Personalmangel im Maßregelvollzug „Wir füllen Lücken mit Lücken“ Hoher Krankenstand, viele Pflegekräfte gehen in Rente, zu wenig Nachwuchs: „Das bleibt nicht ohne Folgen“, mahnt Jens Schnepel, Vorsitzender der Gewerkschaft für das Gesundheitswesen (GeNi). „Die Lage im Maßregelvollzug ist dramatisch.“ Manchmal müssen sich drei Pflegekräfte auf einer Aufnahme- und Krisenstation im Maßregelvollzug Moringen um 15 Patienten kümmern – das ist absolute Minimalbesetzung, betont der Gewerkschafter. Bei Zwischenfällen sind alle schnell gebunden. „Oder es sind Sitzwachen erforderlich, andere Stationen bitten um Unterstützung oder die Kolleginnen und Kollegen müssen mal zur Toilette“ – es sei extrem schwierig, die verfügbaren Kapazitäten zu koordinieren. „Wir füllen Lücken mit Lücken.“ Erschwerend kommt hinzu: „Der Belegungsdruck ist enorm, wir müssen immer mehr neue Patienten unterbringen.“ Inzwischen hat sich der Maßregelvollzug beruflich auch für Quereinsteiger geöffnet. Auf den Stationen arbeiten beispielsweise ein ehemaliger Metzgermeister und ein gelernter Tierpfleger. Walter Müller, der Verwaltungsdirektor der Klinik, sieht sich mit zahlreichen Herausforderungen konfrontiert: „Generell ist die Pflegebranche stigmatisiert, der Wettbewerb um die verfüg- baren Kräfte auf dem Markt ist hart.“ Im Gegensatz zu früher bestehe insbesondere bei der jungen Generation eine hohe Bereitschaft, den Arbeitgeber zu wechseln. „Die Fluktuation ist massiv gestiegen.“ Der Maßregelvollzug in Moringen bildet selbst Nachwuchskräfte aus, insgesamt gibt es drei Jahrgänge mit jeweils 18 Plätzen. „Grob gesagt beenden pro Jahrgang zwölf die Ausbildung, zwischen sechs und acht bleiben bei uns“, berichtet Müller. „Das ist zu wenig. Wir müssen Gas geben, um als Arbeitgeber attraktiv zu sein.“ Was Gas geben genau bedeutet? Der Verwaltungsdirektor nennt viele Aspekte: Teilzeit ermöglichen, Wünsche nach bestimmten Einsatzorten berücksichtigen, das Image der Pflegebranche insgesamt verbessern. Auch der Lohn sei eine entscheidende Stellschraube, ergänzt Jens Schnepel. Dienste zu unliebsamen Zeiten besser bezahlen, das könnte vielen ein merkbares Plus in die Tasche bringen. „Wo man gut mit Leuten umgeht, bekommt man gute Leute.“ In Hinblick auf die im Herbst anstehenden Länder-Tarifverhandlungen fordert der Gewerkschafter die niedersächsische Landesregierung auf, die Pflegezulage für die Beschäftigten im Maßregelvollzug im Tarifvertrag zu verankern. Diese wird aktuell auf Grundlage einer Verordnung gezahlt, welche die Politik im Prinzip jederzeit wieder kippen könnte. Ein weiterer Punkt: „Nicht immer kommt die Vollzugszulage bei den Beschäftigten an“ – das könne nicht sein. All diese Forderungen können dazu beitragen, den Maßregelvollzug als Arbeitgeber attraktiver zu machen. „Die Politik muss jetzt unbedingt handeln.“ „Generell ist die Pflegebranche stigmatisiert, der Wettbewerb um die verfügbaren Kräfte auf dem Markt ist hart.“ Walter Müller Gefahr ausgeht“, betont der Ärztliche Direktor. „Zehn Prozent aller Patienten sterben im Maßregelvollzug.“ Zurück auf Station 6: Menschen auf ihrem Weg zurück in die Gesellschaft begleiten, das ist es, was Annette Doehring antreibt. „Das Schönste ist, wenn wir Fortschritte sehen“, sagt die Stationsleiterin. Gerade hat sie ein Gespräch mit einem Patienten geführt, der lange als einer der gefährlichsten im Haus galt. Inzwischen hat er die Krisenstation verlassen. „Frau Doehring, es ist gut, dass Sie hier sind“, habe er gesagt. Ihre Antwort: „Ich finde es auch gut, dass Sie jetzt bei mir auf der Station sind. Sonst hätten wir uns gar nicht kennengelernt.“ Manchmal rufen auch ehemalige Patienten und Patientinnen auf der Station an. Sie sagen, dass es ihnen gut geht, erzählen von ihrem Alltag, bedanken sich. Unter ihnen auch eine Frau, die sich regelmäßig meldet und heute ein geregeltes Leben jenseits der meterhohen Hecke führt. Doehring kann sich noch gut an ihre ersten Wochen in der Klinik erinnern. Der Umgang war sehr schwierig, sie musste viele Stunden im Isolierzimmer verbringen. Wie der Mann, der gerade auf Station 2 immer wieder die Matratze gegen die Tür krachen lässt. cdi Im Gespräch über Arbeitsbedingungen: Pflegerin Annette Doehring und Gewerkschafter Jens Schnepel. FOKUS 29 dbb magazin | September 2023
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