dbb magazin 10/2023

TARIFE Tarifpolitik Konflikte werden ruppiger Die anhaltend hohe Inflationsrate und der Fachkräftemangel färben auf die Stimmung auf dem Arbeitsmarkt ab. Die bereits ausgefochtenen Tarifauseinandersetzungen im ersten Halbjahr 2023 haben hohes Konfliktpotenzial mitgebracht. Für die kommenden Einkommensrunden verschiedener Branchen prognostiziert das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) ebenfalls raue Auseinandersetzungen. Das geht aus dem aktuellen Tarifpolitischen Bericht des IW hervor, in dessen Rahmen das Institut wich- tige Branchen einem Konfliktmonitoring unterzieht. In 13 davon haben im ersten Halbjahr 2023 Tarifverhandlungen stattgefunden, unter anderem im öffentlichen Dienst, im Einzelhandel, im Groß- und Außenhandel, bei der Deutschen Post und bei der Deutschen Bahn. Viele der Tarifkonflikte seien stärker eskaliert als gewöhnlich. Während die Eskalationen in Tarifverhandlungen oft beim Warnstreik enden, haben sich einige Konflikte aber weiter zugespitzt: Es gab Urabstimmungen bei Post und Bahn, Schlichtungen bei der Bahn und im öffentlichen Dienst sowie juristische Auseinandersetzungen bei der Bahn und in der Süßwarenindustrie. „Im Durchschnitt fielen je Konflikt 14,4 Konfliktpunkte an. Das ist der höchste Wert seit 2015, als 17,8 Punkte anfielen. Im Vorjahr waren es lediglich 5,1 Punkte“, schreibt Dr. Hagen Lesch, Leiter des Clusters Arbeitswelt und Tarifpolitik beim IW. Die Konfliktpunkte berechnet das IW anhand der in Tarifverhandlungen üblichen Konflikthandlungen beziehungsweise Eskalationsformen, die sich aus einer Eskalationspyramide ergeben. Die Skala reicht von Aufnahme von Tarifverhandlungen (0 Punkte) über Streikankündigung (3 Punkte) und Warnstreik (4 Punkte) bis hin zu Arbeitskampf mit Streik und Aussperrung (7 Punkte). Am ruppigsten sei es zwischen der Eisenbahnergewerkschaft EVG und der Deutschen Bahn zugegangen. Dort hätten sich die verschiedenen Konflikthandlungen bis Ende Juni 2023 auf insgesamt 33 Punkte summiert, bevor sich die Streitparteien auf eine Schlichtung geeinigt haben. Bezüglich der Einkommensrunde für die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes des Bundes und der Kommunen errechnet das IW 29 Punkte, für die Papier verarbeitende Industrie 22 und für den Einzel- sowie Groß- und Außenhandel jeweils 21 Punkte. Harmonisch geblieben seien dagegen die Verhandlungen bei den Fluggesellschaften: „Bei der Lufthansa galt im Tarifkonflikt mit den Piloten allerdings noch bis zum 30. Juni eine Friedenspflicht. Bis dahin gab es lediglich eine Drohung des Unternehmens, die Flotte im Mutterkonzern zu reduzieren, wenn die Kosten nicht gesenkt würden. Auch die LufthansaTochter Eurowings verhandelt mit den Piloten. Hier gab es im ersten Halbjahr keine Eskalation. Bei Verhandlungen zwischen Eurowings und dem Kabinenpersonal gab es bislang drei Konfliktpunkte“, heißt es auf der Internetseite zum Tarifpolitischen Bericht. Angesichts der anhaltenden Inflation seien die Lohnforderungen der Gewerkschaften zuletzt stetig angestiegen. Vielfach werde ein Mindestbetrag gefordert, um kleinere Einkommen, die unter der Inflation am meisten leiden, überdurchschnittlich anzuheben. „Die hohen Forderungen belasten die Tarifverhandlungen, da auch viele Unternehmen mit den Folgen der Inflation kämpfen und von ihren Arbeitgeberverbänden keine zu große Konzessionsbereitschaft erwarten“, resümiert Lesch. Ein zentrales Instrument der Kompromissfindung sei die im Zuge der konzertierten Aktion gegen den Preisdruck von der Bundesregierung angebotene steuer- und sozialabgabenfreie Inflationsausgleichsprämie gewesen. „Angesichts der in den letzten drei Jahren entstandenen Reallohnverluste und dem Arbeits- und Fachkräftemangel wird sich der Verteilungskonflikt wohl weiter verschärfen“, ist Lesch überzeugt. Im Fazit zur Erhebung kommen die Studienautoren Hagen Lesch und Lennart Eckle zu dem Schluss: „Der Fokus wird auf den im Herbst beginnenden Verhandlungen im öffentlichen Dienst der Länder und für die Zugbegleiter der Deutschen Bahn liegen, für die die GDL verhandelt. ver.di hat bereits angekündigt, dass die Bundestarifkommission der Gewerkschaft die Forderungen für den öffentlichen Dienst der Länder am 11. Oktober beschließen wird. Die Termine für die ersten drei Verhandlungsrunden stehen bereits fest. [...] Die Verhandlungen mit der GDL dürften nicht zuletzt deshalb schwierig werden, weil die Gewerkschaft im Bereich der Arbeitnehmerüberlassung nicht nur bessere Arbeitsbedingungen durchsetzen, sondern dazu auch eine neue Genossenschaft ,Fair Train‘ gründen will.“ ■ Der IW-Report Nr. 38, Tarifpolitischer Bericht 1. Halbjahr 2023, „Inflation facht Tarifkonflikte an“ im Download: t1p.de/IW-Report Webtipp © Daniela Mortara AKTUELL 5 dbb magazin | Oktober 2023

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