek sind die verfügbaren Online-Prozesse recherchierbar, um diese anschließend in die eigenen IT-Systeme zu integrieren. Auch Thüringen ist Teilnehmer an dieser „Mitte-Kooperation“ für digitale Verwaltungsdienstleistungen. Bessere Koordinierung zwischen Bund, Ländern und Kommunen Dunja Kreiser, Berichterstatterin der SPD-Bundestagsfraktion für die Digitalisierung der Verwaltung und das Onlinezugangsgesetz im Innenausschuss, zeigte sich realistisch: Die staatlichen Strukturen „sind, wie sie sind“, Föderalismus und Vielgliedrigkeit der deutschen Verwaltung seien schlicht Realität. Die Bundestagsabgeordnete glaubt nicht an die große Staatsreform, wohl aber an bessere Abstimmung: „Der IT-Planungsrat und die Föderale IT-Kooperation, kurz FITKO, müssen deshalb zukünftig bei Koordinierung und Impulsgebung für die Daueraufgabe Digitalisierung der Verwaltung eine noch stärkere Rolle spielen. Hierfür müssen sie sicherlich auch strukturell und finanziell gestärkt werden.“ Gleichzeitig müssten aber auch die Länder ihren Part übernehmen. „Viele der Zuständigkeiten für digitale Dienstleistungen liegen eben nicht beim Bund, sondern bei den Ländern.“ Was auf jeden Fall fehle, seien verbindliche finanzielle Zusagen von Bund und Ländern. „Die erste Verantwortung für die Kommunen liegt aber eindeutig bei den Ländern. Eins ist klar: Die Kommunen können die notwendigen Investitionsprogramme auf keinen Fall alleine stemmen“, mahnte Kreiser. Digitalcheck für Gesetze als Gamechanger? Malte Spitz plädierte für eine stärkere Ende-zu-Ende-Digitalisierung. Den bisherigen föderalen Ansatz „Einer für Alle“ (EfA), also die Entwicklung von digitalen Lösungen durch ein Bundesland stellvertretend für alle anderen, hält er dabei allerdings für nicht zukunftsfähig: „Das hat nicht funktioniert.“ Es brauche eine stärkere Standardisierung bei der Lösungsentwicklung. Als möglichen „Gamechanger“ sieht Spitz den sogenannten Digitalcheck für Gesetze, den der Normenkontrollrat (NKR) nun entwickeln werde. Wenn die digitale Umsetzung bereits im Gesetzgebungsprozess berücksichtigt werde, könnte dies zu qualitativ hochwertigen Lösungen in der Praxis beitragen. Spitz: „Die Mitglieder des Bundestages müssen das einfach von Anfang an mitdenken.“ Bei seiner Kritik am bisherigen Fortschritt bei der Verwaltungsdigitalisierung wollte sich Spitz nicht auf Bundesinnenministerin Nancy Faeser konzentrieren. „Das ist ein Problem der gesamten politischen Spitze des Landes. Mein Eindruck ist, dass es vielfach nicht als Gewinnerthema gesehen wird und es eher Angst vor schlechter Presse gibt.“ In der Diskussion um die Sinnhaftigkeit eines Rechtsanspruchs auf digitalen Zugang sagte der Mitgründer und Generalsekretär der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF), der Rechtsanspruch sei erforderlich, um gleichwertige Lebensverhältnisse umzusetzen. Es brauche auch ein Druckmittel im Verfahren, wie es zuvor das verbindliche Zieldatum gewesen sei. Hier widersprach dbb Chef Ulrich Silberbach, der die Forderung nach einem Rechtsanspruch, wie ihn etwa die FDP erhebt, für populistisch hält: „Wer soll da wen mit welchen Sanktionen belegen können?“ Gleiches gelte für die vereinzelt geforderten Strafen für Behörden, die bei der Digitalisierung zurückblieben. Der dbb Bundesvorsitzende betonte, dass die Digitalisierung der Verwaltung einer nachhaltigen Finanzierung bedürfe. „Wenn der Bund hier zu viele Bedingungen stellt, haben wir ein Problem. Wir haben es beim ‚DigitalPakt Schule‘ gesehen, dass etwa eine Kofinanzierung viele Kommunen überfordert und die Mittel deshalb nicht abfließen“, hielt Silberbach fest. br, ef, iba, nak „Wir brauchen schlicht auch die Zusammenarbeit mit der freien IT-Wirtschaft.“ Patrick Burghardt © John Schnobrich/Unsplash.com Model Foto: Colourbox.de 10 AKTUELL dbb magazin | Juni 2023
