dbb magazin 1-2/2024

legen dürfen“, erläuterte Silberbach. Gegen die ausgesprochenen Disziplinarmaßnahmen waren die Lehrkräfte erfolglos durch alle Instanzen gegangen. „Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2018 bleibt damit wegweisend.“ Matthias Pechstein, der den dbb auch vor dem Bundesverfassungsgericht vertreten hatte, bewertete dieses Verfahren als eine „konstruktive und positive Grundlagenentscheidung zu Wesen, Struktur und besonderen Merkmalen des Berufsbeamtentums auf nationaler und europäischer Ebene.“ Dass der Fall nach dem Scheitern vor den nationalen Gerichten vor dem EGMR landen würde, hielt er damals für wahrscheinlich. Im Gegensatz dazu war nach der mündlichen Verhandlung am 1. März 2023 in Straßburg vollkommen unklar, wie es ausgehen würde. Doch dies zeichne eine gute Verhandlung aus, erklärte Pechstein. Über den Verlauf, insbesondere die Haltung der Bundesregierung, zeigte er sich wie Silberbach erfreut: „Die Stellungnahme der Bundesregierung war herausragend. Dass der dbb eine ähnliche Stellungnahme abgegeben hatte, zeigte, dass dbb und Bundesregierung an einem Strang ziehen.“ Am Ende wurden sogar Passagen aus der Stellungnahme in das Urteil übernommen. „Der EGMR ist sehr tief in die Gesetzeslage eingestiegen“, berichtete Pechstein. „Er hat es an die Große Kammer weitergegeben, was bedeutet, dass er das Thema ernst genommen hat.“ Der Kontext macht den Unterschied Pechstein hob als zentralen Punkt des Urteils die Kontextualität hervor: „Der EGMR hat die Individualbeschwerden und die darüber hinausgehenden Stellungnahmen im Kontext der nationalen Rechtsordnung gesehen und die entsprechenden Rückschlüsse gezogen.“ Das bedeute, dass die Rechtmäßigkeit von Beamtenstreiks in jedem Land anders ausgelegt werde. So hatte der EGMR das Streikverbot für Beamtinnen und Beamte in der Türkei 2009 als nicht mit der EMRK vereinbar bezeichnet. Dies wurde von der Gegenseite als Präzedenz für die Unrechtmäßigkeit des Streikverbots herangezogen. Der EGMR habe mit dem jetzigen Urteil jedoch festgestellt, „dass die Stellung der türkischen Beamten eine vollkommen andere ist als die der deutschen“, erklärte Pechstein. Es sei Anliegen des dbb gewesen, dass die Bewertung stets im Kontext der jeweiligen nationalen Gesetzeslage stattfinde. Im Zuge des Verfahrens hatte der EGMR festgestellt, dass in Deutschland ein statusbezogenes Streikrecht gelte und nicht ein funktionsbezogenes. Straßburg könne deutsches Recht allerdings nicht aufheben, da es unter dem Grundgesetz stehe, betonte Pechstein. Die Urteile der EGMR haben viel mehr eine Orientierungswirkung. „Jeder Staat sollte sich aus Eigeninteresse die Urteile anschauen und sich fragen, ob das Urteil mit der Rechtslage bei sich vergleichbar ist, und sich gegebenenfalls beeilen, die Lage anzupassen.“ Scharfe Worte fand er für die Gegenseite: „Es hat sich als fadenscheiniger Unsinn entpuppt, dass die GEW scheinheilig behauptete, sie müsste die Beamten, ‚die autoritär von ihren Dienstherren geknechtet werden, befreien‘. Die Arbeitgebenden kontrollieren ihre Beschäftigten nicht autoritär. Wir haben schlicht eine Situation, die das Streikrecht überflüssig macht.