dbb magazin 6/2024

dbb magazin 6 | 2024 Zeitschrift für den öffentlichen Dienst Öffentliche Kulturbetriebe | Publikumsmagnete mit Förderbedarf Interview | Prof. Christian Höppner, Präsident des Deutschen Kulturrates Reportage | Bühnendienste an der Dresdner Semperoper: Die schöne Maschine

STARTER 10 8 TOPTHEMA Öffentliche Kulturbetriebe AKTUELL NACHRICHTEN Jahrestagung der Initiative kulturelle Integration: Interkulturalität ist eine Stärke 4 dbb Bildungsgewerkschaften: Qualität der Lehrkräftebildung sichern 5 TARIFPOLITIK Europäische Betriebsräte: Betriebsratsrichtlinie wird reformiert 6 INTERVIEW Prof. Christian Höppner, Präsident des Deutschen Kulturrates: Die Kreativen sind wertvolle Seismografen gesellschaft- licher Entwicklungen 8 FOKUS BLICKPUNKT Soziale Situation in Deutschland: Öffentliche Ausgaben für Kultur 10 REPORTAGE Bühnendienste an der Dresdner Semperoper: Die schöne Maschine 14 VORGESTELLT Museum Folkwang: Eine Sammlung der Bürger 18 NACHGEFRAGT Kilian Hampel, Organisationsforscher an der Universität Konstanz: Die Politik muss bei den jungen Menschen sein 24 MEINUNG Arbeitszeit: Weniger Arbeit für manche wäre gut für alle 25 ONLINE Verwaltungsdigitalisierung: Deutsche Ware eher soft 28 INTERN JUGEND Deutscher Bundesjugendring: Jugenddialog mit Bundeskanzler Olaf Scholz 30 FRAUEN Sorgearbeit: Neue Zahlen spiegeln dringenden Handlungsbedarf bei Pflegeberufen 31 SENIOREN Hauptversammlung: Politischer Wille ausschlaggebend 33 SERVICE Impressum 42 KOMPAKT Gewerkschaften 44 22 Kulturförderung schafft Vielfalt Von 2005 bis 2020 haben sich die öffentlichen Ausgaben für Kultur in Deutschland von knapp sieben Milliarden auf über 14 Milliarden Euro mehr als verdoppelt. Der Anstieg von rund zwölf auf 14,5 Milliarden von 2019 auf 2020 war den finanziellen Hilfen im Zuge der Coronapandemie geschuldet. Mittlerweile hat sich der Kulturbetrieb von den Pandemiefolgen erholt; die Besucherzahlen sind heute in einigen kulturellen Bereichen sogar höher als vor Corona. Das ist ein Erfolg, denn Kulturförderung versteht sich in Deutschland als weit mehr als bloße finanzielle Unterstützung. Sie ist ein wesentlicher Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens und spielt eine zentrale Rolle bei der Gestaltung einer lebendigen und integrativen Gesellschaft – nach föderalen Prinzipien bis in den ländlichen Raum hinein. Das Geld ist gut angelegt, denn kulturelle Vielfalt schafft Raum für kritische Diskurse, neue Perspektiven und innovative Ideen. In Zeiten zunehmender gesellschaftlicher Spaltungstendenzen ist das wichtiger denn je. Kulturförderung rentiert sich aber nicht nur gesellschaftlich und sozial, sondern auch wirtschaftlich. Sie stärkt lokale Betriebe, kurbelt den Tourismus an und schafft Arbeitsplätze. Auch angesichts haushälterischer Herausforderungen muss die Kulturförderung deshalb aufrechterhalten werden. Investitionen in kulturelle Infrastrukturen sind Zukunftsinvestitionen, die das soziale Gefüge stärken, den interkulturellen Dialog fördern sowie zur Bildung einer offenen und resilienten Gesellschaft beitragen. br 30 © Analia Baggiano/Unsplash.com AKTUELL 3 dbb magazin | Juni 2024

NACHRICHTEN Jahrestagung der Initiative kulturelle Integration Interkulturalität ist eine Stärke dbb Chef Ulrich Silberbach hat am 15. Mai 2024 in Berlin auf der Jahrestagung der Initiative kulturelle Integration an einer Podiumsdiskussion zum Thema „Arbeit als wesentlicher Faktor für Integration“ teilgenommen. Der öffentliche Dienst ist ein Spiegel der Gesellschaft. Und eine sich verändernde Gesellschaft, die heute durch Vielfalt gekennzeichnet ist, muss sich auch im öffentlichen Dienst widerspiegeln“, sagte Silberbach. Die Veranstaltung stand unter der Überschrift „Demokratie sichern: Zusammenhalt in Vielfalt leben“. Der dbb setze sich seit Langem dafür ein, die Sichtbarkeit von Menschen mit Zuwanderungsgeschichte im öffentlichen Dienst zu erhöhen. „Interkulturalität ist eine Stärke und keine Schwäche. Angesichts des gravierenden Personalmangels brauchen wir qualifizierte Fachkräfte, die sich einbringen wollen und können. Aktuell fehlen uns mehr als 550 000 Beschäftigte, in den kommenden zehn Jahren scheiden rund 30 Prozent altersbedingt aus dem öffentlichen Dienst aus.“ Mit Blick auf zunehmenden Extremismus, Verrohung der Streitkultur und die jüngsten Gewalttaten gegen Politikerinnen, Politiker sowie Beschäftigte des öffentlichen Dienstes zeigte der dbb Chef klare Kante: „Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass unsere Demokratie stark ist. Die Beschäftigten im öffentlichen Dienst unternehmen alles, um sie zu verteidigen, denn die freiheitlich-demokratische Grundordnung ist ihre Handlungsgrundlage. Demokratie ist stärker als Hass, Hetze und jegliche Formen von Extremismus!“ Die Initiative kulturelle Integration wurde im Jahr 2016 nach einer Debatte über den politischen Gebrauch des Begriffs Leitkultur zwischen dem damaligen Innenminister Thomas de Maizière und Olaf Zimmermann, dem Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates, ins Leben gerufen. Sie entstand aus der Idee, sich gemeinsam der Frage des gesellschaftlichen Zusammenhalts zu widmen. Alle angefragten Ministerien und 23 Organisationen folgten der Einladung und formulierten gemeinsam 15 Thesen für Zusammenhalt in Vielfalt. Neben dem Ressort für Integrationsfragen des Bundesministeriums des Innern und für Heimat konnte der Deutsche Kulturrat als Initiator der Initiative das Bundesministerium für Arbeit und Soziales für die Fragestellung gewinnen, was gesellschaftlichen Zusammenhalt stärkt und welche Rolle kulturelle Integration dabei spielt. Auch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien sowie die Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration schlossen sich der Idee an, Thesen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu erarbeiten. Für die weitere Arbeit holten die Initiatoren sich breite gesellschaftliche Unterstützung und luden 23 Spitzenverbände aus der Zivilgesellschaft, den Sozialpartnern, den Kirchen und Religionsgemeinschaften, den Medien, den Ländern und Kommunen ein. Die insgesamt 28 Mitglieder, darunter der dbb, spiegeln in ihrer Breite die vielfältige Gesellschaft wider. _ Investitionen in Kinderbetreuung gefordert Um hohe Standards in der frühkindlichen Bildung sicherzustellen, pocht der dbb auf zeitnahe Umsetzung des Qualitätsentwicklungsgesetzes. „Wenn wir die frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung verbessern, verbessern wir auch die Bildungsgerechtigkeit und Gleichstellung“, sagte dbb Chef Ulrich Silberbach am 13. Mai 2024, dem Tag der Kinderbetreuung, in Berlin. „Insbesondere kommen die Investitionen natürlich unserem Nachwuchs zugute. Ein hochwertiges Angebot bringt die Persönlichkeitsentwicklung voran und wirkt sich positiv auf die kognitiven, sozial-emotionalen und körperlichen Fähigkeiten aus. Das sind zentrale Grundlagen für gleichwertige Bildungschancen, gesellschaftliche Teilhabe und ein selbstbestimmtes Leben.“ Ebenso gebe es weitere positive Effekte, die im Sinne der gesamten Gesellschaft sind, unterstrich der Bundesvorsitzende. Eltern profitieren von einer hochwertigen und vor allem zuverlässigen Kindertagesbetreuung, weil sie Familie und Beruf besser vereinbaren können. Silberbach: „Am Ende des Tages zahlen sich die dauerhaften Investitionen in die Kindertagesbetreuung auch für die Wirtschaft aus. Sie profitiert von der gesteigerten Erwerbstätigkeit und dem gut ausgebildeten Nachwuchs. Diesen gesamtgesellschaftlichen Mehrwert kann man in der aktuellen Debatte um Haushaltskürzungen gar nicht oft genug betonen.“ Von der Regierung erwartet der dbb Chef mehr Tempo, damit ein nahtloser Anschluss zum aktuell gültigen KiTa-Qualitätsgesetz gewährleistet ist: „Eine sinnvolle Umsetzung des Qualitätsentwicklungsgesetzes und damit die Einführung verbindlicher, bundesweiter und wissenschaftlich begründeter Qualitätsstandards ist das Gebot der Stunde. Und entscheidend ist, dass das Gesetz im Hickhack um die Finanzierung nicht verwässert wird. Wer jetzt spart, zahlt in der Zukunft drauf!“ Qualitätsentwicklungsgesetz © Hannah Busing/Unsplash.com 4 AKTUELL dbb magazin | Juni 2024