STUDIE Verwaltungsdigitalisierung Deutschland fällt weiter zurück Der Report Nr. 20 des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) vom 30. März 2023 attestiert der Bundesrepublik im europäischen Vergleich beim E-Government lediglich einen Platz im unteren Mittelfeld. So komme Deutschland im Umsetzungsstand für digitale öffentliche Dienste der EU 2022 nur auf Rang 18 der 27 EU-Mitgliedsländer. Im Vergleich zum Vorjahr sei Deutschland sogar von Platz 17 um einen Platz zurückgefallen, wie der Digital Economy and Society Index (DESI) der EU-Kommission von 2022 ausweise. Führend in dem Ranking seien nordische Staaten wie Estland und Finnland, aber auch die Niederlande und Spanien schnitten sehr gut ab. Selbst bei den im Rahmen des Onlinezugangsgesetzes (OZG) tatsächlich umgesetzten Dienstleistungen sei es lediglich bei Stückwerk geblieben: „Politik und Verwaltungen konzentrieren sich auf die Erstellung von Online-Masken für die Nutzenden, vernachlässigen jedoch die durchgehende Frontdeskto-backoffice-Digitalisierung“, heißt es in dem Bericht. Zwar sollen für die weitere Umsetzung des OZG Schwerpunkte definiert werden, auf die disziplinierende Wirkung einer neuen Fristsetzung und auf bundeseinheitliche Ansätze werde jedoch verzichtet. „Ohne eine deutschlandweit einheitliche umfassende Digitalisierung auch der verwaltungsinternen Abläufe sind aber die Vorteile digitaler Lösungen nicht zu heben; Prozesse bleiben an bisherigen papierorientierten Verwaltungsvorgängen ausgerichtet und erhöhen teilweise die Personalintensität, statt die digitalen Möglichkeiten zur Produktivitätssteigerung zu nutzen. Dabei besteht keine Gefahr, dass eine produktivitätssteigernde Digitalisierung zu einem personellen Kahlschlag in den deutschen Amtsstuben führt – vielmehr ist ohne Ausnutzung der Potenziale zum Beispiel von automatisierten KI-basierten Cloudlösungen der demografisch bedingte Personalmangel durch fehlenden Nachwuchs an Verwaltungskräften nicht zu bewältigen. Es droht ein weiterer Rückgang der Qualität und Geschwindigkeit öffentlicher Verwaltungsdienste“, schreibt IW Senior Economist Dr. Klaus-Heiner Röhl. Sein Fazit: „Ziel klar verfehlt.“ Das Vorhaben, mit dem OZG von 2017 bis 2022 das E-Government in Deutschland weitgehend umzusetzen und Deutschland damit von einem hinteren Platz in Europa bei der staatlichen Digitalisierung in den vorderen Bereich zu befördern, müsse sogar als vollständig gescheitert bezeichnet werden: Mit 105 bundesweiten Leistungen seien nur 18 Prozent des Ziels von 575 Online-Angeboten flächendeckend erreicht worden. Verantwortlich dafür sei auch eine schlechte strategische Konzeption. „Nach Verabschiedung des OZG-Gesetzes im Jahr 2017 fehlte eine klare Umsetzungsstrategie mit ,Meilensteinen‘ für Bund, Länder und Kommunen, wie sie im Projektmanagement die Regel sein sollte. Erst im Laufe der Zeit wurde die ,Einer für Alle‘-Strategie aufgesetzt, derzufolge bestimmte Bundesländer und Kommunen definierte OZGLeistungen erstentwickeln, damit diese dann von allen Ländern und Kommunen übernommen werden können. Es gibt zudem weiterhin kein rechtliches Instrument, mit dem die Kommunen zu einer zügigen Übernahme erstentwickelter Leistungen verpflichtet werden können“, so Röhl. Oft sei der Elan, auf kommunaler Ebene E-Government-Angebote umzusetzen, gering, da die anderweitig entwickelten Digitalangebote nicht auf bereits bestehende Lösungen in den Verwaltungen übertragen werden könnten. Der Fehlschlag in der OZG-Umsetzung habe auch konzeptionelle Gründe. Überwiegend hätten Bund, Länder und Kommunen versucht, historisch gewachsene analoge Behördenvorgänge mit OnlineMasken für Nutzerinnen und Nutzer zu versehen, statt die Digitalisierung für eine grundlegende Neukonzeption der Verwaltungsvorgänge in der digitalenWelt zu nutzen. Plattformlösungen, die weitgehend automatisierte Abläufe und „intelligente“ Verfahren beinhalten, würden ein E-Government aus einemGuss mit Vereinfachungen und Einsparungen auch in den Verwaltungen erlauben. Hierfür müssten bundeseinheitliche Lösungen entwickelt werden, wovor man aus föderaljuristischen Gründen offenbar zurückschrecke. Für Röhl scheint auch ein Eingriff in die kommunale Selbstverwaltung insofern notwendig, als dass die Kommunen zur Nutzung bundeseinheitlicher Digitallösungen verpflichtet werden müssten. ■ Model Foto: Teodor Lazarev/Colourbox.de 12 AKTUELL dbb magazin | Juni 2023
