INTERVIEW Stephan Weil, Vorsitzender der Ministerpräsidentenkonferenz und Ministerpräsident von Niedersachsen Wir erleben gerade einen sehr aktiven Staat © Anne Hufnagel Eine wehrhafte Demokratie braucht das Engagement der gesamten Gesellschaft. Selbst wenn die Politik ihre Vorhaben gut erklärt, setzt das voraus, dass die Menschen auch zuhören. Wie aber erreicht Politik diejenigen, die gar nicht mehr zuhören wollen? Durch gute Politik. Durch Politik, die das Leben der Menschen konkret verbessert und die Themen erfolgreich bearbeitet, die den Leuten unter den Nägeln brennen. Durch Politik, die eine klare Orientierung bietet und Vertrauen schafft. Wenn Bürgerinnen und Bürger dagegen den Eindruck haben, dass Politik vor allem mit sich selbst beschäftigt ist, dann wenden sie sich ab. Das konnte man leider zuletzt bei der Debatte um das Heizungsgesetz beobachten. In einer Demokratie darf und muss über den richtigen Weg auch gestritten werden – innerhalb einer Regierung sollte dies aber außerhalb der Öffentlichkeit geschehen und anschließend eine gemeinsame gute Lösung präsentiert werden. Wobei sich auch die Opposition nicht mit Ruhm bekleckert hat. Politik muss nahbar und verlässlich sein. Gelingt das, so meine Erfahrung in Niedersachsen, kann man die überwiegende Mehrheit der Menschen auch erreichen. Viele Bürgerinnen und Bürger zweifeln mittlerweile an der Handlungsfähigkeit des Staates, nicht zuletzt aufgrund ungelöster Probleme bei Bildung, Infrastruktur und beim Gesundheitssystem. Bekommt die elementare Daseinsfürsorge noch genug politische Aufmerksamkeit? Die Aufgaben des Staates sind gewachsen und werden auch künftig nicht weniger werden. Das liegt daran, dass zeitgleich große Veränderungen bewältigt werden müssen. Ich warne aber vor einem Zerrbild. Mit der Parole vom „Staatsversagen“ betreibt vor allem Rechtsaußen Kampagnen. Das Gegenteil stimmt: Wir erleben gerade einen sehr aktiven Staat – und das ist genau die richtige Herangehensweise in Zeiten des Umbruchs. Viele große Themen werden angepackt: Krankenhausreform, Fachkräftezuwanderung, Energiewende – um nur einige Beispiele zu nennen. Alle politischen Ebenen – Bund, Länder und Kommunen – stellen sich den großen Herausforderungen. Zu viel politische Aufmerksamkeit hingegen führt zu Überregulierung. Nicht erst durch neue Umweltgesetze ist die Regelungsdichte in Deutschland gestiegen, denn jede Legislaturperiode bringt bis zu 600 neue Gesetze hervor. Verlangt der Staat mittlerweile zu viel von Verwaltung, Wirtschaft und Bevölkerung? Gerade bei den Themen Klima und Umwelt gibt es eine große Einsicht in der Gesellschaft, mehr tun zu müssen als früher. Aber völlig außer Frage steht, dass wir in vielen Bereichen sehr viel schneller und unkomplizierter werden müssen. Verfahren müssen einfacher werden und zudem bürgernäher, was heutzutage in vielen Fällen auch digitaler heißt. Die Ampelkoalition hat sich Ende März auf das Planungsbeschleunigungsgesetz geeinigt, das vor allem große Infrastrukturvorhaben beschleunigen soll. Was bedeutet das für die Mitspracherechte der Bundesländer und für die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger? 10 FOKUS dbb magazin | September 2023
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