dbb Bildungsgewerkschaften Qualität der Lehrkräftebildung sichern Der dbb Bundesvorstand hat das Positionspapier „Qualitativ hochwertige Lehrkräftebildung in Zeiten des Lehrkräftemangels“ verabschiedet. Darin sind zahlreiche Forderungen zur Verbesserung der Ausbildungsqualität und -attraktivität des Lehramtsstudiums sowie zur Lehrkräftegewinnung enthalten, um die Bildungsqualität langfristig sichern zu können. Im Kampf gegen den Lehrkräftemangel warnen die Bildungsgewerkschaften unter dem Dach des dbb vor zu kurz gedachten Maßnahmen. Simone Fleischmann, dbb Vize und Präsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands (BLLV), betonte am 7. Mai 2024: „Die Bildungsqualität aufzuweichen, ist keine Lösung für den Lehrkräftemangel. Stattdessen muss die Qualität in der Lehrkräftebildung für allgemeinbildende und berufsbildende Schulen gesichert und perspektivisch gesteigert werden.“ Nur so könne die Bildungsqualität langfristig gewährleistet und ein entscheidender Beitrag für die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft geleistet werden. „Die Zweiphasigkeit der akademischen Ausbildung, eine angemessene Dauer des Vorbereitungsdienstes und das Zwei-Fach-Lehramtsstudium sind zentrale Qualitätspfeiler der Lehrkräftebildung. An diesen Pfeilern darf nicht gerüttelt werden.“ Eine zweiphasige Ausbildung bedeutet, dass angehende Lehrkräfte ihr Wissen und ihre Kompetenzen kumulativ an einer Universität erlangen und im Anschluss den Vorbereitungsdienst an der Schule absolvieren. In der einphasigen Ausbildung hingegen laufen Studium und Vorbereitungsdienst jeweils verkürzt parallel. Der Vorbereitungsdienst des zweiphasigen Modells soll mindestens 18, idealerweise 24 Monate dauern. „Bereits im Jahresgespräch mit der Kultusministerkonferenz haben die dbb Lehrergewerkschaften diese Punkte verdeutlicht“, hob Fleischmann hervor. „Seit Jahren warnen wir vor dem Lehrkräftemangel. Lange Zeit wurden diese Warnungen ignoriert, umso größer ist jetzt die Not. Gerade deswegen muss in der aktuellen Situation genau überlegt werden, welche Maßnahmen langfristig zielführend sind. Viele Studien zur Bildungsqualität zeugen davon, dass wir gerade jetzt bestens ausgebildete Lehrkräfte benötigen, um unseren Nachwuchs fit für die Zukunft zu machen.“ Susanne Lin-Klitzing, Vorsitzende der dbb Fachkommission Schule, Bildung und Wissenschaft, erklärte: „Ein duales Lehramtsstudium im Sinne der Einphasigkeit einzuführen, würde die Ausbildungsqualität deutlich absenken. Zudem hätten die Vergütung einer qualitativ minderwertigen Ausbildung und die Aufweichung der Zugangswege besorgniserregende Folgen für die Attraktivität des grundständigen Lehramtsstudiums. Derartige Maßnahmen drohen vielmehr den Lehrkräftemangel perspektivisch zu verschärfen.“ Für Lehrkräfte, die mangelbedingt zunächst nur ein Fach unterrichten, forderte sie die nachträgliche universitäre berufsbegleitende Qualifikation für den Unterricht eines zweiten Fachs. „Darüber hinaus ist es das konstituierende Element des Unterrichts, die deutsche Sprache, zu beherrschen. Deutschkenntnisse mindestens auf C1-Niveau, besser auf C2-Niveau, müssen daher zwingende Voraussetzung für den eigenständigen Unterricht sein, die nicht erst im Tun und parallel zum Unterrichten erworben werden sollen“, so Lin-Klitzing und ergänzte: „Bei der Ergreifung von Maßnahmen müssen die Interessen der Kolleginnen und Kollegen, die bereits seit langer Zeit tagtäglich großartige Arbeit leisten, stets berücksichtigt werden. Nur wenn der Arbeitsort Schule ausreichend attraktiv ist, kann dem Lehrkräftemangel langfristig begegnet werden.“ _ Model Foto: Colourbox.de AKTUELL 5 dbb magazin | Juni 2024

