dbb magazin 9/2023

Prof. Dr. Claus Leggewie, Justus-Liebig-Universität Gießen Die globale Auseinandersetzung zwischen Demokratie und Autokratie findet jetzt statt Woran kann man eine gute Demokratie messen und woran muss sie sich messen lassen? Jedenfalls nicht an den zufälligen Umfragen, die subjektive Unzufriedenheit mit „der“ Demokratie kundtun, ziemlich oberflächlich sind und einen öden Demokratiefrust verbreiten. Allgemein kann man zwei Dimensionen der Demokratie bewerten, die ihre Legitimität, ihre Glaubwürdigkeit begründen: den Output im Sinne ihrer Leistungsfähigkeit – oder wie Helmut Kohl es ausgedrückt hat: Wichtig ist, was hinten rauskommt ... – und den Input im Blick auf die Beteiligungsintensität der Bürgerinnen und Bürger. Demokratiemessung ist ein wichtiges, kaum bekanntes Gebiet der vergleichenden empirischen Politikwissenschaft, die zu aussagekräftigen Rankings verarbeitet wird. Der Freedom-House-­ Index bewertet demokratische Freiheit anhand der Stärke der politischen Rechte und bürgerlichen Freiheiten auf einer Skala von 0 bis 100. Am meisten „frei“ ist nach aktuellem Stand Norwegen mit 100 Rohpunkten, „teilweise frei“ zum Beispiel Senegal mit 68 Rohpunkten und „nicht frei“ das Land Syrien mit einer Punktzahl von 1. Deutschland hat 94 Punkte. Der umfassendere Democracy Index der Economist Intelligence Unit untersucht fünf Kerndimensionen der Demokratie: Wahlprozess und Pluralismus, Funktionieren der Regierung, politische Beteiligung, politische Kultur und bürgerliche Freiheiten, auf einer Skala von 0 bis 10 mit den vier Stufen full democracy, flawed democracy, hybrid regime und authoritarian regime. Der Polity-Index erweitert diese Skala von -10 bis 10, wobei -10 für maximale Autokratie und der Wert 10 für maximale Demokratie steht. Es gibt noch weitere und detailliertere Indices. Demokratie ist weit mehr, als Mehrheiten in allgemeinen, freien, geheimen, gleichen und fairen Wahlen zu bestimmen. Dazu gehören wesentlich die Teilung der Gewalten, eine freie Presse, Kunst und Wissenschaft sowie ein funktionierender Rechtsstaat mit unabhängigen Gerichten. Erst Staaten, in denen die Regierung mehrfach friedlich gewechselt hat, können als demokratisch bezeichnet werden. Man darf nicht vergessen, dass Demokratie nicht nur eine Herrschaftsform des Volkes für das Volk ist, sondern auch eine Lebensform. Nach einem Zuwachs an Demokratien zwischen 1945 und 2000 ist die Entwicklung jetzt stark rückläufig, auch in „neuen Demokratien“ wie Ungarn oder Tunesien und „klassischen Demokratien“ wie den Vereinigten Staaten. Das demokratische Grundprinzip des Kompromisses scheint in Teilen der Gesellschaft nicht mehr gefragt zu sein, der Erfolg populistischer Tendenzen geht mittlerweile über den Status eines Warnsignals hinaus. Hat die schweigende Mehrheit vergessen, dass sie für den Erhalt der Demokratie kämpfen muss? Ganz offensichtlich hat sie das vergessen. Wenn „Demokratien sterben“, wie es jetzt oft heißt, dann liegt das zum einen am zunehmenden Druck autoritärer Ideen und Bewegungen, zum anderen aber an der Apathie der Demokraten, die wenig oder nichts für die Gesundheit der Demokratie tun. Populisten disqualifizieren den Kompromiss, weil sie selbst politikunfähig sind; ihr Anhang verurteilt Kompromisse – das Lebenselixier von Demokratien! –, auch wenn sie ihnen ständig zugutekommen und sie ihn privat ständig praktizieren. Kompromisse machen heißt: Zeit kaufen, bis allgemeinverbindliche Lösungen zustande kommen. Der Last Generation dauert das zu lange, und die Physik des Klimawandels und die Biochemie des Artensterbens duldet tatsächlich kein „auf die lange Bank schieben“. Aber es ist ein Irrtum zu glauben, Autokratien seien schneller und besser. Wer mit Populisten spricht, wertet möglicherweise ihre Standpunkte auf. Wer nicht mit ihnen spricht, bestärkt sie in ihrer Opferrolle. Wie können demokratische Parteien diesen Widerspruch auflösen? © Christian Lue/Unsplash.com NACHGEFRAGT 22 FOKUS dbb magazin | September 2023

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