ONLINE EU Data Act Mehr Daten für den Staat Daten stehen imMittelpunkt des digitalen Wandels. Sie gelten als das Gold des digitalen Zeitalters und wer Zugriff auf sie hat, gestaltet die Zukunft. Die Europäische Kommission hat das erkannt und eine ganze Reihe von Gesetzesinitiativen angestoßen. Mit dem „Data Act“will sie der Europäischen Union ein neues Datengesetz geben. Der Data Act zielt darauf ab, Hindernisse für die Verbreitung und das Teilen von Daten zu beseitigen. Er enthält Maßnahmen zur Schaffung einer gerechten Datenwirtschaft sowie Regelungen für das Teilen von Daten zwischen Privatpersonen und Unternehmen, zwischen Unternehmen untereinander und zwischen Unternehmen und dem Staat. Am 13. März 2023 hat sich das Europäische Parlament auf eine gemeinsame Position verständigt, die Mitgliedstaaten zogen im Rat der EU am 24. März 2023 nach. Die Verhandlungen zwischen EU-Parlament und dem Rat der EU sollen bis zum Ende des Sommers andauern. Wie viel Datenzugang für den Staat? Im Fokus der Öffentlichkeit stand bislang immer das Thema „Open Government Data“. Dabei geht es um die Bereitstellung von Datenbeständen des öffentlichen Sektors zur freien Nutzung und Weiterverwendung für Zivilgesellschaft und Wirtschaft. Mit zahlreichen Gesetzen wurden staatliche Stellen entsprechend dazu verpflichtet, ihre Daten zu veröffentlichen und kostenlos bereitzustellen. Das Thema der Bereitstellung von Daten in die andere Richtung, also das Teilen von Firmendaten mit dem öffentlichen Sektor, spielte in der politischen Diskussion hingegen lange Zeit kaum eine Rolle. Verschiedene Krisen wie die Coronapandemie, der Krieg in der Ukraine oder auch Naturkatastrophen haben verdeutlicht, wie wichtig die Nutzung von Daten aus der Wirtschaft für die Krisenbewältigung und die Krisenprävention ist, und zu einem Umdenken innerhalb der Politik geführt: Auch der Staat sollte Datenbestände privater Unternehmen intensiver nutzen können, um ein besseres Krisenmanagement zu realisieren. An dieser Stelle setzt der Data Act an. Er soll öffentliche Stellen dazu ermächtigen, unter besonderen Umständen Daten von privaten Unternehmen anfordern zu dürfen, beispielsweise zur Verhinderung eines öffentlichen Notfalls oder als Reaktion darauf. Das Robert Koch-Institut konnte während der Coronapandemie beispielsweise nur dank der Daten der Deutschen Telekom AG untersuchen, wie sich die Mobilität der Bevölkerung im Lockdown entwickelt hat. Offene Fragen, ungelöste Konflikte Wie viel Zugang zu welchen Unternehmensdaten soll der Staat bekommen? Soll er nur in Notfällen darauf zurückgreifen dürfen oder auch darüber hinaus? Sollten kleine Unternehmen von der Pflicht ausgenommen werden, Daten zu teilen? Diese politisch umstrittenen Fragen sind Gegenstand der Verhandlungen zwischen den EU-Institutionen. Sie berühren den Nutzen für das Gemeinwohl, den Datenschutz, Unternehmensinteressen und nicht zuletzt das Vertrauen in staatliche Institutionen. Denn Daten aus der Wirtschaft taugen nicht nur dazu, die staatliche Aufgabenerfüllung in Notfallsituationen zu verbessern. Telekommunikationsdaten können zum Beispiel auch dazu dienen, Menschenansammlungen und Massenbewegungen auszuwerten, Migrationsströme besser zu managen oder das Touristenaufkommen in überfüllten Städten zu steuern. Handlungsbedarf für einen rechtlichen Rahmen besteht daher nicht nur in Sachen Datenschutz, sondern auch, weil die Wirtschaft selbst meist wenig Interesse an der freiwilligen, womöglich kostenfreien Bereitstellung ihrer Daten hat. Das Bundesministerium für Digitales und Verkehr vertritt Deutschland bei den Verhandlungen und hat sich klar für einen staatlichen Datenzugang ausgesprochen, allerdings unter Berücksichtigung von Geschäftsgeheimnissen, Eigentumsrechten und ohne die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Firmen einzuschränken. Eine Pflicht zur Bereitstellung von Daten müsse streng verhältnismäßig und zielorientiert sein. Unternehmen dürften nicht über Gebühr belastet werden. jb Model Foto: Colourbox.de AKTUELL 13 dbb magazin | Juni 2023