TARIFPOLITIK Europäische Betriebsräte Betriebsratsrichtlinie wird reformiert Das Europäische Parlament fordert mehr Rechte für europäische Betriebsräte. Die Europäische Kommission hat Anfang 2024 einen ersten Reformvorschlag der Europäischen Betriebsratsrichtlinie vorgelegt. Für den Entwurf (EBR-Richtlinie 94/45 EG und 2009/38 EG) hat die EU-Kommission 2023 die europäischen Sozialpartner konsultiert. Auf Basis der so entstandenen Vereinbarung folgte Anfang 2024 der erste Legislativvorschlag der Kommission. Zu den bisherigen Kernaufgaben des Europäischen Betriebsrats gehören die Unterrichtung und Anhörung in grenzüberschreitenden Unternehmen mit mehr als 1 000 Beschäftigten. Der Europäische Betriebsrat ist kein Betriebsrat im Sinne der deutschen Betriebsverfassung, sondern mehr mit einem Wirtschaftsausschuss vergleichbar. Er verfügt nicht über Mitbestimmungsrechte. Zu den wichtigsten Änderungen gehören unter anderem, dass alle Arbeitnehmen- den multinationaler Unternehmen in der Europäischen Union beziehungsweise im Europäischen Wirtschaftsraum ausnahmslos die Einrichtung des Europäischen Betriebsrats beantragen können. Zudem erfuhr der in der Richtlinie enthaltene Begriff „länderübergreifende Angelegenheiten“ eine Konkretisierung, die sicherstellen soll, dass der Europäische Betriebsrat die Arbeit der nationalen Anhörungs- und Unterrichtungsgremien lediglich ergänzt. Hierbei sind Überschneidungen unerwünscht, da die nationalstaatliche Souveränität stets gewahrt bleiben soll. Zusätzlich wurde das Informationsrecht des Europäischen Betriebsrats gestärkt, indem Unternehmungsleitungen jetzt begründen müssen, warum sie die Weitergabe von Informationen einschränken. Der Reformvorschlag sieht ferner ausgewogene Geschlechterverhältnisse in Verhandlungsgremien vor. Ebenso sind Verbesserungen beim Rechtsschutz geplant. Die Europäische Union der unabhängigen Gewerkschaften (CESI) betont, dass ein starker, integrativer sozialer Dialog und Tarifverhandlungen der Schlüssel für die Aufrechterhaltung und den weiteren Ausbau eines Ausgleichs zwischen wettbewerbsfähigen Unternehmen und menschenwürdigen Arbeitsbedingungen sind. Unzulänglichkeiten in den bisherigen Regelungen führen dazu, dass die Europäischen Betriebsräte mit Mängeln und Hindernissen in ihrem Einrichtungsverfahren sowie ihrer effektiven und sinnvollen Arbeit konfrontiert sind. Die CESI begrüßt daher die Initiative der Europäischen Kommission, die derzeitige Richtlinie zu überarbeiten, um die Rolle und die Kapazität des Europäischen Betriebsrats zu stärken. Die CESI nennt als Prioritäten für eine Überarbeitung unter anderem die Definition des Begriffs „länderübergreifende Angelegenheit“. Dieser müsse geschärft werden. Auch müsse die Definition des Begriffs „Anhörung“ geschärft werden. Zudem müsse der Umfang und die Art der „Vertraulichkeitsbeschränkungen“ geklärt werden. Die CESI fordert darüber hinaus, dass das Verfahren und die Bedingungen zur Gründung vereinfacht werden müssten, um eine schnellere Einrichtung zu ermöglichen. Bei Nichteinhaltung der Richtlinie sollten den Mitgliedstaaten schärfere Sanktionen drohen. Außerdem müsse eine angemessene finanzielle, materielle und rechtliche Unterstützung für den Europäischen Betriebsrat sichergestellt werden. Bei der nationalen Umsetzung der Richtlinie richtet sich die Geltung des jeweiligen Umsetzungsgesetzes nach dem Sitz der zentralen Leitung des Unternehmens oder der Unternehmensgruppe. Es ist das Recht des Landes anwendbar, in dem die zentrale Leitung ihren Sitz hat. In Deutschland ist die Europäische Betriebsratsrichtlinie durch das Europäische-Betriebsräte-Gesetz umgesetzt. Der Entwurf zur EBR-Richtlinie wird zunächst im Trilog, einer Art Vermittlungsausschuss zwischen den drei gesetzgebenden Institutionen, der Europäischen Kommission, dem Europäischen Parlament und dem Ministerrat, diskutiert. Dabei kann es noch zu Änderungen am Gesetzestext kommen. Die Verabschiedung wird vermutlich erst nach der Europawahl im Juni 2024 erfolgen. Ab diesem Zeitpunkt greift die zweijährige Frist für alle Vereinbarungen des Europäischen Betriebsrats, die nachverhandelt werden müssen. _ Model Foto: Colourbox.de 6 AKTUELL dbb magazin | Juni 2024

ÖFFENTLICHE FINANZEN © Unsplash.com/Getty Images 6. Tragfähigkeitsbericht Appell für Strukturreformen Am 20. März 2024 hat das Bundesministerium der Finanzen (BMF) den Sechsten Bericht zur Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen veröffentlicht. Der Bericht informiert einmal pro Legislaturperiode über die langfristige Entwicklung der öffentlichen Finanzen. Im Fokus des Berichts stehen gesamtstaatliche Projektionen der demografieabhängigen Ausgaben in den Bereichen der Alterssicherung, Gesundheit und Pflege, der Arbeit sowie in den Bereichen Bildung und Familie für den Zeitraum bis 2070. Eine große Rolle spielt der demografische Alterungsprozess, der sich in den kommenden Jahren und Jahrzehnten weiter verschärfen wird und von dem unter anderem die Rentenversicherung und die anderen Sozialversicherungszweige betroffen sind. Mit Blick auf die langfristige Entwicklung der öffentlichen Haushalte stellt das BMF fest, dass der demografische Wandel die Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen langfristig gefährden wird. Obwohl die jüngste Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamts deutlich günstiger ausfällt als vorherige, steht den jüngeren Jahrgängen eine große Anzahl von sogenannten „Babyboomern“ gegenüber, die dem Arbeitsmarkt schrittweise verloren geht. In diesem Zuge wird sich auch der Bezug von Alterssicherungsleistungen erhöhen. Demnach könnten die alterungsbedingten öffentlichen Ausgaben bis zum Jahr 2070 unter ungünstigen Bedingungen von 27,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) im Jahr 2022 auf 36,1 Prozent im Jahr 2070 steigen. Unter günstigen Bedingungen erreichen sie bis zum Jahr 2070 „nur“ 30,8 Prozent des BIP. Die steigenden Ausgaben werden dann zu einem Anstieg der gesamtstaatlichen Finanzierungsdefizite führen. Unter günstigen Annahmen könnte der Schuldenstand nach den Projektionen bis zum Jahr 2070 auf rund 140 Prozent des BIP steigen, unter ungünstigen Annahmen auf etwa 365 Prozent des BIP. Damit hat sich die sogenannte fiskalische Tragfähigkeit im Vergleich zum vorangegangenen Tragfähigkeitsbericht 2020 verschlechtert. Neben den demografischen Faktoren verstärken höhere Ausgaben durch die Corona-Krise und den Ukraine-Krieg sowie eine wenig dynamische wirtschaftliche Entwicklung den Negativtrend. Zur Verbesserung der Situation schlägt das BMF unter anderem vor, eine konjunkturgerechte Haushaltskonsolidierung zum Aufbau finanzpolitischer Puffer einzuleiten, um Spielräume für Zukunftsinvestitionen und zur Überwindung künftiger Krisen zu schaffen. Eine effiziente, vorausschauende Finanzpolitik und ein effizienter Mitteleinsatz zur Dynamisierung der wirtschaftlichen Entwicklung sollen die Tragfähigkeit stärken. Dafür sind laut Bericht Strukturreformen erforderlich, die der alterungsbedingten Ausgabenentwicklung entgegenwirken und die gesetzlichen Sozialversicherungen zukunftsfest machen: zum einen durch eine stärkere Ausschöpfung des inländischen Erwerbstätigenpotenzials, indem Anreize für einen längeren Verbleib im Arbeitsleben und für eine weiter steigende Erwerbsbeteiligung von Frauen verbessert werden. Und zum anderen durch eine erleichterte Zuwanderung für qualifizierte Fachkräfte und schnelle Integration in den Arbeitsmarkt. Im Bereich Gesundheit und Pflege soll stärker darauf geachtet werden, den demografisch bedingten Anstieg der Gesundheitsausgaben insbesondere über das Heben von Effizienzpotenzialen zu begrenzen. Hierfür sieht der Bericht die im Grundgesetz verankerte Schuldenregel als Fundament an. „Die Ergebnisse des Sechsten Tragfähigkeitsbericht sind ein Appell an die Politik, Strukturreformen in allen relevanten Politikbereichen anzustoßen“, sagte Bundesfinanzminister Christian Lindner zur Veröffentlichung des Berichts. Die aktuelle Ausgestaltung der Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung sei in ihrer jetzigen Form langfristig nicht finanzierbar. „Bei der Rentenversicherung haben wir mit dem Generationenkapital bereits einen ersten Schritt gemacht. Die Renditepotenziale der Kapitalmärkte werden wir für die gesetzliche Rente nutzen und damit einen neuen Baustein einführen, der das System weniger abhängig macht von der demografischen Entwicklung in Deutschland“, so Lindner weiter. Außerdem gelte, dass das Fundament für einen zukunftsfesten Sozialstaat eine starke Wirtschaft sei. „Daher müssen wir den Wirtschaftsstandort Deutschland nachhaltig stärken, indem wir wichtige Standortfaktoren endlich wieder in den Blick nehmen. Dazu gehören weniger Bürokratie, ein wettbewerbsfähiges Steuersystem und eine moderne Infrastruktur. Wir haben jetzt die Chance, mit den richtigen Stellschrauben die Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen langfristig zu sichern.“ rh AKTUELL 7 dbb magazin | Juni 2024

