dbb magazin Energiewende | Innovationen für Infrastrukturen Interview | Robert Habeck, Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz 18. Frauenpolitische Fachtagung | Sorgearbeit ist Leistung für die ganze Gesellschaft 5 | 2024 Zeitschrift für den öffentlichen Dienst
STARTER 14 6 TOPTHEMA Energiewende AKTUELL STANDPUNKT Ulrich Silberbach, Bundesvorsitzender des dbb: „Unsere Demokratie ist stark. Für sie kämpfen müssen wir trotzdem.“ 4 EUROPA 33. Europäischer Abend: Krieg in Europa, Demokratie in Gefahr, Europa vor der Wahl 6 Zeit, die Demokratie zu stärken 10 NACHRICHTEN Europäischer Polizeikongress: Schutz vor Gewalt geht alle an 11 INTERVIEW Robert Habeck, Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz: Die Klimakrise bewältigen wir nur gemeinsam 12 FOKUS DOSSIER Energiewende: Zwischen Ambitionen und Machbarkeit 14 Drei Fragen an Kay Scheller, Präsident des Bundesrechnungshofes: Klimaschutz ist nicht automatisch Naturschutz 17 Schieneninfrastruktur: Wie ein milliardenschwerer Investitionsstau die Verkehrswende bedroht 18 Gasnetzumbau: Die Wette auf die Zukunft 21 Daseinsvorsorge: Im Netz der kommunalen Stromversorgung 24 BEAMTE Beihilfegewährung für Bundesbeamte: Änderungen und Verbesserungen 26 INTERN FRAUEN 18. Frauenpolitische Fachtagung: Sorgearbeit ist Leistung für die ganze Gesellschaft 30 JUGEND Europawahl 2024: Wahl-Guide für alle ab 16 34 FACHKRÄFTE Führungsfokus: Arbeitsbelastung erkennen und verteilen 35 Impressum 36 KOMPAKT Gewerkschaften 44 21 Die Energiewende als Quadratur des Kreises? Die Aufgaben, die mit der Umsetzung der Energiewende einhergehen, scheinen unlösbar: Einerseits soll die Energiegewinnung grüner werden, Klima und Umwelt schützen. Anderseits wird der Energieverbrauch durch die Umsetzung der Energiewende kontinuierlich ansteigen. Das erfordert einen massiven Ausbau der Netzinfrastrukturen in Deutschland, denn Strom, Gas und Wasserstoff müssen verlässlich, flexibel und smart transportiert und verteilt werden. Selbst wenn ein schneller technischer Durchbruch bei der Kernfusion oder einer anderen neuen Energietechnologie für unerschöpfliche Energiereserven sorgen würde, wären unsere Netze heute und in nächster Zukunft nicht dafür gerüstet. Ein weiterer Schlüssel für mehr Energieeffizienz und weniger CO₂-Ausstoß ist die Schieneninfrastruktur: Jahrzehntelang kaputtgesparte Netze verlangen auch hier nach milliardenschweren Investitionen, um mehr Güterverkehr von der Straße auf die Schiene zu bringen – vom überlasteten Personenverkehr ganz zu schweigen. All das wird Energie und Mobilität in absehbarer Zeit nicht billiger, sondern teurer machen. Die Kostensteigerungen müssen Industrie und Gesellschaft gleichermaßen tragen. Die Bundesregierung wäre in diesem Zusammenhang gut beraten, auf den Bundesrechnungshof zu hören. Dessen Experten haben in ihrer neuesten Studie zur Energieversorgung die Defizite herausgearbeitet und kommen unter anderem zu dem Schluss, dass es derzeit an klarer Kommunikation bezüglich der Lasten und Kosten mangelt. br 30 © Chaitanya Tatikonda/Unsplash.com AKTUELL 3 dbb magazin | Mai 2024
STANDPUNKT Ulrich Silberbach, Bundesvorsitzender des dbb „Unsere Demokratie ist stark. Für sie kämpfen müssen wir trotzdem.“ © Andreas Pein Viele Menschen sind hinsichtlich der Erosion demokratischer Normen besorgt. dbb Chef Ulrich Silberbach ruft alle demokratischen Kräfte auf, den Dialog zu suchen und Kompromisse zu finden. Der dbb Bundesvorstand hat jüngst das Positionspapier „Demokratie stärken – Zusammenhalt fördern“ beschlossen. Was ist der Hintergrund? Der Zusammenhalt in der Gesellschaft bröckelt. Populismus und Extremismus sind auf dem Vormarsch, das spüren wir alle jeden Tag. Das gilt nicht nur für die politischen Ränder, sondern für praktisch alle Teile der Gesellschaft. Ob zwischen Regierung und Opposition, Stadt und Land oder Arbeitgebern und Gewerkschaften; ob bei Politikfeldern wie Klimaschutz, Wirtschaft oder Verkehr. Überall gilt: Unterschiedliche Positionen und ein Ringen um die beste Position gab es schon immer. Aber heute werden Konflikte immer unversöhnlicher ausgetragen. Der Kompromiss scheint in Verruf geraten zu sein, auch medial wird fast nur noch nach „Gewinnern“ und „Verlierern“ gefragt. Diese Sicht auf die Welt ist brandgefährlich, denn – wie es in der Politikwissenschaft heißt: Demokratien sterben in der Mitte. Was bedeutet das konkret? Wenn der Staat und seine Institutionen an Akzeptanz verlieren, ist das Wasser auf die Mühlen von Extremisten. Wir sehen ja aktuell in den Umfragen, dass die Menschen zunehmend bereit sind, den einfachen und damit verlockenden Parolen der Scharfmacher zu folgen. Schon bei der anstehenden Europawahl könnte das verheerende Folgen haben, denn echte Lösungen haben diese Leute ganz sicher nicht. Aber auch im Alltag spüren wir die Konsequenzen dieser Entwicklung. Rücksichtslosigkeit und Gewalt nehmen zu. Beleidigungen und „Hatespeech“ sind längst nicht mehr nur auf den digitalen Raum beschränkt. Auch körperliche Übergriffe werden mehr – gerade auf Repräsentanten des Staates, darauf weisen wir schon lange hin. Dem will sich der dbb entgegenstellen? Ich bin fest überzeugt: Unsere Demokratie ist stark. Für sie kämpfen müssen wir trotzdem. Immer wieder aufs Neue. Alle demokratischen Kräfte sind deshalb gut beraten, sich dieser Entwicklung entgegenzustellen. Den dbb und seine Mitglieder sehe ich dabei sogar in einer tragenden Rolle. Die freiheitlich-demokratische Grundordnung und das Bekenntnis zu ihr stellen schließlich die Handlungsgrundlage für unsere gewerkschaftspolitische Arbeit und ebenso für die Arbeit der Beschäftigten des öffentlichen Dienstes dar. Wir stehen gemeinsam für Pluralismus, Solidarität sowie einen respektvollen Umgang ein. Jegliche Formen von Extremismus und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit – wie Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Antisemitismus oder Antifeminismus – sowie Hass, Hetze und Gewalt haben bei uns keinen Platz. Das haben Sie aber schon früher gesagt. Brauchte es dafür ein neues Positionspapier? Es stimmt, ich habe das ähnlich schon zuvor gesagt. Aber dieser neuerliche Beschluss des dbb Bundesvorstands ist trotzdem rich4 AKTUELL dbb magazin | Mai 2024
