dbb magazin 5/2023

Zittau/Görlitz. „Pflege ist zu einem großen Teil Pflege durch Angehörige, denn 84 Prozent der Pflegebedürftigen werden zu Hause betreut. Demografiegetrieben wird die Pflegebedürftigkeit insgesamt bis ins Jahr 2025 sehr dynamisch steigen“, so der Wissenschaftler. Im Zuge dieser Entwicklung werde auch die Bedeutung der ambulanten Pflege steigen, während die stationäre Pflege stagniere oder sogar zurückgehe. Außerdem werde sich der Anteil pflegender Angehöriger, die erwerbstätig sind, erhöhen. Um gesundheitlichen Folgen und finanziellen Nachteilen entgegenzuwirken, schlug Hoff ein Maßnahmenpaket vor, das sich an den Ergebnissen des zweiten Berichts des unabhängigen Beirates für die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf orientiert: die Einführung einer Entgeltersatzleistung (analog zum Elterngeld) für bis zu 36 Monate sowie eine nach praktischen Kriterien gestaffelte Erhöhung der Freistellung auf maximal 36 Monate. Darüber hinaus sollten die Regelungen der zehntägigen Arbeitsverhinderung für Pflegende inklusive Pflegeunterstützungsgeld auf zehn Arbeitstage pro Jahr erweitert und das Pflegezeitgesetz sowie das Familienpflegezeitgesetz zusammengeführt werden. Der Gerontologe plädierte dafür, Unternehmen und öffentliche Arbeitgeber stärker in die Pflicht zu nehmen. Dazu müsse die bessere Vereinbarkeit von Pflege und Beruf auch Gegenstand von Tarifverhandlungen werden: „Die Verhandlungsposition ist angesichts der demografischen Lage derzeit so stark wie nie zuvor!“ „Ich hasse Hausarbeit“, bekannte Ella Carina Werner, Autorin, Satirikerin und TITANIC-Mitherausgeberin, freimütig und beschrieb den ständigen Konkurrenzkampf von Kindern, Arbeit und Haushalt. Ihr Lösungsvorschlag besteht in der Vision eines „idealen Putzmannes“, etwa eines Controllers oder Toprechtsanwaltes, den seine Haupttätigkeit einfach nicht auslaste. Meier-Gräwe: Zeitenwende, die sich nicht auf Rüstungsaufgaben beschränkt In ihrem Impulsvortrag über „Die ökonomischen Folgen von ungleich verteilter Care-Arbeit“ skizzierte Uta Meier-Gräwe, Autorin und ehemalige Lehrstuhlinhaberin für Wirtschaftslehre des Privathaushalts und Familienwissenschaften an der Universität Gießen, wie sich im Rahmen der Herausbildung der Industriegesellschaft außerhäusliche Erwerbsarbeit und unbezahlte, häusliche Erziehungs- und Hausarbeit voneinander getrennt hätten. Die Coronapandemie habe gezeigt, dass Care-Arbeit ein Fundament der Gesamtgesellschaft sei. Die damalige Sachverständige für den 1. und 2. Gleichstellungsbericht der Bundesregierung forderte eine „Um-Care“: „Wir müssen ein Modell für die faire Verteilung von Care-Arbeit finden!“ So müsse professionelle Care-Arbeit besser bezahlt werden und das in einigen Regionen noch immer zu zahlenden Schulgeld müsse zugunsten einer Ausbildungsvergütung abgeschafft werden. „Diese Berufe müssen so tarifiert und vergütet werden, dass sie auch für den interessant werden, der sonst bei VW arbeiten würde.“ Um 2030 werde bis zu ein Drittel aller Beschäftigten im Bereich Care-Arbeit arbeiten. „Sorgearbeit ist eine zentrale wirtschaftliche und gesellschaftliche Aufgabe. Wir brauchen eine Zeitenwende, die sich nicht auf Rüstungsaufgaben beschränkt“, mahnte Meier-Gräwe. ​Positive Veränderung ist möglich In drei parallel stattfindenden Diskussionsrunden hatten die Teilnehmenden die Möglichkeit, sich mit den Referentinnen und Referenten zu den entsprechenden Themen auszutauschen. Insgesamt blieb ein optimistisches Bild: Die Probleme seien zwar zahlreich, vielfältig und komplex; die meisten ließen sich aber lösen. Grundsätzlich brauche es eine Neuorganisation von Erwerbs- und Sorgearbeit, wofür auch im Kapitalismus noch Spielraum bestehe (siehe Ostdeutschland oder Skandinavien). Besonders wichtig sei es jetzt, Verbündete gerade in der Wirtschaft und Industrie zu finden. Die bezahlte Care-Arbeit monetär aufzuwerten, setze auch ein Zeichen für die unbezahlte Care-Arbeit. Ein großer Faktor sei die effektive Kommunikation: Man müsse der Gesellschaft klarmachen, dass ausnahmslos alle von Sorgearbeit betroffen sind. Dafür müssen die Botschaften aber auch die gesamte Breite der Gesellschaft erreichen. Auf der Arbeit müssen pflegende Angehörige deutlich mit dem Arbeitgeber über Pflegezeit kommunizieren, der Arbeitgeber selbst muss aber auch kommunikativ und transparent sein. Für die Zukunft muss die Vereinbarkeit von Pflege und Arbeit Teil der Tarifverhandlungen werden. Am wichtigsten sei, Sorgeberufe ernsthaft anzugehen und Geld zu investieren. Hier Druck zu machen, sei die vorrangige Aufgabe von Gewerkschaften. Die Vorhaben im Koalitionsvertrag wie Zuschüsse für haushaltsnahe Dienstleistungen müssen noch in dieser Legislaturperiode umgesetzt werden. Dies sei längst überfällig und wäre ein gutes Signal. _ Ekin Deligöz Karl Lauterbach 32 INTERN dbb magazin | Mai 2024

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