INTERVIEW Dr. Marcus Optendrenk, Minister der Finanzen des Landes Nordrhein-Westfalen Wer bestellt, muss auch bezahlen Kontinuierliche Krisen sorgen seit 2021 für einen erhöhten Finanzierungsbedarf. Dabei bestehen alte Aufgaben wie der Sanierungsstau bei öffentlichen Infrastrukturen, der Kostendruck im Gesundheitswesen oder die Herausforderungen der Energiewende weiterhin. Kann das alles überhaupt noch ohne die Aufnahme zusätzlicher Schulden finanziert werden? Mit der Doppelkrise von Pandemie und russischem Angriffskrieg auf die Ukraine haben die letzten Jahre uns auch in den öffentlichen Haushalten einiges abverlangt. Bei Energiepreisen, Inflation und den Herausforderungen im Kontext der Flüchtlingsversorgung spüren wir ihre Folgen weiterhin deutlich. Mit dem CoronaRettungsschirm und dem Sondervermögen Krisenbewältigung haben wir die richtigen Antworten auf diese Krisen gefunden. Wir haben schnell und entschieden reagiert und die Bürgerinnen und Bürger wie auch die Unternehmen im Land nach Kräften unterstützt. Zusätzlich zu den Herausforderungen gehört aber auch, dass der Bund mit seinen auch zulasten der Länder durchgesetzten Maßnahmenpaketen dauerhafte jährliche Kosten von mehr als vier Milliarden Euro allein in Nordrhein-Westfalen verursacht. Hiervon entfallen rund 3,5 Milliarden Euro auf Steuermindereinnahmen durch Inflationsausgleichs- und Tarifanpassungsgesetz sowie weitere direkte Ausgaben von rund 700 Millionen Euro zum Beispiel durch die Erhöhung des Wohngeldes und der Landesanteil des Deutschlandtickets. Trotzdem ist es nun umso wichtiger, zur haushaltspolitischen Normalität im Rahmen der Schuldenbremse zurückzukehren. Das ist eine große Herausforderung. Aber: Die Zeit der Minuszinsen ist vorbei. Geld kostet wieder Geld. Nur eine nachhaltige Finanzpolitik sichert die zukünftige Handlungsfähigkeit des Staates und führt zu Generationengerechtigkeit. Und die liegt uns besonders am Herzen. Wie kann sichergestellt werden, dass jetzt beschlossene Ausgaben zukünftige Generationen nicht über Gebühr belasten? Eine verantwortungsvolle Haushalts- und Finanzpolitik braucht für alle Ausgaben eine solide Gegenfinanzierung. Denn unsere Haushalts- und Finanzpolitik ist dem nachhaltigen Umgang mit unseren finanziellen Ressourcen verpflichtet und ermöglicht Zukunftsinvestitionen. So stellen wir bereits jetzt die Weichen für künftige Generationen. Die Finanzierung von Zukunftsinvestitionen durch Anleihen mit extrem langer Laufzeit ist nur ein Beispiel für eine vorausschauende Planung und generationengerechte Haushaltspolitik. Das Land Nordrhein-Westfalen hat die Niedrigzinsphase genutzt, um sich mit unseren „Methusalem-Anleihen“ die günstigen Zins- beziehungsweise Refinanzierungskonditionen über extrem lange Zeiträume von bis zu 100 Jahren zu sichern. Das hat sich damals kaum jemand sonst getraut. Heute wünschen sich viele, dass sie es auch so gemacht hätten. Klar ist aber auch, dass solche Möglichkeiten in Zeiten enger werdender Haushaltsspielräume und weiter steigender Zinsen schwieriger werden. In der Haushaltsaufstellung wird es daher vor allem darum gehen, sich dieser Realität zu stellen und bestimmte Projekte über eine strikte Ausgabendisziplin entschlossen zu priorisieren. Wir brauchen also aktuell mehr denn je einen langen Atem und einen klaren Kompass. Die Kommunen in Deutschland ächzen unter den Pflichtaufgaben, die sie auferlegt bekommen. Gerade für die finanzschwachen Städte und Gemeinden bleibt dadurch kaum noch Handlungsspielraum. Wie