tig. Ich habe auf die Europawahl im Sommer hingewiesen. Wir wollen rechtzeitig zuvor ein Zeichen setzen, dass jetzt nicht die Zeit für „Protestwahlen“ ist, sondern unsere Demokratie auf dem Spiel steht. Das ist beispielsweise auch die Kernaussage einer Reihe von Videobotschaften, mit der meine Kolleginnen und Kollegen aus der dbb Bundesleitung und ich in den sozialen Netzwerken zur Wahl aufrufen. In unserem Positionspapier heißt es: „Jeder und jede Einzelne trägt die Verantwortung, Haltung zu zeigen und für unsere freiheitlich-demokratischen Werte einzustehen – und zwar jetzt!“ Dieser Verantwortung wollen wir natürlich zuallererst auch selbst gerecht werden. Solche Appelle alleine sind aber keine dauerhafte Lösung, oder? Mit Sicherheit nicht. Natürlich steht die Zivilgesellschaft in der Pflicht und wir sind bereit, diese Herausforderung anzunehmen. Aber langfristig müssen selbstverständlich die Ursachen für die tiefer werdenden Gräben in der Gesellschaft bekämpft werden. Auch dazu haben wir eine klare Position, die wir mit dem Positionspapier einmal mehr unterstrichen haben: Gegen schwindendes Vertrauen in den Staat hilft eine konsequente Stärkung des öffentlichen Dienstes. Er ist Garant für rechtsstaatliche und sichere Verhältnisse und in vielfältiger Weise sowohl Dienstleister als auch Multiplikator für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Kurz: Bürokratie abbauen, Verwaltung digitalisieren, Daseinsfürsorge stärken. _ Am 23. Mai 2024 ist der Tag des Grundgesetzes. Seit dem 23. Mai 1949 regelt das Grundgesetz unser Zusammenleben. Das 75. Jubiläum des Grundgesetzes wird bundesweit mit zahlreichen Veranstaltungen gefeiert. Vom 24. bis 26. Mai 2024 wird es rund um das Bundeskanzleramt und den Deutschen Bundestag in Berlin ein großes Demokratiefest als zentrale Gedenkveranstaltung geben. Der dbb Bundesvorstand beteiligt sich mit seinem Positionspapier „Demokratie stärken – Zusammenhalt fördern“ an der gesellschaftlichen Debatte über unsere demokratischen Grundwerte: dbb.de/. Demokratie braucht Debatte Besoldung und Versorgung Die Inflationsausgleichsprämie kommt Alle Landesregierungen haben die Übertragung des Inflationsausgleichs zugesagt oder bereits durch Vorlage eines entsprechenden Landesgesetzes auf den Weg gebracht. Neben den Beamtinnen und Beamten des Bundes erhal- ten nun auch die Beamtinnen und Beamten aller Länder und Kommunen eine Inflationsausgleichsprämie von 3 000 Euro zum Ausgleich der stark gestiegenen Lebenshaltungskosten. Versorgungsempfänger und Hinterbliebene erhalten die Prämie grundsätzlich jeweils entsprechend ihrem Ruhegehalts- beziehungsweise Anteilssatz. „Dies ist nur durch die beharrliche Arbeit des dbb und seiner Landesbünde gelungen“, sagte dbb Chef Ulrich Silberbach am 20. März 2024 in Berlin. Hintergrund ist die am 15. März 2024 erzielte Tarifeinigung in Hessen, bei der unmittelbar auch die Übertragung auf die Beamtinnen und Beamten seitens der Landesregierung zugesichert wurde. Silberbach: „Dies ist ein klares Signal der Wertschätzung, aber auch der Anerkennung des Grundsatzes auf gleiche Teilhabe an der wirtschaftlichen und finanziellen Entwicklung aller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes.“ Die Zahlungen sollen oder sind bereits überwiegend mit den Bezügen März oder April für die zurückliegenden Monate erfolgt und werden zudem bis Oktober 2024 in monatlichen Raten zusätzlich zur Besoldung gewährt. Auch hinsichtlich der zum 1. November 2024 im Tarifvertrag vereinbarten Gewährung eines Sockels von 200 Euro und der zum 1. Februar 2025 vorgesehenen Linearanpassung von 5,5 Prozent haben bereits alle Dienstherren eine zeit- und systemgerechte Übertragung zugesagt und befinden sich hinsichtlich deren konkreter Ausgestaltung noch in der Abstimmung/Beratung des jeweiligen Gesetzentwurfes. Über die Einzelheiten der derzeitigen Vorhaben in allen Bundesländern informiert der dbb online: t1p.de/uebertragungstabelle. _ Model Foto: Koldunov/Colourbox.de AKTUELL 5 dbb magazin | Mai 2024
EUROPA 33. Europäischer Abend Krieg in Europa, Demokratie in Gefahr, Europa vor der Wahl Zur Europawahl am 9. Juni 2024 steht die Europäische Union vor nie dagewesenen Herausforderungen. Dem Europäischen Parlament kommt angesichts multipler Krisen und akuter Kriegsgefahren immense Bedeutung zu. Vertreterinnen und Vertreter aus Politik und Verbänden diskutierten am 9. April 2024 im dbb forum berlin über Chancen und Risiken einer Europawahl, die bestimmend für die Zukunft der EU sein kann. Hierzulande wird die Europawahl oft nur als ‚Stimmungstest‘ für nationale Wahlen gesehen. Die Beteiligung ist im Vergleich auch deutlich geringer als bei der Bundestagswahl. Das wird der tatsächlichen Bedeutung des Europäischen Parlaments schon lange nicht mehr gerecht. Zumal gerade jetzt angesichts des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine und des drohenden amerikanischen Isolationismus die Freiheit in Europa in ihrer Existenz bedroht ist“, mahnte dbb Chef Ulrich Silberbach in seinem Impuls zur Eröffnung der Veranstaltung. Besorgt zeigte sich Silberbach angesichts der hohen Umfragewerte von extremistischen Parteien. „Diejenigen, die die Europäische Union infrage stellen, erfahren Zulauf, obwohl sie teilweise nachweisbar enge Verbindungen zum russischen Aggressor aufweisen und bis heute russische Propaganda verbreiten“, sagte Silberbach und warnte: „Die Parteien, die so gerne das ‚System‘ infrage stellen, haben keine konstruktiven Lösungen für die Herausforderungen unserer Zeit zu bieten. Deshalb ist für uns als dbb klar: Es ist keine Zeit für Protestwahlen. Es ist Zeit, die Demokratie zu verteidigen.“ Demokratie unter Druck Der Druck, dem die Demokratie weltweit ausgesetzt ist, war Thema der ersten Diskussionsrunde des Abends. Hier rückten die aktuelle Situation der Ukraine und die Unterstützung durch Deutschland und die anderen EU-Staaten in den Fokus. Sophie in ’t Veld, Europaabgeordnete für Volt aus den Niederlanden, betonte angesichts des Krieges die Notwendigkeit einer europäischen Verteidigungsunion: „Seit 70 Jahren reden wir von der Verteidigungsunion. Was muss eigentlich noch passieren, bis wir das umsetzen?“ Auch Desinformation durch Russland und andere Nationen will in ’t Veld auf europäischer Ebene – etwa durch strengere Anwendung des Digital Services Acts – stärker entgegentreten. Sie urteilt: „Wir Europäer schlafwandeln. Putin hat immer angekündigt, was er macht.“ Die erste Podiumsdiskussion zum Thema „Demokratien unter Druck“ mit Michael Müller MdB, Roderich Kiesewetter MdB, Marieluise Beck (Senior Fellow Zentrum Liberale Moderne), Dr. Jana Puglierin (Senior Fellow ECFR) und digital zugeschaltet Sophie in ’t Veld MdEP (von links). Katharina Kühn moderierte die beiden Diskussionsrunden. © Friedhelm Windmüller (4) Ulrich Silberbach 6 AKTUELL dbb magazin | Mai 2024