INTERVIEW Prof. Christian Höppner, Präsident des Deutschen Kulturrates Die Kreativen sind wertvolle Seismografen gesellschaftlicher Entwicklungen Länder und Kommunen tragen mit gut vier Fünfteln den Löwenanteil der öffentlichen Kulturausgaben in Deutschland. Wie lange geht das in Anbetracht der vielerorts angespannten Haushaltslage noch gut? Wo sehen Sie zusätzliche Einnahmequellen? Die dramatische Haushaltslage der Kommunen sieht der Deutsche Kulturrat mit großer Sorge. Selbst wenn die Kultur nicht nur als freiwillige Leistung, sondern als freiwillige Pflichtaufgabe in den Haushaltsplänen verankert ist, schützt das nicht vor Kürzungen und Schließungen. In jenen Kommunen, die der Haushaltssicherung unterliegen, besteht für die bildungskulturelle Infrastruktur höchste Gefahr. Dabei ist noch kein Haushalt durch Kürzungen und Schließungen im Kulturbereich saniert worden. Kultur bildet das Fundament für unser Zusammenleben. Was in der bildungskulturellen Infrastruktur wegfällt, statt bedarfsgerecht ausgebaut zu werden, wird sich in einem weiteren erodierenden gesellschaftlichen Zusammenhalt wie in erhöhten Ausgaben an anderen Stellen der kommunalen Haushaltspläne niederschlagen. Der volkswirtschaftliche Schaden ist dabei noch nicht einmal einberechnet. Zusätzliche Einnahmequellen sehe ich nicht: So verdienstvoll die Arbeit von Stiftungen ist, so sehr sind sie keine zuverlässigen Partner für die kommunale Daseinsvorsorge. Bei den potenziellen Sponsoringpartnern gibt es erst recht kein Interesse, in die kulturelle Grund- „Es ist noch kein Haushalt durch Kürzungen und Schließungen im Kulturbereich saniert worden.“ © Jule Roehr/DKR 8 AKTUELL dbb magazin | Juni 2024

versorgung zu „investieren“. Schlussendlich ist die finanzielle Belastbarkeit der meisten Privathaushalte angesichts der aktuellen Steuer- und Abgabenlast längst ausgereizt, sodass eine Erhöhung der kommunalen Entgelte im Kulturbereich Nutzerinnen und Nutzern schaden und damit zu einer Verringerung der kulturellen Teilhabe führen würde. Spielstätten, Bibliotheken und Museen sind von 2022 bis 2023 bundesweit vom heftigen Preisanstieg der Energiekosten „kalt erwischt“ worden. Wie kann die Schieflage in den Haushaltsplänen wieder glatt gezogen werden? Der Kulturfonds Energie des Bundes, der sich an öffentliche und private Kultureinrichtungen richtete und wo Unterstützungsmittel beantragt werden konnten, war eine wichtige Maßnahme. Die Coronakrise hatte verheerende Auswirkungen auf die Besucherzahlen in fast allen Kulturbereichen. Hat sich die Branche mittlerweile davon erholt? Ja – in fast allen Sparten haben sich die Besucherzahlen wieder erholt und liegen teilweise über der Zeit vor Corona. Darüber hinaus ist als Tendenz im Besucherverhalten zu beobachten, dass die Zahl der Spontanbesucher gestiegen ist, das heißt weniger im Voraus gebucht wird. Wie haben sich die Beschäftigungsbedingungen im öffentlich-rechtlichen Kulturbetrieb seit der Coronapandemie entwickelt? Die Angestellten und Beamten im öffentlichen beziehungsweise öffentlich geförderten Kulturbetrieb haben die Folgewirkungen der Coronapandemie mit dem Instrument der Kurzarbeit relativ gut überstehen können. Auch für die weiteren Beschäftigungsverhältnisse bis hin zu den Soloselbstständigen gab es umfängliche Hilfsprogramme des Bundes und der Länder. Nach dem Auslaufen der Hilfen gibt es allerdings insbesondere für die Soloselbstständigen und freien Ensembles noch keine Konzepte, die eine unterstützende Begleitung in den Normalbetrieb ermöglichen würden. Damit stellt sich leider derzeit für viele Kulturakteure – auch in der Veranstaltungswirtschaft – die Frage nach den Zukunftsperspektiven im kreativen Bereich und nicht zuletzt die Frage nach der Existenzsicherung. Inwiefern ist der Kulturbereich vom demografischen Wandel betroffen und wie sieht die Nachwuchssituation aus? Der demografische Wandel betrifft natürlich, wie in allen gesellschaftlichen Bereichen, auch den Kulturbereich. Der Fachkräftemangel ist nicht erst seit Corona in einigen Sparten ein brennendes Problem. So ist beispielsweise der überproportional hohe Ausfall in den künstlerischen Schulfächern auf einen seit vielen Jahren anwachsenden Fachkräftemangel zurückzuführen. Leider hat die Kultusministerkonferenz jahrelang nicht gegengesteuert. Weiterhin gibt es derzeit einen Mangel an technischem, technisch-künstlerischem sowie Verwaltungspersonal. So attraktiv und sinnstiftend das Engagement in den kreativen Berufsfeldern ist, so sehr bedarf es verlässlicher und nachhaltig angelegter Rahmenbedingungen. Mit der Digitalisierung verändern sich Rahmenbedingungen und Spielregeln für die deutsche und internationale Medienpolitik. Hält der deutsche öffentlich-rechtliche Rundfunk mit diesen Veränderungen Schritt oder sind Reformen nötig? Das Veränderungstempo beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk hat gerade in diesem Jahr an Tempo zugelegt. Ich hoffe sehr, dass bei diesem Umbau möglichst viele Menschen mitgenommen und vor allen Dingen die Menschen, die derzeit nicht mehr erreicht werden, wieder zurückgewonnen werden können. Je stärker der gemeinwohlorientierte Markenkern des öffentlich-rechtlichen Rundfunks mit einer unabhängigen Berichterstattung und seinem Kulturauftrag vor Ort erfahrbar wird, desto mehr kann die gesellschaftliche Akzeptanz gesteigert werden. Die Verantwortung der Länder für einen bedarfsgerecht ausgestatteten öffentlich-rechtlichen Rundfunk ist dabei sowohl in den Landesregierungen wie in den Landesparlamenten nicht immer erkennbar. Wenn beispielsweise der bayerische Ministerpräsident Markus Söder eine Halbierung der Anzahl der Rundfunkklangkörper vorschlägt, dann sägt er damit an der Existenz des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Es muss nicht gleich von „Leitkultur“ die Rede sein, um zu erkennen, dass ein breit aufgestelltes kulturelles Angebot eine Klammer für den gesellschaftlichen Zusammenhalt ist. Wie erreicht der Kulturbetrieb bildungsfernere Bevölkerungsgruppen? Kultur bestimmt unser Zusammenleben. Die UNESCO-Konvention zum Schutz und zur Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen und das Grundgesetz sind zentrale Berufungs- und Handlungsgrundlagen für den Deutschen Kulturrat. Die Bildungs- und Kultureinrichtungen im formalen, nonformalen und informellen Bereich sind Orte der Begegnung, der Wahrnehmung des anderen, des Dialogs und der Selbstvergewisserung. Die Institutionen wie die freie Szene erreichen immer mehr Menschen durch veränderte Veranstaltungs- und Kommunikationskonzepte sowie eine aufsuchende Bildungs- und Kulturarbeit. Die im Kreativbereich tätigen Menschen sind damit wertvolle Seismografen gesellschaftlicher Entwicklungen, deren Erkenntnisse und Erfahrungen unsere Gesellschaft noch stärker nutzen sollte. Über allem stehen die in unserem Grundgesetz verankerte Kunstfreiheit und die gesellschaftliche Übereinkunft, dass die Kunst um der Kunst willen zu fördern sei. _ … ist Präsident des Deutschen Kulturrates und des Deutschen Tonkünstlerverbandes. Seit 1986 unterrichtet er Violoncello an der Universität der Künste Berlin. Musik- und kulturpolitisch engagiert sich Höppner unter anderem als Vorsitzender des Programmausschusses und Haushaltsberichterstatter des Rundfunkrates der Deutschen Welle, Kuratoriumsvorsitzender der Carl Bechstein Stiftung, Mitglied des Stiftungsrates der Fondation Hindemith und Festivalbotschafter des Kammermusikfestes Oberlausitz. Prof. Christian Höppner ... „Der demografische Wandel betrifft natürlich auch den Kulturbereich.“ AKTUELL 9 dbb magazin | Juni 2024