könnte aus Ihrer Perspektive eine Lösung für das Problem aussehen? Wir brauchen eine angemessene und aufgabengerechte Kostenteilung zwischen Bund, Ländern und Kommunen. Als Land unterstützen wir die Kommunen mit dem Kommunalschutzpaket oder sorgen zum Beispiel über das Gemeindefinanzierungsgesetz für eine solide, transparente und planbare Finanzierung. Gemeinsam mit dem Bund haben wir auch während der Coronapandemie im Jahr 2020 Gewerbesteuerausfälle in Höhe von mehr als 2,7 Milliarden Euro kompensiert. Auch für eine solidarische Übernahme der kommunalen Altschulden – je hälftig durch Land und Bund – setzen Kommunalministerin Ina Scharrenbach und ich uns in Berlin weiter ein. © Ralph Sondermann 14 FOKUS dbb magazin | Juni 2023
Ein Grundmerkmal der Finanzverfassung Deutschlands ist, dass die Länder und ihre Kommunen für den Vollzug der Bundesgesetze verantwortlich sind. Das funktioniert auf Dauer aber nur, wenn die Finanzierung und Verteilung von Steuereinnahmen bei solchen neuen Gesetzen berücksichtigt und bei Bedarf auch neu geregelt werden. Der Bund hat den Kommunen seit 1982 immer mehr Soziallasten aufgebürdet. Das hat zu einem guten Teil zu der aktuellen Verschuldung vieler Kommunen beigetragen – vor allem in den vom Strukturwandel besonders gebeutelten Städten im Ruhrgebiet. Viele von ihnen konnten sich hiervon bis heute nicht befreien. Wir müssen verhindern, dass sich die Geschichte wiederholt und die Kommunen bei der Unterbringung, Versorgung und Integration der Flüchtlinge erneut vom Bund allein gelassen werden. Denn dies ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, bei der Bund, Länder und Kommunen gemeinsam anpacken müssen. Mit den aktuellen Entscheidungen ist nur ein erster kleiner Schritt getan. Für die Kommunen ist das aber noch nicht ausreichend. Länder und Kommunen brauchen Verlässlichkeit und Planbarkeit sowie eine Finanzierung der Flüchtlingskosten, die der Belastungssituation vor Ort gerecht wird. Muss das Finanzausgleichssystem der Bundesrepublik grundlegend neu gedacht werden? Unser Finanzausgleichssystem ist Ausdruck der Solidarität zwischen dem Bund und den Ländern untereinander. Das Finanzausgleichsgesetz in seiner jetzigen Fassung gilt erst seit dem Jahr 2020. Es wurde seinerzeit im Bundesrat einstimmig verabschiedet. Dieses System hat sich im Grunde bewährt und trägt dazu bei, dass Chancen und Ressourcen möglichst ausgewogen in Deutschland verteilt werden und wir alle gut und in Wohlstand zusammenleben können. Dennoch muss insbesondere bei bundespolitischen Vorhaben eine aufgabenadäquate Finanzausstattung sichergestellt werden, wenn diese zu dauerhaften Belastungen der Haushalte von Ländern und Kommunen führen. Auch hier muss gelten: Wer bestellt, muss auch bezahlen. Und zwar dauerhaft und verlässlich. Der Großteil der Landeshaushalte wird bereits für zwingende Ausgaben wie zum Beispiel Personalausgaben oder die Finanzierung von übertragenen Aufgaben ausgegeben. Daher sind die Spielräume der Länder deutlich kleiner als im Bundeshaushalt. Die Financial Action Task Force der OECD hat für Deutschland zumwiederholten Male festgestellt, dass die hiesigen Behörden bislang gar nicht über die Strukturen verfügen, umwirksam gegen Steuerhinterziehung, Finanzmarktkriminalität und illegale Geldströme vorzugehen. Welche Maßnahmen braucht es, um das Recht endlich auch hier durchzusetzen und die beträchtlichen Summen, die dem Fiskus durch Betrug regelmäßig durch die Lappen gehen, sicherzustellen? Die internationalen Experten haben Nordrhein-Westfalen mit unserer ressortübergreifenden Taskforce ausdrücklich gelobt. Ich teile aber die Auffassung der OECD, dass wir bei der Bekämpfung der Finanzkriminalität noch deutlich mehr tun müssen. Wir werden uns den professionellen Finanzkriminellen mit großer Entschlossenheit entgegenstellen und unsere Steuerverwaltung an die sich stetig verändernden Rahmenbedingungen anpassen. Daher haben wir die Bekämpfung von