In diesem Punkt stimmte ihr Roderich Kiesewetter (CDU), Mitglied des Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten im Bundestag, zu: „Die russischen Absichten waren immer bekannt.“ Er warnte außerdem vor irreführenden Debatten in Deutschland über die richtige Ukraineunterstützung. Die Frage, ob Deutschland durch die Lieferung bestimmter Waffensysteme zur Kriegspartei werde, sei auch auf Desinformation zurückzuführen. „Ob Deutschland als Kriegspartei wahrgenommen wird, entscheidet Russland ohnehin für sich alleine“, so der Abgeordnete und stellte klar: „Es geht um mehr als Symbole oder einzelne Waffensysteme. Unser ganzes System steht hier unter Druck, es geht um unsere Freiheit.“ Für Dr. Jana Puglierin, Senior Policy Fellow beim European Council on Foreign Relations, ist die bisherige Reaktion der Europäischen Union auf den Krieg ermutigend: „Die EU hat viel geleistet. Ich war persönlich angetan, wie kohärent die EU unmittelbar nach dem Angriff reagiert hat. Natürlich ist nicht alles reibungslos gelaufen, man denke nur an Viktor Orbán in Ungarn. Aber diese Geschlossenheit war verglichen mit dem Umgang mit anderen Krisen außergewöhnlich hoch.“ Sie stellte klar: „Ich möchte meine EU nicht Viktor Orbán überlassen. Und ich will meine EU nicht daran messen, was sie durch Leute wie Orbán nicht schafft.“ Marieluise Beck, Mitbegründerin des Zentrums Liberale Moderne, war selbst mehrfach in der Ukraine und hatte die Situation vor Ort gesehen. „Der Vorwurf, dass zu wenig auf diplomatischer Ebene getan werde, um den Krieg zu beenden, ist haltlos. Es geht in diesem Krieg auch nicht nur darum, Fläche zu gewinnen oder zu verlieren, sondern darum, dass in den von Russland eroberten Gebieten heute Willkür, Repression und Zwangsrekrutierung herrschen.“ Deutschland dürfe sich nichts vormachen: Russlands Armee sei auf dem Vormarsch, langsam, aber stetig. Sie sei zornig und traurig über das Verhalten der Bundesregierung, da sie vorhandene Möglichkeiten, die Ukraine zu unterstützen, nicht nutze. Dem widersprach Michael Müller (SPD), Mitglied des Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten im Bundestag. Deutschland leiste bereits deutlich mehr Unterstützung als die meisten anderen Staaten. Gerade mit dem Blick auf die militärische Unterstützung gehöre aber zur Wahrheit: „Wir haben in der Vergangenheit viele Dinge bei der Ausstattung der Bundeswehr versäumt.“ Auch er finde es aber „bemerkenswert, wie einig Europa in Sachen Ukraine ist, auch bei Kritik in einzelnen Punkten. Immerhin reden wir hier nicht nur über 27 Regierungschefs, sondern auch über die dahinterstehende Koalitionen. Da sind wir dann bei 80 bis 90 Parteien.“ Europawahl: Klimaschutz und Strukturreformen im Fokus Bei der anschließenden Diskussion „Europa vor der Wahl“ betonte Hildegard Bentele (CDU/EVP), Mitglied des Europäischen Parlaments, dass unter EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zuletzt viel für den Klimaschutz auf den Weg gebracht worden sei. Nach der Wahl wolle sie sich nun insbesondere mit Wirtschaft und Bauern für pragmatische Lösungen einsetzen. „Ziele haben wir wirklich genug, mir geht es vor allem um die konkrete Umsetzung.“ Enttäuscht zeigte sie sich, dass die Staats- und Regierungschefs den geplanten Konvent für strukturelle Reformen der Europäischen Union nicht vorangetrieben hätten. „Eine stärkere Demokratisierung der EU ist notwendig, aber diese Chance haben wir bisher verpasst.“ Auch Sergey Lagodinsky (Grüne) möchte in seiner zweiten Legislaturperiode als Mitglied des Europäischen Parlaments den Industriestandort EU durch eine „gute und wertegeleitete Industriepolitik stärken“ und sich für eine gemeinsame europäische Klimapolitik starkmachen: „Wer den Klimawandel ernst nimmt, kann den von Ursula von der Leyen angestoßenen ‚Green New Deal‘ nicht abwickeln.“ Mit Blick auf die strukturellen Reformen sagte er: „Natürlich ist es an der Zeit für einen Verfassungskonvent.“ Die europäischen Einigungsverträge an die Erfordernisse der Zeit anzupassen, sei absolut notwendig. Anastasia Vishnevskaya-Mann (FDP) kandidiert zum ersten Mal für das Europäische Parlament, weil die größten Herausforderungen der Zeit nur auf europäischer Ebene lösbar seien. Zu einem möglichen europäischen Konvent sagte sie: „Natürlich brauchen wir ein Initiativrecht des Parlaments!“ Problematisch sieht sie außerdem das Einstimmigkeitsprinzip auf EU-Ebene und die immense Zahl der EU-Kommissare, die begrenzt werden müsse. Wichtig sei auch die Bekämpfung systematischer Falschinformation und des Einflusses von Russland und China, deren Ziel die Spaltung Europas ist. Frederic Augustin (SPD) ist ebenfalls erstmals Kandidat für das EU-Parlament. Er zeigte sich überzeugt: „Die Idee der europäischen Kooperation gelingt nur, wenn wir den Bürgerinnen und Bürgern deutlich machen, dass diese Idee auch was nützt. Wir brauchen konkrete Lösungen für konkrete Probleme.“ Als Beispiele nannte er die Themen Energieversorgung, Verkehrswende, Digitalisierung und Migration. Auch Augustin warnte, gerade mit Blick auf jungen Wählerinnen und Wähler, vor Desinformation: „Es geht bei der Wahl um unsere Zukunft. Ich will die Möglichkeit haben, mich im Internet aufzuhalten, ohne links und rechts mit Desinformationen bombardiert zu werden.“ ada, dsc, ef Im zweiten Panel „Europa vor der Wahl“ diskutierten die Kandidatinnen und Kandidaten der größten EU-Fraktionen: Dr. Sergey Lagodinsky (MdEP, Grüne), Hildegard Bentele (MdEP, CDU/EVP), Dr. Anastasia Vishnevskaya-Mann (FDP) und Frederic Augustin (SPD) (von links). AKTUELL 7 dbb magazin | Mai 2024
Manuel Sarrazin, Sondergesandter der Bundesregierung für die Länder des westlichen Balkans „Die EU muss aus der Erweiterung gestärkt hervorgehen“ Was sagen Sie zu der Forderung, die EU müsse sich zuerst reformieren, um neue Staaten aufnehmen zu können, und was erwarten die Menschen auf dem Westbalkan von Europa? Ich bin dagegen, die Erweiterung gegen die Reform der EU auszuspielen. Das Erweiterungsversprechen von Thessaloniki gilt in jedem Fall. Die EU-Erweiterung liegt in unserem Interesse. Die Bundesregierung hat dies immer betont. Es ist uns natürlich aber auch wichtig, dass die EU bereit ist, neue Mitglieder aufzunehmen und nach einer Erweiterung handlungsfähig zu bleiben. Die EU muss aus der Erweiterung gestärkt hervorgehen. Bundesministerin Annalena Baerbock hat hierzu im Rahmen ihrer Europakonferenz im vergangenen Herbst wichtige Impulse gesetzt. Erweiterung und Reformen sind zwei parallele Prozesse, die Hand in Hand gehen müssen. Das hat der Europäische Rat auch so formuliert, der im Sommer einen Fahrplan zu EU-internen Reformen annehmen wird. Wie wirkt der Ukrainekrieg auf die Erweiterungsfrage? Wie nehmen die Partner auf dem Westbalkan die schnelle Verleihung des Kandidatenstatus an die Ukraine und Moldau wahr? Die Verleihung des Kandidatenstatus an die Ukraine und Moldau hat die Bereitschaft der EU unterstrichen, sich zu erweitern. Es ist ein deutliches Signal, nicht nur an die Ukraine und Moldau, sondern auch an die Länder des westlichen Balkans, dass die Tür zur EU offensteht. Es ist falsch zu versuchen, die Interessen der Ukraine und Moldaus gegen die Interessen des westlichen Balkans zu stellen. Eine glaubwürdige Perspektive für die Mitgliedschaft in der EU nutzt immer allen Kandidaten direkt oder indirekt. Wie bereits ausgeführt, kommt