EHRENAMT Versichertenberater Den Menschen die Ängste nehmen Rentenversichertenberater brauchen eine Menge Detailwissen zur Sozialgesetzgebung. Warum wollen sie Versicherte beraten und nehmen mühevolle Fortbildungen auf sich? Die älteste Beraterin und der (dienst)jüngste Berater des dbb geben Auskunft. Wer das ganze Jahr in Graal-Müritz, dem Ostseebad zwischen Rostock und der Halbinsel FischlandDarß-Zingst, wohnt, schwimmt gerne und regelmäßig im Meer. Dass Gisela Ulbricht es noch immer tut – „ich wohne ja direkt an der Ostsee“ –, erstaunt aber schon. Auch dass sie Handarbeiten liebt: Sie strickt ihren acht Enkeln und vierzehn Urenkeln zu Weihnachten Socken an die Füße. „Manche haben Schuhgröße 45. Da sitzt man ein bisschen.“ Auch dass sie gerne klöppelt – „früher waren wir eine ganze Gruppe, jetzt mache ich das für mich allein“ –, passt ins Klischee von der netten alten Dame. Dass sich Gisela Ulbricht im Dezember 2023 mit 95 Jahren erneut zur Versichertenberaterin der Deutschen Rentenversicherung Bund hat wählen lassen, passt hingegen in keine Schublade. Wer sich mit ihr über Rentenanträge unterhält, bekommt präzise und belastbare Auskünfte. Schließlich hat sie eine Menge Erfahrung sammeln können in den über 30 Jahren, die sie dieses Ehrenamt bekleidet. Umbrüche Rückblick: Bereits 61 Jahre alt ist Gisela Ulbricht, als sie 1989 nach 38 Jahren im öffentlichen Dienst der DDR, zuletzt in der Rostocker Bezirksverwaltung, in Rente geht. Kurz danach fällt die Mauer. Es ist nicht der erste Umbruch, den sie erlebt. Als Rot-KreuzSchwester versorgt die 15-jährige Handelsschülerin in den letzten Kriegsmonaten nachts am Bahnhof ihrer Heimatstadt Brandenburg an der Havel verletzte Soldaten, wechselt Verbände, verteilt Essen und Tee. Nach dem Krieg arbeitet sie zunächst weiter als Schwesternhelferin im Krankenhaus, dann als Buchhalterin bei einem Steuerberater, bei der Stadtverwaltung in Brandenburg und später im Finanzministerium der DDR in Berlin. Parallel arbeitet sie im nächtlichen Berlin als Trümmerfrau. Sie heiratet 1948, 1949 kommt ihr Sohn auf die Welt, 1954 die Tochter. Als ihr Mann 1957 versetzt wird, zieht die Familie nach Rostock. Ulbricht arbeitet beim Bauamt des Rats des Bezirkes Rostock und im Abgeordnetenkabinett. Dann geht sie, ein Jahr später als damals in der DDR üblich, in Rente. Die Wende und der Tod ihres Mannes 1991 sorgen für ihre „zweite Karriere“, wie Ulbricht sie nennt. In der großen Umbruchsituation Anfang der Neunziger entstehen Parteien und Vereine. Der dbb mecklenburg-vorpommern wird gegründet. Der BRH-Vorsitzende, der ehemalige Schuldirektor der Tochter, Dr. Reinhold Winkel, spricht Ulbricht an: „,Du musst uns helfen. Wir bauen den Beamtenbund auf. Der kämpft für Rentengerechtigkeit.‘ Damit haben die mich überredet“, erinnert sie sich. Im November 1991 müssen in den neuen Bundesländern Versichertenberater nachgewählt werden, denn vom 1. Januar 1992 an gilt mit dem Sozialgesetzbuch (SGB) VI nicht nur ein neues Rentenrecht in Deutschland. Auch die Rentenansprüche aus DDR-Zeiten werden in das bundesdeutsche Rentensystem übergeleitet. Eine hoch komplizierte Angelegenheit, die zahlreiche „Unwuchten“ – Stichwort Härtefallfonds – aufweist. Gisela Ulbricht wird Anfang November „zugewählt“, Ende November bekommt sie eine einwöchige Schulung. Vom 2. Januar 1992 an rennen die Menschen, die einfach nicht wissen, wie sie die Rentenanträge korrekt stellen sollen, ihr die Wohnung ein. „Im SV-Buch [dem grünen Sozialversicherungsausweisbüchlein der DDR] stand ja gar nicht alles drin. Zusatzrenten, Wehrpässe ehemaliger Wehrmachtssoldaten, das mussten die Leute ja alles erst besorgen.“ Sie reist zwischen Wolgast und Grevesmühlen herum und spricht auf Informationsveranstaltungen des dbb. Zu Hause berät sie im Wohnzimmer, während im Flur und selbst auf dem Balkon Menschen warten. „Alles war in Aufruhr“, beschreibt sie die Situation damals. Die Rostocker Ostsee Zeitung veröffentlicht in ihrer Rubrik Bürgermeisterin Dr. Benita Chelvier zeichnet Gisela Ulbricht aus. © Tourismus- und Kur GmbH Graal-Müritz/André Pristaff 30 INTERN dbb magazin | April 2024
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