“ Beamtinnen und Beamte haben über den Gerichtsweg eine Möglichkeit, für ihre Arbeitsbedingungen und die Besoldung einzustehen. „Tatsache ist, dass Beamtinnen und Beamte eine angemessene Besoldung in Gerichtsverfahren einklagen können“, erklärte Pechstein. Beamtinnen und Beamte dürften nicht streiken, könnten aber klagen. „Das müssen sie dann aber auch tun“, machte Pechstein deutlich. Kein Raum für politische Interpretationen Silberbach pflichtete Pechstein in der Einschätzung bei, dass es im Bereich des öffentlichen Dienstes Gewerkschaften gebe, die offenbar Schwierigkeiten mit dem Berufsbeamtentum hätten. „Für den Beamtenbund ist der Beamtenstatus ein unverzichtbarer Eckpfeiler unseres Staatswesens. Die Bundesrepublik ist zum Beispiel nur so gut durch die Coronakrise gekommen, weil es ein Berufsbeamtentum mit Streikverbot gibt und damit alle wichtigen staatlichen Aufgaben im Krisenfall ohne Wenn und Aber erfüllt werden.“ Weil der dbb mehr als die Hälfte der Beamtinnen und Beamten in Deutschland vertrete und dieser Verantwortung gerecht werden wolle, habe er für den Prozess vor dem EGMR erfolgreich die Drittbeteiligung angestrebt und eine entsprechende Stellungnahme abgegeben. „Auf der anderen Seite vertritt der dbb aber auch die Interessen von rund 400 000 Tarifbeschäftigten, die für das Funktionieren des Staates genauso wichtig sind und für deren Streikrecht wir nachdrücklich eintreten. Was wir gerade feststellen, ist eine politisch motivierte Diskussion über das Streikrecht, die zum Teil schon verfangen hat, frei nach dem Argument: Wenn der Staat den Beamten verfassungsrechtlich garantierte Bestandteile ihrer Dienst- und Treuepflicht, etwa die amtsangemessene Alimentation, nicht einwandfrei und umfänglich gewährt, müsse im Gegenzug über ein Streikrecht für Beamte nachgedacht werden. Ich teile derartige Überlegungen nicht und erwarte von den Dienstherren, dass sie mit beiden Beinen auf dem Grund der Verfassung stehen. Dann erübrigen sich Diskussionen um das Streikrecht für Beamte von selbst.“ Die rechtlich eher traditionelle Auffassung vom Berufsbeamtentum widerspräche dabei keineswegs dem Modernisierungsgedanken. „Im Gegenteil ist die Fortentwicklung gängige Praxis, und der dbb arbeitet konsequent daran mit, die Attraktivität des Beamtenstatus für Nachwuchskräfte zu steigern und an sich wandelnde gesellschaftliche Gegebenheiten anzupassen. Hier muss der öffentliche Dienst flexibler werden, denn der Arbeitsmarkt hat sich gewandelt und mit ihm die Auffassungen junger Leute von Work-Life-Balance.“ Leider fehle es aktuell an einem wichtigen Modernisierungspartner, denn „das zuständige Bundesministerium des Innern bewegt sich in der Sache gerade leider zu wenig. Ich hoffe, das BMI macht sich bald wieder mit uns auf den Weg, über entsprechende Konzepte zu reden.“ Mit Blick auf den aktuellen Konflikt der dbb Gewerkschaft GDL mit der Bahn verteidigte Silberbach, dass die Lokführer von ihrem Streikrecht Gebrauch machen, und konstatierte, dass das Berufsbeamtentum bei der Bahn seinerzeit bewusst abgeschafft worden sei. „Ein Schritt, vor dem der dbb gewarnt hat. Dadurch wurde ohne Not ein streikgefährdeter Bereich in der Infrastruktur geschaffen.“ Eine erneute Verbeamtung von Lokführerinnen und Lokführern würde der dbb Chef zwar begrüßen, „ich sehe aber nicht, dass das auf absehbare Zeit passiert“. dsc, br „Der EGMR ist sehr tief in die Gesetzeslage eingestiegen und hat das Thema ernst genommen.“ Matthias Pechstein INTERN 31 dbb magazin | Januar/Februar 2024

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