es am Ende immer auf den Prozess und auf die Reformpfade der einzelnen Länder an. Sehen Sie mit Blick auf Serbien die Gefahr eines neuen bewaffneten Konflikts? Welche Rolle spielt Russland? Wir sollten einen bewaffneten Konflikt nicht herbeireden. Eine umfassende Normalisierung des Verhältnisses zwischen Kosovo und Serbien würde beiden Ländern nutzen, die Lebensbedingungen der Menschen verbessern und viel Potenzial für die ganze Region freisetzen. Natürlich beobachten wir die Spannungen in der Region mit Sorge, ebenso wie die Einflussnahme Russlands. Serbien schließt sich (als einziger Beitrittskandidat) Sanktionen gegen Russland weiterhin nicht an. Politisch ist für Serbien in der Kosovo-Frage Russlands Unterstützung im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen wichtig und auch energiepolitisch besteht zwischen Serbien und Russland eine enge Verbindung. Gleichzeitig unterstützt Russland Milorad Dodik, den Präsidenten der Republika Srpska in Bosnien und Herzegowina, der regelmäßig durch nationalistische Rhetorik und Sezessionsdrohungen auffällt. RS-Präsident Dodik trifft immer wieder den russischen Präsidenten Putin. Das Engagement von KFOR, EUFOR Althea und EULEX bleibt unter anderem aus diesen Gründen weiterhin wichtig. Gleichzeitig hat sich die serbische Regierung klar zur EU-Integration und dem EU-geführten Dialog zwischen Serbien und dem Kosovo bekannt. Wir erwarten daher eine mit der EU-Integration kompatible Politik. Welche Bedeutung hat der Westbalkan für die europäische Sicherheit? Ein starker, stabiler und auf Frieden fußender westlicher Balkan im Südosten Europas ist im Interesse Deutschlands und der EU. Wenn wir hier in Europa dauerhaft in Frieden leben wollen, müssen die Staaten des westlichen Balkans integriert werden. Davon bin ich fest überzeugt. Deswegen engagieren wir uns auch gemeinsam mit unseren Partnern in NATO und EU für Sicherheit in den Ländern der Region: Sicherheit durch EUFOR Althea in Bosnien und Herzegowina und Sicherheit durch KFOR im Kosovo. Deutschland steht zu seinem langjährigen Engagement für Frieden und Sicherheit auf dem westlichen Balkan, nicht zuletzt durch die Bereitstellung zusätzlicher Bundeswehrsoldatinnen und -soldaten bei KFOR im Frühsommer 2024. Das EUFOR-Mandat werden wir ebenfalls robuster ausgestalten müssen. _ © Bündnis 90/Die Grünen-Bundestagsfraktion/Stefan Kaminski Manuel Sarrazin 8 AKTUELL dbb magazin | Mai 2024
Wir erleben eine gefährliche Polarisierung der Gesellschaft. Diese Entwicklung spiegelt sich in Ängsten, Hass und Gewalt wider. Extremistische Parteien verstehen es, die Sorgen der Menschen zu verstärken und für ihre eigenen Zwecke zu instrumentalisieren“, konstatiert Silberbach angesichts der instabilen Lage in Europa. Die Beschäftigten im öffentlichen Dienst trügen dabei eine besondere Verantwortung, denn sie stünden für die Wahrung der Rechtsstaatlichkeit. „Wir im dbb lehnen Extremismus in jeglicher Form ab. Es ist unsere Aufgabe, die Grundwerte der freiheitlichen Demokratie zu verteidigen und ein Vorbild für die Gesellschaft zu sein. Deshalb werden wir am 9. Juni zur Europawahl gehen und die Demokratie stärken. Für eine starke Legitimation unserer Abgeordneten im Europäischen Parlament! Für ein arbeitsfähiges Parlament mit nicht extremistischen Mehrheiten! Für ein handlungsfähiges Europa, das den Anforderungen unserer Zeit gewachsen ist!“, so Silberbach. Andreas Hemsing, dbb Vize und Vorsitzender der dbb Grundsatzkommission für Europapolitik, erklärt, warum es wichtig ist, dass die Bürgerinnen und Bürger am 9. Juni zur Europawahl gehen und ihre Stimme nicht an Protestparteien vergeben: „Es ist entscheidend, dass wir unsere Stimme nutzen, um die Demokratie zu stärken und extremistischen Kräften entgegenzutreten. Protestparteien bieten keine Lösungen für die aktuellen Herausforderungen und stellen sogar die freiheitliche Demokratie infrage.“ Es gebe Werte und Ziele zu verteidigen: „Unsere Ziele sollten eine starke Zusammenarbeit über Grenzen hinweg, soziale Sicherheit, Klima- und Umweltschutz sowie eine gerechte Handelspolitik sein.“ Von der europäischen Politik erhofft sich der dbb die Stärkung der Rechtsstaatlichkeit, Impulse für die Digitalisierung, einen europäischen Energiemarkt, effektiven Klimaschutz, eine solidarische Asyl- und Migrationspolitik, weniger Bürokratie sowie eine Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung und der europäischen Verteidigungsfähigkeit. Die Mitglieder der dbb Bundesleitung und der Querschnittsorganisationen des dbb wenden sich darüber hinaus mit Videobotschaften an die Wählerinnen und Wähler. Mehr: dbb.de/europawahl _ Zeit, die Demokratie zu stärken Mit einer Online-Sonderseite setzt sich der dbb für die Teilnahme an der Europawahl 2024 ein und ruft alle demokratischen Kräfte auf, sich der Erosion demokratischer Normen entgegenzustellen. Der öffentliche Dienst spielt dabei eine Schlüsselrolle. Jetzt sei nicht die Zeit für Protestwahlen, sagt dbb Chef Ulrich Silberbach. Foto: Nuthawut/Colourbox.de © dbb (2) 10 AKTUELL dbb magazin | Mai 2024
NACHRICHTEN Sicherheitskräfte bekommen deutlich mehr Geld Die dbb Tarifkommission hat die Schlichtungsempfehlung im Tarifkonflikt der Sicherheitskräfte an Flughäfen angenommen. Die Empfehlung hatte der Schlichter Prof. Dr. Hans-Henning Lühr nach dreitägigen Verhandlungen mit den Tarifparteien am 7. April 2024 vorgelegt. Nach der Schlichtungskommission haben nun auch die Gremien des dbb und der anderen beteiligten Sozialpartner den Kompromiss gebilligt. „Der Weg für deutliche höhere Entgelte der Kolleginnen und Kollegen ist damit frei“, sagte dbb Fachvorstand Tarifpolitik Volker Geyer. „Die wichtige Arbeit der Kolleginnen und Kollegen bekommt damit mehr Wertschätzung und das Berufsfeld wird in Zeiten des Fachkräftemangels finanziell aufgewertet.