BLICKPUNKT Soziale Situation in Deutschland Öffentliche Ausgaben für Kultur Im Jahr 2020 gaben Bund, Länder und Gemeinden insgesamt 14,5 Milliarden Euro für Kultur aus. Gegenüber den Ausgaben im Jahr 2010 entsprach das einer Steigerung um 55 Prozent. Allein von 2019 auf 2020 stiegen die öffentlichen Kulturausgaben um 15,6 Prozent – vor allem aufgrund der Mehrausgaben für Hilfs- und Unterstützungsprogramme im Rahmen der Coronapandemie. Trotz der Ausgabensteigerung auf Bundesebene wurden die Kulturausgaben auch im Jahr 2020 überwiegend von den Gemeinden und den Ländern bestritten. Der Kulturbereich umfasst – nach der hier zugrunde liegenden Abgrenzung – die Bereiche Theater und Musik, wissenschaftliche und nicht wissenschaftliche Bibliotheken und Museen, Denkmalschutz und -pflege, kulturelle Angelegenheiten im Ausland, sonstige Kulturpflege, öffentliche Kunsthochschulen sowie die Verwaltung für kulturelle Angelegenheiten. Zu den kulturnahen Bereichen zählen Volkshochschulen und sonstige Weiterbildung, kirchliche Angelegenheiten sowie Rundfunkanstalten und Fernsehen. Die Entwicklung der öffentlichen Kulturausgaben in den Ländern (einschließlich Gemeinden) fiel sehr unterschiedlich aus: Während die Ausgaben in den Flächenländern zwischen 2019 und 2020 um 6,8 Prozent stiegen, erhöhten sie sich in den Stadtstaaten um 16,8 Prozent. Die Ausgaben des Bundes erhöhten sich im gleichen Zeitraum um 52,9 Prozent. Trotz der Ausgabensteigerung auf Bundesebene wurden die Kulturausgaben auch im Jahr 2020 überwiegend von den Gemeinden und den Ländern bestritten. Auf die Gemeinden entfiel ein Anteil von 39,1 Prozent (5,7 Milliarden Euro), der Anteil der Länder – einschließlich Stadtstaaten – lag bei 38,6 Prozent (5,6 Milliarden Euro). Der Bund beteiligte sich an der öffentlichen Kulturfinanzierung mit 3,2 Milliarden Euro beziehungsweise einem Anteil von 22,4 Prozent. Länder und Kommunen tragen Löwenanteil Auch in Bezug auf den jeweiligen Gesamthaushalt ist die Bedeutung der Kulturausgaben auf Gemeindeebene relativ am größten: Während im Jahr 2020 beim Bund 1,50 Prozent des Gesamthaushalts auf Kulturausgaben entfielen, waren es bei den Ländern 1,79 Prozent und bei den Gemeinden 2,37 Prozent. Bezogen auf alle Körperschaftsgruppen lag der Anteil der Kulturausgaben bei 1,89 Prozent (2010: 1,68 Prozent/2019: 1,80 Prozent). Im Verhältnis zur Wirtschaftskraft erreichten die öffentlichen Ausgaben für Kultur im Jahr 2020 einen Anteil von 0,43 Prozent am Bruttoinlandsprodukt (BIP). 2019 lag der Anteil, wie auch 2010, noch bei 0,36 Prozent. Die öffentlichen Kulturausgaben je Model Foto: Colourbox.de 10 FOKUS dbb magazin | Juni 2024

