REPORTAGE Alltag im Maßregelvollzug Klinik mit begrenzter Freiheit Straftäter therapieren, die nicht schuldfähig sind, und die Gesellschaft vor ihnen schützen – das sind die Aufgaben des Maßregelvollzugs. Aus der Klinik im niedersächsischen Moringen sind nach 15 Jahren etwa 90 Prozent aller Patienten wieder entlassen. Doch bis dahin ist es oft ein weiter, steiniger Weg. Station 2, Überwachungsraum: Mehrere Monitore, der linke in der oberen Reihe zeigt das Isolierzimmer, gleich nebenan. Ein Mann ist zu sehen, er trägt nur Boxershorts, sein T-Shirt hat er ausgezogen. Er stellt die schwere Matratze auf, zögert kurz, dann lässt er sie mit voller Wucht gegen die verschlossene Tür krachen. Der Schall hallt durch den Flur. Eigentlich gibt es in dem Raum noch einen Sitzwürfel. Aber den haben die Pflegekräfte weggenommen, weil der Mann ihn benutzt hat, um die Kamera an der Decke mit seinen Exkrementen zu beschmieren. Sechs Personen müssen dabei sein, wenn er geduscht wird, der Mann ist gefährlich. Und vor allem ist er psychisch krank, schwer krank. Im Maßregelvollzug im niedersächsischen Moringen bekommt er Hilfe. Station 2 ist die Krisen- und Aufnahmestation. Patienten statt Häftlinge, Pflegekräfte statt Justizbeamte, Patientenzimmer statt Zellen: Der Maßregelvollzug ist eine Klinik, kein Gefängnis, auch wenn es durchaus Parallelen gibt. Raus darf nämlich niemand. Wer hier untergebracht ist, hat schwere Straftaten begangen, andere Menschen verletzt, in vielen Fällen auch getötet. Aber das eben im Zustand der verminderten Schuldfähigkeit oder Schuldunfähigkeit. Ob jemand in den Maßregelvollzug kommt, entscheiden Gerichte in sogenannten Sicherungsverfahren, in denen es nicht um ein Strafmaß geht. Nach § 63 Strafgesetzbuch können sie die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus anordnen, nach § 64 die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt. Das Ziel: die Gesellschaft vor psychisch kranken Täterinnen und Tätern schützen – aber auch zu therapieren, im Idealfall zu resozialisieren. Vertrauen als Therapiegrundlage Moringen liegt nördlich von Göttingen, von dort aus führen Landstraßen an Kornfeldern vorbei in die Kleinstadt. Bei gutem Wetter lässt sich im Osten der Brocken am Horizont erkennen, der Harz ist nicht weit. Durchs Stadtzentrum bahnt sich die Lange Straße, rechts und links Fachwerkhäuser, einige mit Schieferplatten verkleidet. Über die Gartenstraße geht es zur Klinik, eine meterhohe Hecke umringt das Gelände. Von dem Zaun und Stacheldraht in ihrem Inneren ist nichts zu sehen, so dicht ist das grüne Gestrüpp, das eher unscheinbar daherkommt. Nur das mächtige Eingangstor zeugt davon, dass hier nicht jeder beliebig ein- und ausgehen darf. Hinter der Hecke, hinter dem Tor, befindet sich der Arbeitsplatz von Annette Doehring. Doehring ist seit 2015 im Maßregelvollzug beschäftigt, wo sie auch ihre Ausbildung gemacht hat. Sie trägt dunkle Jeans und eine geblümte, rosafarbene Bluse. Die Alltagskleidung ist ihre Dienstkleidung, wie bei allen Pflegekräften in Moringen. „Wenn die Patienten bei uns ankommen, klatschen sie meistens hart auf, © Christoph Dierking (11) 24 FOKUS dbb magazin | September 2023
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