“ Die Stundenentgelte werden damit in der Entgeltgruppe I am 1. Februar 2024 um 1,60 Euro, am 1. September 2024 um weitere 0,75 Euro sowie am 1. Januar 2025 um weitere 0,35 Euro steigen. In der Entgeltgruppe II werden die Stundenentgelte am 1. April 2024 um 1,80 Euro, am 1. September 2024 um weitere 0,75 Euro sowie am 1. Januar 2025 um weitere 0,35 Euro erhöht. In der Entgeltgruppe III erfolgen zu gleichen Zeitpunkten Steigerungen von 1,60 Euro sowie von 0,75 Euro und 0,35 Euro. In der Entgeltgruppe IV steigen die Stundenentgelte am 1. April 2024 um 1,60 Euro sowie am 1. Januar 2025 um weitere 0,45 Euro. In der Entgeltgruppe V gibt es zu denselben Zeitpunkten 1,50 Euro sowie 0,35 Euro mehr. Zudem erhöhen sich die monatlichen Entgelte für die operativ tätigen Beschäftigten der Gruppe 1 am 1. April 2024 um 7,8 Prozent, am 1. September 2024 um 3,4 Prozent und am 1. Januar 2025 um weitere 1,5 Prozent. Die Laufzeit der vereinbarten tariflichen Regelungen geht bis zum 31. März 2025. Beim Thema Mehrarbeit beziehungsweise Vergütung von Mehrarbeit lagen die Vorstellungen der Tarifparteien zu weit auseinander für eine Schlichtungsempfehlung. Hier wird nun zunächst eine Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts zum Thema abgewartet, die für den September 2024 angekündigt ist. Deshalb werden die bisherigen Regelungen wieder in Kraft gesetzt, können allerdings zum Ende des Jahres erneut gekündigt werden. Flughäfen © Getty Images/Unsplash.com Europäischer Polizeikongress Schutz vor Gewalt geht alle an Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht von Angriffen auf Beschäftigte des öffentlichen Dienstes zu hören ist. Damit muss Schluss sein, fordert der dbb. Die Gewalt gegen Beschäftigte im öffentlichen Dienst ist ein absolutes No-Go. Das darf nicht sein“, machte Andreas Hemsing, stellvertretender dbb Bundesvorsitzender und Vorsitzender der komba gewerkschaft, am 17. April 2024 auf dem Europäischen Polizeikongress in Berlin deutlich. „Die körperliche und seelische Unversehrtheit unserer Kolleginnen und Kollegen sicherzustellen, ist gerade in turbulenten Zeiten wie diesen eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.“ Das Vertrauen der Bevölkerung in die Handlungsfähigkeit des Staates liege bei niedrigen 27 Prozent, die gesellschaftliche Verunsicherung, Stimmungsmache gegen den Rechtsstaat und die Rauheit im Diskurs nehmen zu. „Unsere Kolleginnen und Kollegen halten die freiheitlichdemokratische Grundordnung, auf der unser gesellschaftliches Leben fußt, aufrecht. Daher sind wir alle gemeinsam dafür verantwortlich, dass diese Grundordnung weiter besteht.“ Hemsing erwartet auch mehr Rückhalt von der Politik: „Wir brauchen dringend eine systematische Erfassung der Angriffe auf die Beschäftigten im öffentlichen Dienst sowie gut entwickelte Methoden der Prävention, Reaktion und Nachsorge.“ Der Staat dürfe seine Beschäftigten nicht im Stich lassen. Etwa ein Viertel der Beschäftigten des öffentlichen Dienstes habe schon Beleidigungen, Bedrohungen, Körperverletzungen und auch sexuelle Gewalt erlebt. „Unsere Kolleginnen und Kollegen sind jeden Tag ganz vorn im Einsatz, damit Deutschland funktioniert, wir in Sicherheit leben können, Recht und Ordnung Gültigkeit haben und stets jemand da ist, der sich kümmert. Ein Angriff auf eine Kollegin oder einen Kollegen ist ein Angriff auf uns alle. Es ist ein Angriff auf unsere Demokratie“, betonte Hemsing. Nur wenn der effektive Schutz der Beschäftigten vor jeglicher Form von Gewaltausübung tatsächlich für den Dienstherrn oberste Priorität genießt, werde auch dauerhaft in allen Bereichen des öffentlichen Dienstes die Funktionsfähigkeit erhalten bleiben können. „Als dbb widmen wir uns mit ganzer Kraft diesem Thema, im Sinne unserer Kolleginnen und Kollegen – und nicht zuletzt im Sinne jeder einzelnen Bürgerin und jedes Bürgers, damit sie auch künftig auf ihren Rechtsstaat vertrauen können.“ _ Foto: Heiko Küverling/Colourbox.de AKTUELL 11 dbb magazin | Mai 2024
INTERVIEW Das Bürokratieentlastungsgesetz soll vor allem die Wirtschaft entlasten. Sie möchten gerne weitere themenspezifische Entlastungspakete auf den Weg bringen. Spielt dabei auch der Aspekt eine Rolle, die hohe bürokratiebedingte Arbeitsbelastung der Kolleginnen und Kollegen in der Verwaltung zu reduzieren? Weniger Bürokratie für Bürgerinnen, Bürger und Unternehmen ist spiegelbildlich auch ein Bürokratieabbau für die Verwaltung. Denn in der Regel heißt das weniger Prüfverfahren, einfachere, reibungslosere und hoffentlich digitale Prozesse, was wiederum weniger Arbeitsbelastung ergibt. Wenn wir die von uns neu eingeführten Praxischecks mit allen Beteiligten machen, zum Beispiel im Rahmen der Genehmigung von Windanlagen an Land, sehen wir das ganz deutlich: Es werden nicht nur komplizierte Regeln identifiziert. In den Praxischecks wird oft klarer, wo und wie Prozesse von Anfang an einfacher gehandhabt werden können – auch ohne gesetzliche Änderungen –, einfach weil alle zusammen ein besseres Verständnis von den wirklich notwendigen Arbeits- und Verfahrensschritten erreicht haben. Der öffentliche Dienst kann als Wirtschaftsfaktor gelten, denn er setzt politische Vorgaben um und garantiert Unternehmen verlässliche rechtliche und infrastrukturelle Rahmenbedingungen. Investieren wir genug in Zukunftsfähigkeit und berufliche Attraktivität des öffentlichen Sektors? Was eine öffentliche Verwaltung alles leisten kann, habe ich mit großem Respekt in der Energiekrise erlebt. Ohne den hoch engagierten Einsatz vieler meiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hätten wir diese herausfordernde, teils kaum vorhersehbare Lage nicht so gut bewältigen können. Aber auch in der täglichen Arbeit kommt es auf jede und jeden an. Die Verwaltung – und damit unser Staat – funktioniert nur, wenn alle Rädchen ineinandergreiRobert Habeck, Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz Die Klimakrise bewältigen wir nur gemeinsam Dr. Robert Habeck © BMWK/Dominik Butzmann 12 AKTUELL dbb magazin | Mai 2024
fen. Dafür sind kluge Köpfe nötig und die bekommt der öffentliche Dienst nur mit attraktiven Arbeitsbedingungen. Beschäftigte im öffentlichen Dienst haben einen verlässlichen und sicheren Arbeitgeber. Gleichzeitig müssen wir aber auch attraktive Arbeitsbedingungen bieten. Der Fachkräftemangel macht keinen Halt vor einer Branche und der öffentliche Dienst steht im Wettbewerb mit vielen attraktiven Unternehmen. In seinem Sonderbericht zur Umsetzung der Energiewende kommt der Bundesrechnungshof zu dem Schluss, dass Deutschland seinen Zielen bei der Energiewende hinterherhinkt. Insbesondere die Stromversorgung sei gefährdet, weil der Stromverbrauch künftig parallel zur Umsetzung von Umweltzielen stark steigen wird. Sie haben das zurückgewiesen. Rechnet der Bundesrechnungshof etwa falsch? Der Bundesrechnungshof zeichnet kein vollständiges Gesamtbild. Wir haben die Energieversorgung nach dem Ende der russischen Gaslieferung zügig stabilisiert. Das war ein enormer, historisch einmaliger Kraftakt. Immerhin ist die Hälfte unserer Gasmenge weggebrochen. Wenn man die enorme Abhängigkeit bedenkt, die Deutschland zuvor vom russischen Gas hatte, haben wir da einen großen Fortschritt hin zu mehr Versorgungssicherheit gemacht. Ich erinnere mich übrigens nicht daran, dass der Bundesrechnungshof in ähnlicher Schärfe zuvor vor dieser Gasabhängigkeit gewarnt hätte, die uns fast an den Abgrund geführt hat. Fakt ist: Deutschland hat ein sichereres Stromsystem als noch vor 10, 15 Jahren. Ein Vergleich mit anderen Ländern mit großen Stromsystemen zeigt das deutlich. Nach Japan hatte Deutschland 2022 die geringsten Stromunterbrechungen. Die Versorgungssicherheit ist genauso wenig in Gefahr. Am 1. April wurden 15 Kohlekraftwerke endgültig abgeschaltet. Es hat eigentlich keiner gemerkt. So etwas