dbb magazin 4/2024

nicht nur gesellschaftliche Ungerechtigkeiten. Auch müsse die Verwaltung plötzlich wirtschaftliche Aufgaben übernehmen, über die sie gar keine Kenntnisse hat. „Ordnungsrecht und Finanzrecht entflechten, Handlungsmaßstäbe klarmachen, weniger Rechte verkaufen“, schlug Kirchhof als Lösung vor. Plädoyer für ein neues Risikobewusstsein Kirchhof kritisierte darüber hinaus, dass es für Bürgerinnen und Bürger immer schwieriger werde, Entscheidungen auf dem aktuellen rechtlichen Stand zu treffen: Die Regelungsdichte erhöhe sich in immer schnellerer Frequenz, während der Staat dazu neige, Risiken aus neu geschaffenen Gesetzen und Verordnungen auf Bürger und Wirtschaft abzuwälzen – Beispiel Heizungsgesetz. Stattdessen brauche es ein neues Risikobewusstsein in der Gesellschaft. Für Ungewissheiten sollten die Verursacher derselben haften. Im Zuge all dieser Entwicklungen hätten Beamtinnen und Beamte immer mehr Leistungen zu erbringen, die sie nicht erfüllen könnten. Als Beispiel nannte der Jurist die Asylbehörden. Sie müssten prüfen, ob jemand im Heimatland politisch verfolgt sei – eine Aufgabe, die weit über ihre eigentliche Verwaltungsarbeit hinausgehe und die gewissermaßen nicht leistbar sei. Ähnlich betroffen seien Pflegekräfte, die bis zu 50 Prozent ihrer Arbeitszeit für Bürokratie aufwenden müssten. Für die Zukunft gab Kirchhof zehn Impulse zum Bürokratieabbau, darunter die Vorgabe, für jede neue Norm zwei gleichwertige entfallen zu lassen, Bonussysteme für effiziente Verwaltungsarbeit einzuführen und Lösungen nicht an deren Perfektionsgrad, sondern an rechtlicher Praktikabilität zu messen. Der dbb solle in einem Jahrestreffen mit der Bundesregierung „jeweils drei Maßnahmen erarbeiten, wie sich die Attraktivität des Beamtenberufs steigern lässt“. Ein weiterer Vorschlag: „In keinem Sachgebiet darf es mehr Normen geben, als sich der Sachgebietsleiter merken kann.“ Steffen Kampeter, Geschäftsführer der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, verglich Bürokratie in der anschließenden Diskussion mit dem Reich Lilliput aus Jonathan Swifts Roman „Gullivers Reisen“: Die deutsche Wirtschaft, repräsentiert durch Gulliver, werde von der Bürokratie, repräsentiert durch die vielen kleinen Seile der Zwerge, am Boden gehalten. Diese Seile gelte es zu lösen. Dazu sei eine „Revolution gegen den bürokratischen Overkill“ notwendig. Die Verwaltung brauche mehr Mut zur Pauschalisierung, statt immer neue Einzelfallregelungen. Gesetze sollten zudem nicht automatisch verlängert, sondern beim Auslaufen daraufhin überprüft werden, ob eine Verlängerung überhaupt sinnvoll ist. Ambitionsweltmeister Deutschland Kampeter stellte klar, dass „Deregulierung nicht Personalabbau bedeutet“, denn Personal sei in Wirtschaft und Verwaltung gleichermaßen knapp. Problematisch sei in diesem Zusammenhang, dass die Bundesregierung sich zu viele Ziele setze, deren Implementierung Personal binde und bei denen erst in der Umsetzung auffalle, dass sie gar nicht erfüllbar seien. „Die Politik ist Ambitionsweltmeister – mit oft amateurhafter Umsetzung.“ Großes Potenzial für die Produktivitätssteigerung sah Kampeter in generativer KI: „Wir sollten vorurteilsfrei an diese Technologie herangehen und ihre Chancen nutzen, statt Ängste zu schüren.“ Die letztinstanzliche Entscheidung müsse aber weiterhin beim Menschen liegen. Dorothea Störr-Ritter, Juristin, Landrätin a. D. und Mitglied des Nationalen Normenkontrollrates, plädierte dafür, die Kommunen von Bürokratie zu entlasten. Ihrer Auffassung nach überfordere die Regelungsflut das Verwaltungspersonal und führe dazu, dass keine vernünftigen Entscheidungen mehr getroffen werden könnten. Das gehe letztlich zulasten der Bürgerinnen und Bürger. „Weniger Gesetze, die zudem nicht permanent durch neue Verwaltungsvorschriften verfeinert werden, sind bessere Gesetze“, so ihr Credo. Hier sei der Staat extrem gefragt, denn „noch mehr Komplexität können wir uns nicht leisten“. Störr-Ritter kritisierte, dass sich Bürokratieabbau zu sehr in Kleinteiligkeit verliere. Vor allem müssten Gesetze konsequent auf Vollzugsfähigkeit geprüft werden, „das würde viel Unsinn in Schwarz und Weiß verhindern“. Ebenso sei die Digitalisierungsgfähigkeit von Gesetzen und Verordnungen entscheidend für eine effiziente Verwaltung. dbb Chef Ulrich Silberbach rief die Politik dazu auf, die Angebote der Praktiker zur Entbürokratisierung anzunehmen und dabei Wirtschaft und Verwaltung gleichermaßen einzubeziehen, denn beide seien als Garanten des Wohlstandes auf praktikable Gesetze und beherrschbare Strukturen angewiesen. Kritisch werde es, wenn etwa Kontrollbehörden wie der Bundesrechnungshof von der Politik nicht mehr gehört würden oder wenn Urteile des Bundesverfassungsgerichts nur schleppend umgesetzt würden. „Das wirft nicht nur ein zweifelhaftes Licht auf den Politikstil, sondern schadet der ganzen Volkswirtschaft.“ _ „In keinem Sachgebiet darf es mehr Normen geben, als sich der Sachgebietsleiter merken kann.“ Paul Kirchhof Diskutierten Wege zum Bürokratieabbau: dbb Chef Ulrich Silberbach, Prof. Dr. Paul Kirchhof, Dorothea Störr-Ritter, Steffen Kampeter und Moderatorin Juliane Hielscher (von links). © Jan Brenner 10 AKTUELL dbb magazin | April 2024

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