Steuerkriminalität und Geldwäsche auch zum Leitthema der Jahresfinanzministerkonferenz 2023 im Juni in Münster gemacht. In Nordrhein-Westfalen stellen wir daher – im Länderverbund bislang einzigartig – unsere Steuerfahndung neu auf und werden hierdurch noch schlagkräftiger. Die Bekämpfung großer Fälle von Steuerkriminalität und Cybercrime sowie die Mitwirkung bei der Geldwäschebekämpfung soll künftig zentral erfolgen und koordiniert werden. Hierzu bündeln wir die besondere Expertise und die erforderlichen Kompetenzen, um landesweit schnell und effektiv gegen die „großen Fische“ vorgehen zu können und ihnen das Handwerk zu legen. Das Ganze läuft unter dem Arbeitstitel „Landesfinanzkriminalamt“. Wir verfolgen damit konsequent unseren bewährten Ermittlungsgrundsatz „Follow the Money“ weiter und werden mit der neuen Organisationsstruktur ein effektives Durchgreifen bei den Ermittlungen erheblich erleichtern. Denn es kann nicht sein, dass wir oftmals nur die kleinen Fische fangen und die großen unsere Netze umgehen. Auch für den öffentlichen Dienst werden die Rufe nach mehr Arbeitszeitflexibilität lauter. Im Land Berlin wird sogar schon über Modellprojekte für eine Vier-Tage-Woche diskutiert. Ganz abgesehen vom Fachkräftemangel in der öffentlichen Verwaltung: Sind solche Modelle überhaupt finanzierbar? Unsere Arbeitswelt ist beständigen Veränderungen unterworfen. Gerade in Zeiten des Fachkräftemangels und des Werbens um die besten Köpfe ist die Optimierung und Flexibilisierung der Arbeitsbedingungen in der Verwaltung ein hochaktuelles und wichtiges Thema. Daher sind wir generell einer konstruktiven Diskussion und auch flexiblen Lösungen gegenüber aufgeschlossen. Wir haben während der Pandemie gemerkt, dass manches gut funktioniert, was wir früher für illusorisch gehal- ten haben. An solchen guten Erfahrungen sollten wir festhalten. Wir müssen aber auch die Sicherstellung der Arbeitsfähigkeit der Verwaltung und – ganz besonders als Finanzminister – die Finanzierbarkeit der Vorschläge im Blick behalten. Unter beiden Gesichtspunkten erscheint mir die Vier-Tage-Woche problematisch. Denn eine solche Arbeitsverdichtung würde vermutlich dazu führen, dass wir über die gesamte Landesverwaltung hinweg eine nicht unerhebliche Anzahl neuer Kolleginnen und Kollegen bräuchten, um den berechtigten Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger an ihre Verwaltung gerecht zu werden. Denn sie erwarten zu Recht die zuverlässige Verfügbarkeit unserer Verwaltungsdienstleistungen zumindest innerhalb der üblichen Bürozeiten – und in vielen Fällen auch darüber hinaus. Für einen solchen Stellenaufwuchs besteht derzeit kein haushalterischer Handlungsspielraum. Die ohnehin große Herausforderung der Stellenbesetzung in Zeiten des Fachkräftemangels würde in solchen Szenarien sicherlich noch einmal potenziert werden. Wir sollten daher auch auf anderen Wegen jenseits einer Arbeitszeitanpassung oder -verdichtung für eine dauerhafte Zufriedenheit bei der Arbeit sorgen. Mit vielfältigen Teilzeitmöglichkeiten, einem umfassenden und großflächigen Angebot bei der mobilen Arbeit und einer auch jetzt schon sehr großzügigen Einteilung der flexiblen Wochenarbeitszeit bestehen bereits vielfältige Angebote für eine ausgewogene Work-Life-Balance. Über weitere Verbesserungen, die die Arbeitsbedingungen im öffentlichen Dienst noch attraktiver machen, stehen wir mit dem dbb und anderen Gewerkschaften in einem konstruktiven Austausch. ■ FOKUS 15 dbb magazin | Juni 2023
