MEINUNG Verwaltungskultur Das Undenkbare denken: mehr Flexibilität! Es ist ja immer ein bisschen gewagt, Mutmaßungen über die Zukunft anzustellen. Aber bei der folgenden Prophezeiung kann man sicher sein, dass sie eintreten wird: Wir werden die deutschen Behörden in wenigen Jahren nicht mehr wiedererkennen. Nichts wird mehr so sein, wie es heute ist. Das lässt sich allein an den Zahlen ablesen, die unveränderlich sind – anders als die Konsequenzen, die man daraus zieht. Die Beratungsgesellschaft PricewaterhouseCoopers (PwC) hat 2022 eine Studie vorgelegt, deren Zahlen einem den Atem stocken lassen. Bis zum Jahr 2030 werden im öffentlichen Sektor eine Million Fachkräfte fehlen. Das würde bedeuten, dass jede fünfte Stelle unbesetzt bliebe – und das überall, auch in den Bereichen Gesundheit, Bildung und Sicherheit. Das liegt an einer Entwicklung, die sich seit Jahren abzeichnet, aber selbst in der freien Wirtschaft kaum in den Griff zu kriegen ist. Die Boomer treten ab und es kommen nicht genügend junge Menschen nach, um ihre Jobs zu übernehmen. Bei der Vorstellung der Studie sagte einer der Co-Autoren, dass durch die Entwicklung fraglich sei, ob der Staat in Zukunft überhaupt noch seine Kernaufgaben erfüllen kann. Es gab ein kurzes Aufhorchen, dann benötigten andere Krisen die öffentliche Aufmerksamkeit. Dabei ist der Horror schon Realität: Aktuell sind 360 000 Stellen unbesetzt. Diese Zahl sollte vielleicht noch mehr erschrecken, denn sie zeigt, dass der öffentliche Dienst längst nicht mehr der attraktive Arbeitgeber ist, der er in früheren Zeiten mal gewesen sein mag. Einen sicheren Job bekommen junge Leute heute auch in der freien Wirtschaft. Wenn sie ihn denn wollen, denn viele Untersuchungen zeigen, dass jüngere Beschäftigte eher von Job zu Job springen, wenn sie sich davon Verbesserungen versprechen. Keine gute Ausgangslage für einen Arbeitgeber, dessen Kernkompetenz von jeher die Beständigkeit war. Der Begriff mag derzeit oft strapaziert werden, aber der öffentliche Dienst steht vor einer Zeitenwende. Will er bestehen – und das muss er –, dann wird er sich auf eine Art und Weise öffnen müssen, die bisher undenkbar war. Quereinsteiger wird es bald nicht nur in den Schulen geben. Gleichzeitig wird es in den deutschen Amtstuben in den nächsten Jahren auch ethnisch diverser werden. Womöglich wird es nicht bei der Amtssprache Deutsch bleiben. Unverzichtbarer Dreh- und Angelpunkt wird jedoch eine konsequente Digitalisierung sein. Das ist natürlich schon oft gefordert worden. Nun könnte es aber für den öffentlichen Dienst überlebenswichtig werden. Und dabei wird dann bisher Undenkbares nicht nur möglich, sondern unverzichtbar sein: Schnelligkeit vor Perfektion, Denken in Projekten statt Hierarchien, eine neue Fehlerkultur. Und – jetzt bitte nicht erschrecken – liebe Beamtinnen und Beamte: ein hohes Maß an Flexibilität. Das ist jetzt übrigens auch schon gelebte Praxis, jedenfalls teilweise. Im Bürgeramt Neukölln etwa. Dort musste im vergangenen Jahr der Reisepass eines Minderjährigen verlängert werden und das binnen Stunden. Für den Termin vor Ort musste die Mutter einen halben Tag freinehmen, das Kind wurde für zwei Stunden aus der Schule genommen. Die Anreise durch die halbe Hauptstadt nahm schon einen Großteil der Zeit in Anspruch. Das wohnungsnahe Bürgeramt hatte auf Wochen keinen Termin anbieten können. Nun saßen beide vor dem Sachbearbeiter, der auf den ersten Blick nicht viel älter wirkte als der Jugendliche, dessen Reisepass zur Unzeit abgelaufen war. Was fehlte, war die Unterschrift des Vaters, die aber unverzichtbar war. Schon stand als einzige Alternative ein neuer Termin im Raum und die Stimmung merklich auf der Kippe. Dann erklärte der junge Mann hinter dem Schreibtisch, er würde „mal was versuchen“ und begann im Computer zur recherchieren. Wenig später meldete er Vollzug, die Unterschrift des Vaters hatte sich auf einem anderen Formular in einem anderen Amt gefunden, der Pass konnte beantragt werden. Das Happy End überlagerte die Frage, ob ein weniger computeraffiner Mitarbeiter die gleiche Lösung gefunden hätte – und warum die ganze Angelegenheit nicht von vornherein online beantragt werden konnte. All das könnte sich regeln lassen – wenn der junge Mann hoffentlich in eine Führungsposition aufgestiegen ist. Christine Dankbar ... Christine Dankbar leitet das Ressort Politik bei der Frankfurter Rundschau. Die Autorin ... © Creative Commons CC0 FOKUS 13 dbb magazin | November 2023
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