findet geplant statt, immer in Anbetracht des aktuellen Versorgungssystems. Ein Kraftwerk wird nicht abgeschaltet, wenn es systemrelevant ist. Dafür hat die Bundesnetzagentur eine klare Vorgehensweise. Wie kann die steigende Grundlast beim Strom künftig stabil und bezahlbar sichergestellt werden? Wir bauen unser Energiesystem grundlegend um. In einem zunehmend von Wind und Sonne dominierten Stromsystem nehmen die Bedeutung und der Einsatz von Grundlastkraftwerken allerdings immer weiter ab. Es geht also nicht nur um einen Energieträger-, sondern auch einen Systemwechsel. Ein Energiesystem, das auf erneuerbaren Energien fußt, wird mehr gesteuert, Energie wird gespeichert, die Energiequellen werden enger aufeinander abgestimmt. Nötig sind also große Speicher und steuerbare Kraftwerke, die insbesondere in Zeiten mit wenig Wind und Sonne zum Einsatz kommen. Sie werden damit im zukünftigen Energiesystem die wichtige Funktion der langfristigen beziehungsweise saisonalen Stromspeicherung übernehmen. Zuerst werden das Gaskraftwerke sein, dann schrittweise Wasserstoffkraftwerke. Um diesen Prozess zu steuern und den Kraftwerkspark zu modernisieren, hat die Bundesregierung die Kraftwerksstrategie verabschiedet. Sie zielt darauf ab, diese substanziell neuen, steuerbaren Erzeugungskapazitäten zu schaffen. Sind unsere Netze fit genug für die Energiewende und welche Vorteile bietet dem Staat in diesem Zusammenhang der Kauf von Stromnetzen? Wir machen unsere Netze gerade fit: für die Energiewende, für die Wärme- und die Verkehrswende. Unsere Stromnetze sind das Fundament einer vollständigen klimaneutralen Energieversorgung, die wir 2045 spätestens erreichen wollen. Der Netzausbau muss also Schritt halten mit der wachsenden Elektrifizierung. Wichtig sind dabei sowohl die großen Übertragungsleitungen aus dem Norden, die Windstrom in den Süden bringen sollen, als auch Verteilernetze vor Ort, um mehr Wärmepumpen und Elektroautos versorgen zu können. Auch die Autobahnen nehmen wir ganz neu in den Blick. Um Schnellladesäulen für Elektroautos und Elektro-Lkw zu errichten, brauchen wir hier ein viel dichteres Stromnetz. Insgesamt sind es rund 13 000 Kilometer an Netz, die wir bis 2045 verstärken oder ausbauen müssen. Das hat höchste Priorität für die Bundesregierung. Die staatliche Beteiligung an großen Übertragungsnetzbetreibern kann da von Vorteil sein. Über das Gebäudeenergiegesetz sollen bis 2030 bis zu 54 Millionen Tonnen CO₂ eingespart werden. Allein China hat 2022 rund 11,4 Milliarden Tonnen CO₂ ausgestoßen – fast 30 Prozent des weltweiten Ausstoßes. Deutschland verursacht nur rund zwei Prozent. Belasten wir Bürger und Industrie im internationalen Vergleich zu stark mit Umweltauflagen? Wir sind mitten im Klimawandel. Extremwetter nehmen zu, wir erleben Fluten in der Wüste, Hitze am Nordpol. Das ist nicht nur Folge des chinesischen CO₂-Ausstoßes, sondern einer historisch gewachsenen Treibhausgas-Halde in der Atmosphäre – gewachsen seit der Industrialisierung. Auch China, Indien oder Indonesien sind aufgefordert, um die Mitte dieses Jahrhunderts treibhausgasneutral zu werden. Beim Pro-Kopf-Ausstoß liegen wir übrigens etwa gleichauf mit China, bei den historischen CO₂-Emissionen auf Platz vier. Die Klimakrise bewältigen wir nur gemeinsam; ein guter Zustand unserer Atmosphäre ist entscheidend für das Überleben der Menschheit, das muss uns alle angehen! Der Umstieg auf erneuerbare Energien erfordert erhebliche Zukunftsinvestitionen. Ist die Schuldenbremse vor diesem Hintergrund noch zeitgemäß? Zunächst ist klar: Die Schuldenbremse gilt. Aber wir sollten über den Tag hinausdenken und überlegen, ob die politischen Regeln, die wir uns gegeben haben, zu den veränderten Zeiten passen. Wenn wir die Zeitenwende ernst nehmen, wenn wir den Investitionsbedarf in die Erneuerung unserer Infrastruktur ehrlich betrachten, dann brauchen wir mehr finanziellen Spielraum. _ „Wir machen unsere Netze gerade fit: für die Energiewende, für die Wärme- und die Verkehrswende.“ „Kluge Köpfe bekommt der öffentliche Dienst nur mit attraktiven Arbeitsbedingungen.“ AKTUELL 13 dbb magazin | Mai 2024
DOSSIER Energiewende Zwischen Ambitionen und Machbarkeit Der Bundesrechnungshof hat die Umsetzung der Energiewende analysiert. Der Sonderbericht kritisiert, dass Deutschland seinen ambitionierten Zielen hinterherhinkt: Für eine sichere, bezahlbare und umweltverträgliche Stromversorgung müsse die Bundesregierung umgehend zielgerichtet umsteuern. Das Gelingen der Energiewende ist von herausragender Bedeutung für Deutschland. Ihre Ziele sind ambitioniert. In der Umsetzung hinkt Deutschland diesen Zielen aber deutlich hinterher. Ein Scheitern hätte gravierende Folgen, denn der Erfolg der Energiewende ist zentral für ihre Akzeptanz in der Bevölkerung, den Wirtschaftsstandort Deutschland und das Erreichen der Klimaschutzziele“, fasste der Präsident des Bundesrechnungshofes, Kay Scheller, die Ergebnisse des „Berichts zur Umsetzung der Energiewende im Hinblick auf die Versorgungssicherheit, Bezahlbarkeit und Umweltvertraglichkeit der Stromversorgung“ am 7. März 2024 zusammen. Die Energiewende sei nicht auf Kurs, dabei seien der Bundesregierung energiepolitische Ziele vorgegeben: Die Energieversorgung soll sicher, bezahlbar und umweltverträglich sein, heißt es in § 1 des Energiewirtschaftsgesetzes (EnWG). „Aktuell hält der Bundesrechnungshof für den Bereich Strom fest: Die sichere Versorgung ist gefährdet, der Strom teuer, während die Bundesregierung die Auswirkungen der Energiewende auf Landschaft, Natur und Umwelt nicht umfassend bewerten kann“, sagte Scheller. Zuletzt hatte der Bundesrechnungshof im Jahr 2021 über Versäumnisse der damaligen Bundesregierung bei der Energiewende informiert. Seitdem hat der völkerrechtswidrige russische Angriffskrieg auf die Ukraine weitere Schwachpunkte und Herausforderungen der deutschen Energieversorgung offenbart. Daraufhin hat die Bundesregierung einen massiven weiteren Ausbau der erneuerbaren Energien angekündigt. Im Jahr 2030 sollen sie 80 Prozent des Bruttostromverbrauchs decken. Das soll nicht nur zum Klimaschutz beitragen, sondern auch die Importabhängigkeiten bei fossilen Energien verringern. Zudem sieht die Bundesregierung die Nutzung erneuerbarer Energien im überragenden öffentlichen Interesse. Sie hat ihrem Ausbau in der Abwägung mit anderen Schutzgütern Vorrang eingeräumt, bis „die Stromerzeugung im Bundesgebiet nahezu treibhausgasneutral ist“. Energiewende lässt Stromverbrauch steigen Parallel zum Ausbau erneuerbarer Energien wird der Bruttostromverbrauch in den nächsten Jahren deutlich steigen. Durch die zunehmende Elektrifizierung in den Sektoren Verkehr und Wärme geht die Bundesregierung von einem Anstieg um 33 Prozent auf 750 Terawattstunden (TWh) im Jahr 2030 aus. 2021 wurden 565 TWh verbraucht. Gleichzeitig hält die Bundesregierung am vorgezogenen Kohleausstieg im Jahr 2030 fest, den Ausstieg aus der Kernenergie hat sie bereits im April 2023 vollzogen. Die Energiewende stellt daher nach Auffassung des Bundesrech- © Erdacht mit KI 14 FOKUS dbb magazin | Mai 2024