STAATSFINANZEN Bundesrechnungshof Neuverschuldung gefährdet Handlungsfähigkeit Bundesregierung und Deutscher Bundestag haben die Kreditaufnahme des Bundes stark ausgeweitet, um der multiplen und teilweise miteinander verschränkten Krisen der vergangenen Jahre Herr zu werden. Der Bundesrechnungshof schlägt in einer Stellungnahme Alarm. Durch COVID-19-Pandemie, Ukrainekrieg und Energiekrise haben sich die im Bundeshaushalt ausgewiesene Nettokreditaufnahme sowie die für das Sondervermögen Bundeswehr und für den Wirtschafts- und Stabilitätsfonds (WSF) zur Finanzierung des Schutzschirms gegen die explodierenden Energiepreise beschlossenen Kreditermächtigungen von 2020 bis 2023 auf rund 800 Milliarden Euro summiert. Hinzu kommt im Jahr 2023 die Inanspruchnahme der allgemeinen Rücklage in Höhe von 40,5 Milliarden Euro, die ebenfalls durch die Aufnahme von Krediten finanziert werden muss. Insgesamt addieren sich die bereits in Anspruch genommenen sowie die geplanten Kredite nach Berechnungen des Bundesrechnungshofes auf rund 850 Milliarden. „Die schweren globalen Krisen der letzten drei Jahre haben tiefe Spuren in den Bundesfinanzen hinterlassen. Um sie zu bewältigen, hat der Bund fast 850 Milliarden Euro neue Schulden vorgesehen. Noch nie wurden in so kurzer Zeit so viele neue Kredite beschlossen“, sagte der Präsident des Bundesrechnungshofes, Kay Scheller, am 1. März 2023. Als Bundesbeauftragter für Wirtschaftlichkeit in der Verwaltung (BWV) hatte er eine Stellungnahme zur Aufstellung des Bundeshaushalts 2024 und der Finanzplanung bis 2027 herausgegeben. „In über 70 Jahren Bundesrepublik hat der Bund Schulden von rund 1,3 Billionen Euro angehäuft, mit allen Krisen dieser sieben Jahrzehnte und auch der Wiedervereinigung. Dieser Schuldenberg wächst durch die Beschlüsse der letzten drei Jahren noch einmal um 60 Prozent auf mehr als 2,1 Billionen Euro massiv an. Diese Dynamik und ihre Folgen drohen die Tragfähigkeit der Bundesfinanzen und damit auch die staatliche Handlungsfähigkeit ernsthaft zu gefährden. Permanent in neue Schulden auszuweichen, ignoriert die Realität und übergeht die Interessen vor allem der jungen Generation. Für stabile Bundesfinanzen bedarf es jetzt klarer, kluger und auch schmerzhafter Entscheidungen“, so Scheller. Rekordschulden lassen die Krisenfestigkeit sinken Der gewaltige Schuldenberg, seine Zinslasten und Tilgungsverpflichtungen träfen auf einen riesigen Modernisierungs- und Nachholbedarf bei Infrastruktur, Verteidigung, Digitalisierung und Klimaschutz sowie den demografischen Wandel und steigenFotos: Colourbox.de (2) 16 FOKUS dbb magazin | Juni 2023
de Kosten in den Sozialversicherungen. Unter dem Strich seien große Teile des Bundeshaushalts bereits gebunden, seine Krisenfestigkeit werde immer geringer. „Nach der Krise ist vor der Krise!“, bekräftigte Scheller und forderte: „Künftige Krisen können nur mit tragfähigen Staatsfinanzen gemeistert werden. Nur so kann der Bund auch in schwierigen Lagen die Kontrolle behalten und kommenden Herausforderungen begegnen.“ Um weiter das Heft des Handelns in der Hand zu halten, müssten Bundesregierung und Parlament konsequent handeln. Als Maßnahmen schlug Scheller vor, die Dynamik der Neuverschuldung zu stoppen, ein Reporting zu den steigenden Zinsausgaben einzuführen, die Belastung künftiger Generationen durch eine schnellere Tilgung der Krisenkredite zu reduzieren und eine Entlastung des Bundes in den Bund-Länder-Finanzbeziehungen durchzusetzen. Darüber hinaus müsste die Entkernung des Bundeshaushalts durch die Flucht in Sondervermögen rückgängig gemacht und die vom Bundesminister der Finanzen auch für die Haushaltspolitik angekündigte „Zeitenwende“ umgesetzt werden. Dazu gehöre es, über eine Bestandsaufnahme alle Einnahmen und Ausgaben auf den Prüfstand zu stellen und neu zu priorisieren. Konkret schlug der Bundesbeauftragte vor, das strukturelle Kernproblem „Versteinerung“ aufzulösen und Haushaltspolitik nicht kurzfristig zu denken, den Bundeshaushalt konsequent auf Kernaufgaben und wichtige Zukunftsfelder auszurichten und die Ausgaben von konsumtiven zu investiven mit Zukunftswirkung zu verlagern. Neue Maßnahmen dürften nicht ohne Klärung ihrer langfristigen Finanzierungsmöglichkeit beschlossen werden. Weiter brauche es langfristige Tragfähigkeitskonzepte für alle Sozialversicherungszweige. Explodierende Zinsausgaben Diese Maßnahmen seien notwendig, denn der