Einwohnerin und Einwohner stiegen zwischen 2010 und 2019 von knapp 117 Euro auf rund 151 Euro. 2020 lagen die Ausgaben bei 174,51 Euro pro Kopf. Wie oben dargestellt, entfallen auf die Länder und Gemeinden knapp vier Fünftel der öffentlichen Kulturausgaben. Die Pro-KopfAusgaben fallen dabei allerdings sehr unterschiedlich aus. Im Jahr 2020 lagen die Ausgaben im Durchschnitt bei 135 Euro pro Kopf. An der Spitze standen Berlin (250 Euro), Sachsen (244 Euro), Hamburg (225), Bremen (190 Euro) und Thüringen (175 Euro). Auf der anderen Seite der Skala standen Rheinland-Pfalz (72 Euro), Niedersachsen (85 Euro), Schleswig-Holstein (89 Euro) und das Saarland (94 Euro). Wird die Verteilung der öffentlichen Kulturausgaben nach Kulturbereichen betrachtet, so hatten 2020 Theater und Musik (31,4 Prozent), Museen, Sammlungen, Ausstellungen (18,7 Prozent) sowie Bibliotheken (12,1 Prozent) die höchsten Anteile. Darauf folgten die Bereiche kulturelle Angelegenheiten im Ausland (4,8 Prozent), öffentliche Kunsthochschulen (4,5 Prozent) sowie Denkmalschutz und Denkmalpflege (4,5 Prozent). 2,5 Prozent der öffentlichen Kulturausgaben entfielen auf die Verwaltung kultureller Angelegenheiten und 21,6 Prozent auf sonstige Kulturpflege. Neben den Kulturausgaben wurden 2020 noch 2,6 Milliarden Euro für kulturnahe Bereiche sowie 518 Millionen Euro für die Filmförderung aufgebracht. Zu den kulturnahen Bereichen zählen die Ausgaben für Volkshochschulen und sonstige Weiterbildung (1,48 Milliarden Euro), für kirchliche Angelegenheiten (758 Millionen Euro) sowie die Ausgaben für Rundfunkanstalten und Fernsehen (380 Millionen Euro). Haushalte geben weniger für Kultur aus Bei der Finanzierung der kulturnahen Bereiche insgesamt hatten die Länder im Jahr 2020 einen Anteil von 54,0 Prozent. Beim Bund waren es 28,3 Prozent und bei den Gemeinden 17,7 Prozent. An den Gesamtausgaben für kirchliche Angelegenheiten (darunter beispielsweise Zuschüsse zur Durchführung von Kirchentagen oder für Kirchenbauten) hatten allein die beiden Bundesländer Bayern und Baden-Württemberg einen Anteil von 41,3 Prozent. Der Bereich Rundfunkanstalten und Fernsehen wurde zu 99,2 Prozent vom Bund finanziert. Während beim Bund beispielsweise die Ausgaben für die Deutsche Welle in diesen Bereich fallen, werden die Landesrundfunkanstalten überwiegend durch Rundfunk- und Fernsehgebühren finanziert. Model Foto: Colourbox.de © Gabriel Sollmann/Unsplash.com 12 FOKUS dbb magazin | Juni 2024

Im Jahr 2019, also dem Jahr vor Beginn der Coronapandemie, betrugen die durchschnittlichen Ausgaben der privaten Haushalte für Freizeit, Unterhaltung und Kultur insgesamt noch 3 402 Euro. 2020 sanken die Ausgaben auf 2 874 Euro pro Haushalt. Bei durchschnittlich 2,0 Personen je Haushalt entsprach das 1 437 Euro pro Person. Pro Haushalt wurden im Jahr 2020 beispielsweise 223 Euro für den Erwerb von Zeitungen und Zeitschriften aufgewendet. Für kulturelle Veranstaltungen (Kino/Theater/Konzert/Zirkus) gaben die Haushalte im selben Jahr durchschnittlich 52 Euro aus, für den Erwerb von Büchern 119 Euro (2019: 156 Euro/108 Euro). Kulturkiller Corona Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes sind die Besuchszahlen in den Kultureinrichtungen aufgrund der Coronapandemie beziehungsweise aufgrund pandemiebedingter Schließungen und restriktiver Zugangsregelungen sehr stark gesunken. Beispielsweise sank bei den gut 1 700 Kinos die Zahl der Kinobesuche von 2019 auf 2020 von 118,6 auf 38,1 Millionen. Die Besuchszahlen der rund 6 850 Museen gingen zwischen 2019 und 2020 ähnlich stark zurück – von 111,6 auf 41,5 Millionen. In beiden Bereichen wurde damit der jeweils niedrigste Wert seit Beginn der Zeitreihen im Jahr 2000 gemessen. Bei den öffentlichen und privaten Theatern wurden in der Spielzeit 2018/2019 noch 26,3 Millionen Besuche in 774 Spielstätten gezählt, 2019/2020 waren es nur noch 18,4 Millionen Besuche. In der Spielzeit 2019/2020 gab es in Deutschland insgesamt 121 öffentlich finanzierte Orchester mit 9 210 Mitgliedern. Diese boten insgesamt 7 183 Konzerte an, die rund 3,9 Millionen Mal besucht wurden (47 Besuche je 1 000 Einwohner). Allerdings war die Spielzeit 2019/2020 teilweise schon von den Einschränkungen durch die Coronapandemie betroffen. In der Spielzeit 2018/2019 wurden noch 5,6 Millionen Konzertbesuche gezählt (67 Besuche je 1 000 Einwohner). Im Jahr 2020 zählten die 931 öffentlichen Musikschulen in Deutschland etwa 1,4 Millionen Schülerinnen und Schüler, davon waren 1,2 Millionen unter 19 Jahre alt. Damit nahm im Jahr 2020 jede zwölfte Person in der Gruppe der unter 19-Jährigen Unterricht an einer Musikschule. Insbesondere durch die Umstellung auf Online-Angebote sank die Zahl der unter 19-jährigen Musikschülerinnen und -schüler von 2019 auf 2020 lediglich von 1,26 auf 1,19 Millionen. Schließlich gab es im Jahr 2021 in Deutschland 8 155 öffentliche und 717 wissenschaftliche Bibliotheksstandorte. Die öffentlichen Bibliotheken meldeten für 2021 insgesamt 249 Millionen Entleihungen (82 Prozent physische und 18 Prozent digitale Medien). Bei den wissenschaftlichen Bibliotheken wurden für 2021 rund 47,3 Millionen physische Entleihungen gezählt. _ Der Beitrag erschien zuerst auf den Internetseiten der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) und steht unter der Creative-Commons-Lizenz CC BY-NC-ND 3.0 DE. … der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder präsentiert den Leserinnen und Lesern zum elften Mal eine Veröffentlichung, die alle zwei Jahre einen breiten Überblick über die öffentliche Kulturfinanzierung in Deutschland schafft. Der Bericht bietet eine Datengrundlage für Politik, Kulturinstitutionen, Kultusverwaltungen, Wissenschaft und die interessierte Öffentlichkeit. Im Fokus des Kulturfinanzberichts stehen die Ausgaben des Bundes, der Länder und der Gemeinden für Kultur und kulturnahe Bereiche in der Bundesrepublik Deutschland. Diese werden im Zeitverlauf und gegliedert nach Ländern, Körperschaftsgruppen und Kulturbereichen dargestellt. Das zentrale Berichtsjahr sieht dabei jeweils das Haushaltsjahr 2020 vor, welches ein Jahr aktueller als der bisherige Veröffentlichungsrhythmus ist. Haushaltsplanungen bis zum Jahr 2022 ergänzen zudem die Zeitreihe bis zum aktuellen Rand und erhöhen somit auch die Steuerungsrelevanz des Kulturfinanzberichts. Der komplette Bericht im Download: t1p.de/ kulturfinanzbericht Der Kulturfinanzbericht 2022 … Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) misst den Wert der im Inland hergestellten Waren und Dienstleistungen (Wertschöpfung), soweit diese nicht als Vorleistungen für die Produktion anderer Waren und Dienstleistungen verwendet werden. Das BIP ist gegenwärtig das wichtigste gesamtwirtschaftliche Produktionsmaß. Die öffentlichen Ausgaben für Filmförderung können anhand der Haushaltssystematik von Bund und Ländern nicht überschneidungsfrei dargestellt werden. Sie überlappen mit Ausgabepositionen für andere Kulturbereiche, zum Beispiel sonstige Kulturpflege und Kunsthochschulen. Teilweise werden sie auch im Bereich der Wirtschaftsförderung nachgewiesen. Methodische Anmerkungen © Krists Luhaers/Unsplash.com FOKUS 13 dbb magazin | Juni 2024