nungshofes eine Herausforderung für die Deckung des Strombedarfs dar. Um die angestrebte Versorgung mit Strom weitestgehend aus volatilen erneuerbaren Energien zu sichern, müsse der Bund dringend die notwendigen Rahmenbedingungen schaffen, so der Sonderbericht. Nicht auf Kurs sei die Energiewende konkret bei den Kapazitäten. Daher müsse das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) die erneuerbaren Energien entsprechend den gesetzlich festgelegten Zielpfaden ausbauen. Allerdings sei absehbar, dass die Ausbauziele nicht erreicht werden. So habe die Bundesnetzagentur (BNetzA) im Jahr 2023 lediglich 50 Prozent des Zielvolumens für Windenergieanlagen an Land vergeben: statt 12,84 Gigawatt (GW) nur 6,38 GW. Um den Zielpfad zu erreichen, müsste sie im Jahr 2024 16,46 GW vergeben – unrealistisch aus Sicht des Bundesrechnungshofes. Weiter unterliege die Stromerzeugung durch Fotovoltaik und Windanlagen Schwankungen, was zu Versorgungslücken führen könne. Deshalb sei der Zubau ausreichender gesicherter, steuerbarer Back-up-Kapazitäten bis zum Jahr 2030 von zentraler Bedeutung. Diesen müsse das BMWK gewährleisten, mit der Kraftwerksstrategie 2026 werde ihm das aber nicht gelingen, unter anderem, weil die darin vorgesehenen zehn H2- ready-Gaskraftwerke nicht ausreichten. Auch die Ausgestaltung eines zusätzlich geplanten Kapazitätsmechanismus für weitere Leistung sei noch offen, es sei nicht sichergestellt, dass die erforderlichen Back-up-Kapazitäten rechtzeitig verfügbar seien. Netzausbau erforderlich Ferner müssten die Stromnetze dringend ausgebaut werden, der Ausbau liege aber hinter den Planungen zurück. Den Rückstand beziffert der Bundesrechnungshof auf sieben Jahre und 6 000 Kilometer Stromleitungen. Gleichzeitig bewertet der Bundesrechnungshof die Annahmen der Bundesregierung beim Monitoring der Versorgungssicherheit als „wirklichkeitsfremd“. Die BNetzA betrachte in ihrem Monitoring-Bericht für die Jahre 2025 bis 2031 lediglich ein „Best Case“-Szenario, nach dem die Ausbauziele sicher erreicht werden. Alternative Szenarien betrachte das Monitoring nicht. „Das Szenario ist sehr unwahrscheinlich. Es weicht von den tatsächlichen Entwicklungen erheblich ab“, kritisiert Scheller. „So nimmt das BMWK hin, dass Gefahren für die sichere Versorgung mit Strom nicht rechtzeitig sichtbar und Handlungsbedarfe zu spät erkannt werden. Der Zweck des Monitorings als Frühwarnsystem zur Identifizierung solcher Handlungsbedarfe wird faktisch ausgehebelt.“ Versorgungssicherheit gefährdet? Um die sichere Versorgung mit Strom langfristig zu gewährleisten, müsse die Bundesregierung verschiedene Eintrittswahrscheinlichkeiten betrachten, auch ein „Worst Case“-Szenario einbeziehen und Maßnahmen ergreifen, um den Ausbau erneuerbarer Energien und jederzeit gesicherte, steuerbare Kraftwerksleistung sicherzustellen. Weiter bräuchten die Akteure Planungssicherheit, um in die notwendigen Erzeugungskapazitäten und Stromnetze zu investieren. Hohe Strompreise sieht der Bundesrechnungshof als erhebliches Risiko für den Wirtschaftsstandort Deutschland und die Akzeptanz der Energiewende. Die Preise für Strom seien in Deutschland in den vergangenen Jahren kontinuierlich gestiegen und gehörten zu den höchsten in der Europäischen Union. Auch seien weitere Preissteigerungen absehbar, da bis zum Jahr 2045 allein für den Ausbau der Stromnetze massive Investitionskosten von mehr als 460 Milliarden Euro anfielen. Das BMWK berücksichtige diese Systemkosten bisher nicht bei seiner Darstellung der Kosten für Strom aus erneuerbaren Energien. Um den sehr hohen Strompreisen entgegenzuwirken, habe die Bundesregierung diese wiederholt mit staatlichen Mitteln punktuell bezuschusst. „Dadurch entsteht ein falsches Bild der tatsächlichen Kosten der Transformation“, machte Scheller deutlich und forderte, die Systemkosten der Energiewende klar zu Foto: Colourbox.de Model Foto: Colourbox.de Foto: Quality Stock Arts/Colourbox.de FOKUS 15 dbb magazin | Mai 2024
benennen. „Darüber hinaus sollte sie endlich bestimmen, was sie unter einer bezahlbaren Stromversorgung versteht. Die von ihr geregelten Strompreisbestandteile muss sie konsequent auf ihre energiepolitischen Ziele ausrichten“, heißt es in dem Bericht. Umweltverträglichkeit berücksichtigen Zwar gestehen auch die Experten des Bundesrechnungshofes dem Ausbau erneuerbarer Energien für eine treibhausgasneutrale Energieversorgung überragende Bedeutung zu. Zugleich seien damit jedoch auch negative Auswirkungen auf die Umwelt verbunden: Knappe Flächen und Ressourcen würden in Anspruch genommen, die Biodiversität beeinträchtigt. Umweltschutzrechtliche Verfahrensstandards habe die Bundesregierung einerseits im Zuge der Energiekrise abgesenkt, um Genehmigungsverfahren zu beschleunigen. Andererseits habe sie es aber bis heute versäumt, ein wirksames Ziel- und Monitoring-System für eine umweltverträgliche Energiewende einzuführen. Das sei jedoch notwendig, um unerwünschte Wirkungen der Energiewende auf einzelne Schutzgüter frühzeitig zu erkennen und angemessen nachsteuern zu können. Grundlage der Entscheidungen müsse ein wirksames Monitoring sein. Scheller geht hart mit der Bundesregierung ins Gericht: „Unser Bericht zeigt: Die bisherigen Maßnahmen zur Umsetzung der Energiewende sind ungenügend und bergen deshalb gravierende Risiken für die energiepolitischen Ziele“, warnt Scheller. „Die Bundesregierung ist im Verzug beim Ausbau der erneuerbaren Energien und der Stromnetze sowie beim Aufbau von Back-up-Kapazitäten. Hinzu kommen Wissenslücken über die Umweltwirkungen der Transformation und kein Konzept gegen hohe Strompreise. Zugleich fehlt ihr ein integriertes Monitoring der Energiewende, das alle energiepolitischen Ziele in den Blick nimmt. So läuft die Bundesregierung Gefahr, dass mögliche Konflikte zwischen den energiepolitischen Zielen ungelöst bleiben. Sie sollte schnellstmöglich Kurskorrekturen vornehmen. Die Risiken für die Energiewende und damit für unseren Wohlstand sind groß. Die Bundesregierung sollte unsere Prüfungsfeststellungen nutzen, um die aufgezeigten Defizite abzustellen.