Bund zahle für seinen enormen Schuldenberg einen hohen Preis. Die Zinswende zur Bekämpfung der Inflation ließen seine Zinsausgaben hochschnellen. Während er 2021 knapp vier Milliarden Euro Zinsen zahlte, werden es 2023 fast 40 Milliarden Euro sein – eine Verzehnfachung mit weiter steigender Tendenz. Dem habe sich der Bund ausgeliefert, zumal er sich die günstigen Konditionen der letzten Jahre nicht langfristig gesichert habe. Das schränke die verbleibenden Haushaltsspielräume jetzt massiv ein. Die in der Notlage aufgenommenen Kredite seien nicht nur zu verzinsen, sondern auch zu tilgen. Das verlange das Grundgesetz. „Die Tilgungspläne sind wenig ambitioniert“, so Scheller. „Die Tilgungen sollen 2028 beginnen und erst 2061 enden. Das ist eine weitere finanzielle Bürde für die junge Generation von heute.“ Die Stellungnahme verdeutlicht das mit einem Beispiel: Ein heute dreizehnjähriges Kind, das im Jahr 2028 mit 18 Jahren in das Berufsleben eintritt, zahlt bis zu seinem 50. Lebensjahr mit seinen Steuern die Tilgung der in drei Jahren aufgenommenen Krisenkredite plus die darauf entfallenden Zinsen. Flucht in Sondervermögen kritisiert Die vom Bund aufgenommenen Krisenkredite vertieften auch die Schuldenkluft zwischen diesem auf der einen sowie Ländern und Gemeinden auf der anderen Seite. Während der Bund Rekordschulden mache, wiesen die Länder in ihrer Gesamtheit im Jahr 2022 positive Haushalte aus und hätten ihren Schuldenstand verringern können. Im Ergebnis finanziere der Bund mit seinen neuen Schulden die Konsolidierung der Länderhaushalte. Dabei erodiere die Finanzierungsbasis des Bundeshaushalts durch dauerhaften Verzicht auf Steueranteile zugunsten von Ländern und Gemeinden. Allein von 2011 bis 2023 sei der Bundesanteil am Gesamtsteueraufkommen von 43,3 auf 39,3 Prozent gesunken. Dadurch entgingen dem Bund von 2022 bis 2026 rund 202 Milliarden Euro, die stattdessen Ländern und Gemeinden zugute kämen. „Der Bund hat seine Belastungsgrenze erreicht“, sagte Scheller. „Jetzt müssen sich die Länder solidarisch zeigen. Die Bund-Länder-Finanzbeziehungen müssen überprüft und neu geordnet werden.“ Hinzu komme, dass der Bundeshaushalt die wahre Lage der Bundesfinanzen nicht mehr abbilde. Denn ein erheblicher Teil der Krisenkredite liege in Sondervermögen, also außerhalb des Bundeshaushalts. Diese Flucht in Sondervermögen sei nicht nur intransparent, sondern umgehe die Schuldenregel des Grundgesetzes. Scheller: „Die Politik ist gefragt, gut zu haushalten; also zu priorisieren. Regierung und Parlament haben die Verantwortung, abzuwägen, Konflikte auszutragen und Entscheidungen zu treffen. Anstatt den einfachen Weg zu gehen und diese Entscheidungen über Schulden in die Zukunft zu verlagern.“ ■ ImMärz 2023 startete das regierungsinterne Aufstellungsverfahren für den Bundeshaushalt 2024 und die Finanzplanung 2025 bis 2027. Mitte März 2023 hat die Bundesregierung im Eckwertebeschluss die geplanten Einnahmen und Ausgaben für diese Zeiträume festgelegt. Als Bundesbeauftragter für Wirtschaftlichkeit in der Verwaltung legte der Präsident des Bundesrechnungshofes, Kay Scheller, zu diesem Anlass eine Bestandsaufnahme zur Lage der Bundesfinanzen vor und machte Vorschläge für deren Konsolidierung. Der Bundesbeauftragte wirkt durch Vorschläge, Gutachten oder Stellungnahmen auf eine wirtschaftliche Erfüllung der Bundesaufgaben und eine entsprechende Organisation der Bundesverwaltung einschließlich ihrer Sondervermogen und Betriebe hin. Er kann dabei auf eigene Initiative beratend tatig werden. Traditionell übt der Präsident des Bundesrechnungshofes das Amt des Bundesbeauftragten für Wirtschaftlichkeit in der Verwaltung aus. Über die Bestellung entscheidet die Bundesregierung. Der Bundesbeauftragte für Wirtschaftlichkeit in der Verwaltung Kay Scheller, Präsident des Bundesrechnungshofes © Bundesrechnungshof (2) FOKUS 17 dbb magazin | Juni 2023
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