REPORTAGE Bühnendienste an der Dresdner Semperoper Die schöne Maschine Die Semperoper ist einer der kulturellen Leuchttürme der mit Kunstschätzen reich gesegneten Landeshauptstadt Dresden. Der Freistaat Sachsen stattet sein Vorzeigehaus großzügig aus. Das aber steht vor großen Herausforderungen: der Generalsanierung des Funktionsgebäudes und dem Bau eines Probebühnenzentrums bei laufendem Spielbetrieb sowie dem Generationenwechsel seines Personalbestandes im technischen Bereich. Der Zeigefinger hebt sich auf dem roten Samtvorhang gut ab, als sich Courtney Richardson und Julian Lacey für den ersten Applaus vor dem Vorhang verbeugen. Eigentlich sollte nichts zu sehen sein von dem Bühnenarbeiter, der den schweren Vorhang der Dresdner Semperoper für die beiden Solisten des Abends aufhält, während sich das Ensemble des Balletts „Romeo und Julia“ von Sergej Prokofjew auf der Bühne zum Schlussapplaus versammelt. Nach drei Stunden federleicht wirkender Schwerstarbeit ist der Beifall der Bonus zu Gage und Gehalt – und zwar für alle an der Aufführung Beteiligten. Er gilt nicht nur den Tänzern und Tänzerinnen auf der Bühne und dem Orchester im Graben davor; auch für Maskenbildner und Ankleiderinnen, Orchesterwarte, Inspizientinnen, Requisiteure, Ton-, Licht- und Bühnentechniker. Alles in allem sind an dieser Abendvorstellung zwischen 120 und 150 Personen beteiligt. Jeder hat eine klar umrissene Aufgabe, die mit hoher Konzentration erfüllt werden muss, damit die Maschine, die jede Bühnenaufführung im Grunde ist, nicht ins Stocken gerät. „Eine Opernvorstellung ist kein Film. Man kann nicht einfach einen zweiten Take drehen“, hatte Pressereferent Oliver Bernau am Vormittag beim Rundgang durch die Werkstätten der Oper gesagt. „Wenn wir die Sänger zum Applaus durch den Vorhang lassen, klatscht das Publikum auch für uns!“ Das ist kein auswendig gelernter Spruch zum Wohle des Hauses – Jens Kühn, Dekorateur und seit der Eröffnung 1985 an der Semperoper, findet es nicht demotivierend, fast nie sichtbar zu sein mit der eigenen Arbeit. „Der Applaus am Abend ist für alle und wir wissen das auch.“ Seit er seine Wolfgang Rothe 14 FOKUS dbb magazin | Juni 2024

Lehre zum Holzfacharbeiter mit der Spezialisierung Dekorationsbau am damaligen Staatstheater Dresden 1982 begann, liebt Kühn klassische Musik. Und das ist ihm deutlich anzumerken, wenn man ihn auf einer Seitenbühne zum Gespräch trifft. Mit einem Ohr ist er bei der zeitgleich auf der Bühne laufenden Probe zur Oper „Kát’a Kabanová“ von Leoš Janáček. Bis zur Premiere ist es noch eine gute Woche. Gestalterische Aufgabe Wolfgang Rothe ist der Kaufmännische Geschäftsführer der Sächsischen Staatstheater. Dazu gehört neben der Staatsoper Dresden, wie die Semperoper formal heißt, auch das Staatsschauspiel Dresden. Um die 1 200 Menschen arbeiten für die beiden Häuser, die nur wenige Hundert Meter voneinander entfernt liegen, davon allein mehr als 410 künstlerische und über 160 technische Beschäftigte für die Staatsoper. Die Dekorations- und Kostümwerkstätten und die Verwaltung sind für beide Theater zuständig. Rothes Aufgabe ist ein Spagat. Den Staatsbetrieb des Freistaates Sachsen soll er nach dessen Regeln kaufmännisch führen; diese Regeln sind aber vor allem auf Verwaltungsbehörden gemacht. „Ich fühle mich nicht als Verwalter“, sagt Rothe während des Gesprächs in seinem im Neubautrakt der Semperoper gelegenen Büro. Er habe eine „gestalterische Aufgabe“; mittelbar nehme er auch Einfluss auf auf die künstlerische Entwicklung des Hauses. Für seine regulatorische Aufgabe – Geld vom Freistaat beschaffen und für Einnahmen sorgen – nutzt er vorhandene Ermessensspielräume zum Besten der beiden Theater. „Unsere Aufgabe ist es, Kunst auf die Bühne zu bringen.“ Das Teilbudget für die künstlerischen Bereiche der Staatsoper betrug in 2023 laut Geschäftsführer Rothe rund 58 Millionen Euro. Zusätzlich sorgt der Staatsbetrieb Sächsisches Immobilien- und Baumanagement für Baumaßnahmen, Gebäudeunterhalt und Bewirtschaftungskosten. Vom Finanzministerium des Freistaates kommt Geld für den anstehenden Neubau eines Interimsgebäudes für das Funktionsgebäude während dessen Generalsanierung. Etwa ein Viertel des Budgets erwirtschaftet die Oper über Eintrittsgelder, daneben gibt es Erlöse aus Gastspielen, Spenden oder Sponsoring; die Auslastung des Hauses liegt 2024 bislang bei hervorragenden 94 Prozent. Finanzielle Schwierigkeiten bereiteten in den letzten Jahren vor allem die Preissprünge bei den Sachkosten, einschließlich derer für Dienstleister. Sanierungsbedürftiges Vorzeigehaus Sowohl für den Freistaat Sachsen als Träger als auch für die Stadt Dresden ist das Opernhaus ein kultureller Leuchtturm. Davon sind sowohl Wolfgang Rothe als auch Jan Seeger, der Technische Direktor der Staatsoper, überzeugt. 45 Prozent der Besucherinnen und Besucher kommen nicht aus Sachsen. Selbst internationale Gäste reisen an, um neben den berühmten Kunstsammlungen auch eine Vorstellung in der Semperoper zu besuchen. Doch auch für die Dresdner und Dresdnerinnen ist das Haus ein identitätsstiftender Ort: „Für die Leute hier ist die Oper wichtig, auch wenn das politisch nicht abgebildet wird“, sagt Seeger. Die Stadt Dresden bestimmt über die Geschicke der Staatstheater ja nicht mit. Manchmal bremst die Stadtverwaltung sogar, etwa bei der Genehmigung für einen Auftritt der Band „Kraftwerk“ im kommenden September auf dem Theaterplatz direkt vor dem Haupteingang. Der drohte an der Fürsorge für das „historische Kleinpflaster“ des Platzes, der der Stadt gehört, zu scheitern – und am Lärmschutz. Seeger, der ebenfalls 1982 als Lehrling bei den Bühnenbeleuchtern der Staatstheater begonnen hatte, kümmert sich neben dem Brand- und Arbeitsschutz natürlich um die Gesamtleitung der technischen Umsetzung der Bühnenbilder und den technischen Ablauf der Vorstellungen. Der Planungsvorlauf für Operninszenierungen liegt bei über einem Jahr; Künstler und Regisseurinnen müssen teils drei Jahre im Voraus gebucht werden. Neben dem Tagesbetrieb bohrt er die ganz dicken Bretter für das Haus: Er muss die Auszubildenden finden und sich um die Generalsanierung der Funktionsgebäude und den Bau des dann benötigten Interimsbaus kümmern – bei laufendem Betrieb. Die Gebäude aus den frühen Achtzigerjahren sind gut gepflegt worden, inzwischen aber „bautechnisch verschlissen“, sagt Seeger. Durch die Fenster mit ungedämmten Aluprofilen lasse sich der angrenzende Zwingergarten im Winter gut mitbeheizen, während sich auf den Scheiben Eisblumen bilDas Herz der schönen Maschine Semperoper: Blick in den Himmel des Bühnenhauses. Im Malersaal können auch großformatige Dekorationen gestaltet werden. Jan Seeger © Jan Brenner (10) FOKUS 15 dbb magazin | Juni 2024