“ Kritik und Zustimmung Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck wies die Kritik als überzogen zurück. Er warf dem Bundesrechnungshof eine „erstaunliche Wahrnehmung“ vor, die nichts mit der Wirklichkeit zu tun habe, zitierte der Deutschlandfunk den Minister am 11. März 2024. Man könne nicht sagen, die Bundesregierung tue nicht genug, um die Energieversorgung zu sichern, die Preise herunterzubringen und den CO2-Ausstoß zu reduzieren. Habeck verwies in diesem Zusammenhang auf Fortschritte beim Netzausbau und auf sinkende Strompreise. Der Ausbau der erneuerbaren Energien habe zudem Fahrt aufgenommen. Die Bundesregierung setze gerade das um, was jahrzehntelang von den früheren Bundesregierungen verstolpert worden sei. Rückendeckung erhielt Habeck vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Claudia Kemfert, Abteilungsleiterin in der Abteilung Energie, Verkehr, Umwelt des DIW, sagte im Deutschlandfunk, die Bundesregierung habe sehr viele Dinge auf den Weg gebracht. An der einen oder anderen Stelle hapere es noch, doch insgesamt gehe es in die richtige Richtung. Das von der Bundesregierung angepeilte Ziel, bis 2030 einen Anteil der erneuerbaren Energien von 80 Prozent zu erreichen, sei möglich. Kemfert kritisierte darüber hinaus die Forderung des Bundesrechnungshofes, vermehrt Gaskraftwerke zu bauen, als zu teuer und negativ für den Strompreis. Durch den vermehrten Bau von Wind- und Solarkraftwerken würde die Energieerzeugung dagegen effizienter, was sich langfristig in einem sinkenden Strompreis niederschlagen würde. Aktuell habe sie den Eindruck, die Kritiker würden Investitionen mit Kosten verwechseln. Bei der politischen Opposition fiel die Kritik des Bundesrechnungshofes hingegen auf fruchtbaren Boden: „Deutschland hat ein Stromproblem“, sagte CDU-Fraktionsvize Jens Spahn auf Tagesspiegel Online am 7. März 2024 und forderte „einen Sparplan für die Energiewende und eine Pragmatismuswende“. Konkret müsse es mehr oberirdische Leitungen geben, Kernkraftwerke müssten reaktiviert und alle Technologien effizient genutzt werden. „Der Solarausbau allein kostet mehr als er bringt, weil der Netzausbau nicht Schritt halten kann“, so Spahn. Statt erhöhter Netzentgelte brauche es niedrigere Stromsteuern für alle. Aus der Ampelkoalition äußerte sich der energiepolitische Sprecher der FDP-Fraktion, Michael Kruse, auf Tagesspiegel Online: „Der Rechnungshofbericht verdeutlicht eindringlich, dass Robert Habeck seinen einseitigen Erneuerbarenausbau dringend korrigieren muss.“ Versorgungssicherheit und günstiger Strom müssten gewährleistet werden, die Gesetzesvorhaben gehörten auf den Prüfstand: „Das Solarpaket muss neu ausgerichtet werden, um den Ausbau günstiger und stärker am Bedarf zu orientieren.“ Der komplette Bericht des Bundesrechnungshofes: t1p.de/sonderbericht br Foto: Oleksandr Zozulinskyi/Colurbox.de 16 FOKUS dbb magazin | Mai 2024
Drei Fragen an Kay Scheller, Präsident des Bundesrechnungshofes Klimaschutz ist nicht automatisch Naturschutz Die Energiewende gleicht der Quadratur des Kreises: Energie soll grüner werden, der Energiebedarf wird dadurch aber kontinuierlich steigen. Das immense Investitionsaufkommen wird Energie zudem verteuern. Zumindest mittelfristig werden alle mehr für Energie bezahlen müssen. Kommuniziert die Bundesregierung das nicht klar genug? Die Umsetzung der Energiewende stellt eine enorme Herausforderung dar, auch in finanzieller Hinsicht. Bei der Stromversorgung bieten die erneuerbaren Energien den Vorteil niedriger Stromentstehungskosten. Diese gewährleisten aber keineswegs zwingend eine preisgünstige Stromversorgung. Vielmehr entstehen beim Umbau des Stromsystems weitere Kosten, sogenannte Systemkosten, beispielsweise durch den Netzausbau. So betragen die Ausbaukosten für die Übertragungsnetze an Land und auf See bis zum Jahr 2045 mindestens 313,7 Milliarden Euro. Für den Ausbau der Verteilernetze nennt die Bundesnetzagentur bislang eine Größenordnung von 150 Milliarden Euro. Das Management von Netzengpässen kostet absehbar mehrere Milliarden Euro pro Jahr. Die von Stromkunden zu zahlenden Entgelte und Umlagen dürften daher künftig erheblich steigen. Die Übertragungsnetzentgelte haben sich bereits im Jahr 2024 verdoppelt. Bisher hat das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz diese Systemkosten in der Öffentlichkeit jedoch nicht transparent dargestellt. Die Energiewende erfordert moderne und belastbare Stromnetze. Neben dem Ausbau erwägt Deutschland auch den Erwerb bislang privatwirtschaftlich betriebener Übertragungsnetze. Trägt das zur Versorgungsstabilität bei? Leistungsfähige Stromnetze sind notwendig für die sichere Stromversorgung. Die Energiewende erfordert einen massiven Ausbau sowohl der Übertragungs- als auch der Verteilernetze. Der Ausbau der Übertragungsnetze liegt aber sieben Jahre und 6 000 Kilometer hinter dem Plan zurück. Und der Netzausbaubedarf steigt weiter. Der Bund erwägt, sich an den Übertragungsnetzbetreibern zu beteiligen beziehungsweise hat dies bereits getan. Wie sich dies auf die Versorgungssicherheit auswirkt, hängt insbesondere davon ab, ob eine Beteiligung die Ursachen des Ausbauverzugs adressiert: Sofern der Netzausbau beispielsweise an der Finanzierung scheitert, könnte sich eine Beteiligung – mit den guten Finanzierungsbedingungen des Bundes – positiv auf den Netzausbau auswirken. Zugleich stellt sich die Frage, ob der Bund diesen Zweck nicht mindestens ebenso gut ohne Beteiligung erreichen könnte, beispielsweise in Form von Gewährleistungen oder Garantien. Auch muss der Bund bei seinen Beteiligungen dafür sorgen, dass er angemessenen Einfluss auf die Unternehmen hat. Nur dann kann er gewährleisten, dass diese das wichtige Bundesinteresse verfolgen. Ob eine Beteiligung des Bundes an den Netzbetreibern zur Versorgungsstabilität und auch zur Bezahlbarkeit beiträgt, bleibt also abzuwarten. Mit Blick auf die nachhaltige und umweltverträgliche Umsetzung der Energiewende empfiehlt der Bundesrechnungshof der Bundesregierung, ein wirksames Ziel- und Monitoringsystem zu etablieren. Welche Aspekte sind Ihnen dabei besonders wichtig? Die Energiewende ist wesentlich für das Erreichen der Klimaschutzziele. Klimaschutz ist jedoch nicht automatisch Naturschutz. So besteht eine Herausforderung darin, den Naturraum und die Ökosysteme nicht mehr als nötig zu beeinträchtigen. Der Bundesregierung liegen zahlreiche Erkenntnisse zu negativen Umweltwirkungen erneuerbarer Energien vor. Diese muss sie systematisch dazu nutzen, um diese unerwünschten Umweltwirkungen auf ein Mindestmaß zu reduzieren. Die Bundesregierung muss positive wie negative Wirkungen der Energiewende – jenseits des Klimaschutzes – auf die einzelnen Schutzgüter der Umweltverträglichkeit erfassen. Das betrifft die Inanspruchnahme von knappen Flächen und Ressourcen ebenso wie die Beeinträchtigung der Biodiversität. Dabei braucht sie klare Ziele, an denen sie die tatsächliche Entwicklung messen kann. Nur dann kann sie Zielabweichungen frühzeitig erkennen und nachsteuern. Denn es gilt, die Energiewende im Konkreten so auszugestalten, dass sie die Umwelt möglichst wenig belastet. _ Kay Scheller © Bundesrechnungshof FOKUS 17 dbb magazin | Mai 2024
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