den, erzählt Seeger über den Zustand etwa seines eigenen Büros. Auch die Dämmung der Betonaußenhülle des Gebäudes ist nicht so ausgeführt, wie in den Bauunterlagen von 1984 angegeben. Eine klimagerechte Sanierung sei daher dringend erforderlich, aber enorm aufwendig, zumal alle Leitungen, mit denen das Opernhaus versorgt wird, über das Funktionsgebäude verlaufen. Die Funktionsbauten stehen hinter dem Hauptgebäude und sind mit diesem durch verglaste Brücken verbunden. So bewegen sich Tänzer und Sängerinnen in Maske und Kostüm stets innerhalb des Gebäudekomplexes, wenn sie zwischen Bühne und Garderoben hin- und herwechseln. Da dies auch während der Bauphase so bleiben soll, müsse, so Seeger, zunächst ein Interimsbau her. Er rechnet mit acht Jahren Bauzeit; allein für die Baufeldfreimachung veranschlagt er wegen der Leitungen im Boden und der im Dresdner Stadtzentrum stets notwendigen Kampfmittelräumung anderthalb Jahre. Nach der Zwischennutzung während der Generalsanierung des Funktionsgebäudes wird der zu errichtende Neubau in einen ersten Teil des Probebühnenzentrums umgewandelt. Hinter der Bühne Jens Kühn bewegt sich gelassen durch die Bühnendekorationen der MozartVorstellung vom Vorabend. Bereits nach der Aufführung und am frühen Morgen hatten sie die Bühne umgebaut: von der „Zauberflöte“ zu „Kabanová“. Ganz am Rande stehen schon die meterlangen rollbaren Transportkisten mit Bühnenteilen für den Abend. Wenn die Probe gegen 13 Uhr beendet sein wird, geht die Bühnentruppe an den zweiten Umbau des Tages. Sie bauen dann „Kabanová“ ab und „Romeo und Julia“ auf. Die Arbeit ist trotz Fahrstühlen und Bühnentechnik körperlich mitunter hart. „Irgendwann im Laufe des Auf- wie des Abbaus muss jedes Bühnenteil auch mal mit Muskelkraft bewegt werden“, weiß Kühn aus jahrzehntelanger Erfahrung. Als Dekorateur kümmert sich Kühn auf der Bühne insbesondere um Bodenbeläge, Vorhänge, Möbel, hilft aber selbstverständlich auch den Bühnentechnikern mit den größeren Bühnenteilen. Immer mal sei er auch sichtbar in die Vorstellung eingebunden: Er würde dann kostümiert auf offener Bühne arbeiten. Und die Zuschauer nähmen die Veränderungen durchaus wahr. Kühn erzählt von einem Umbau während eines Orchesterzwischenspiels in Richard Wagners „Meistersinger“: Wenn sich der Vorhang nach nur 70 Sekunden wieder öffnet und die Bühne sich komplett verändert hat, gibt es oft spontanen Applaus. Offensichtlich sind auch die technischen Abläufe ein durchchoreografierter Teil jeder Inszenierung. Und: „Kein Tag ist hier wie der andere.“ Kühn freut das. Der erste vom Architekten Gottfried Semper 1838 bis 1841 gestaltete Bau im Stil der Frührenaissance fiel 1869 einem Feuer zum Opfer. Semper betreute dessen Wiederaufbau – vom Ausland aus, da er wegen seiner Beteiligung an den Maiaufständen 1849 polizeilich verfolgt wurde. Der zweite Bau wurde am 13. Februar 1945 zerstört – und, auf den Tag genau, 40 Jahre später mit dem „Freischütz“ wiedereröffnet. Auch dieser dritte Bau orientierte sich an den Plänen Sempers. Komponisten wie Heinrich Schütz, Richard Wagner und Richard Strauss begründeten den Ruhm des Hauses; „Tannhäuser“, „Rienzi“, „Der fliegende Holländer“, „Salome“, „Elektra“, „Der Rosenkavalier“ und viele andere Meisterwerke erlebten hier ihre Uraufführung. Hier spielt die Sächsische Staatskapelle Dresden, 1548 gegründet und eines der weltweit traditionsreichsten Orchester; der von Carl Maria von Weber gegründete Opernchor feierte 2017 seine ersten zwei Jahrhunderte. In der laufenden Saison 2023/24 hat die Semperoper 23 Opern, vier Ballettinszenierungen und zwei Konzertprogramme im Repertoire, zehn Stücke werden neu inszeniert, davon sind drei Uraufführungen und eine ist eine deutsche Erstaufführung. Das Haus verfügt über 1 300 Plätze; es werden 277 Vorstellungen gespielt, die Sächsische Staatskapelle Dresden gibt zwölf Symphoniekonzerte und geht außerdem mit Orchesterprogrammen auf Tourneen. Im Jahr 2023 kamen 326 800 Besucher und Besucherinnen ins Haus. Die Auslastung lag bei etwa 88 Prozent, da die Normalisierung der Besuchernachfrage nach der Coronapandemie noch etwas Zeit benötigt; 2024 liegt sie bisher bei 94 Prozent. Mit Beginn der Saison 2024/25 im September wird das Haus von der Schweizerin Nora Schmid als neuer Intendantin geleitet werden. Semperoper: Tragödie und Triumph Den Leiter der Schlosserei-Rüstkammer, Ralf Seurich, treiben Nachwuchssorgen um. Die Waffen sind zu einem Teil historischeStücke aus der jeweiligen Zeit. Aus Sicherheitsgründen ist die Waffenkammer verschlossen. Jens Kühn 16 FOKUS dbb magazin | Juni 2024

Aber die Arbeit in zwei Schichten schlaucht auch. Kühn und seine Kolleginnen und Kollegen von der Bühnentechnik sind von 6.30 bis 15 Uhr oder von 14.45 bis 23.15 Uhr am Werk. Die Dienste verteilen sich auf alle Wochen- und grundsätzlich auch auf alle Feiertage. Nur Heiligabend ist spielfrei. An Wochenenden gibt es häufig Doppelvorstellungen. „Die Leute kommen zu uns, wenn sie frei haben und sich einen wirklich besonderen Abend machen möchten. Viele Besucher kapieren erst im Nachhinein, dass jemand in dieser Zeit für sie arbeitet.“ Das hatte Kühn schon im Vorgespräch gesagt. Weil das anfallende Pensum ja geschafft werden muss, können sich Dienste nach großen Vorstellungen oder bei besonders aufwendigen Bühnenbildern auch bis tief in die Nacht verlängern, damit am darauffolgenden Morgen ab 10 Uhr geprobt werden kann. Dies betrifft etwa 30 Prozent der Dienste, sagt Kühn. Zwar gebe es einen generellen Ausgleich, Arbeitszeitkonten, die innerhalb der Spielzeit ausgeglichen werden sollen, garantiert mindestens einen freien Tag in der Woche und alle sieben Wochen einen freien Sonn- oder Feiertag. Aber anders als vor 30 Jahren gibt es immer weniger planmäßige Wechsel zwischen den Schichten. Immer häufiger werde nach Bedarf gearbeitet, und der habe sich stark verändert. Einerseits gebe es viel mehr technische Möglichkeiten bei Beleuchtung, Bühnen- und Videotechnik, andererseits würde im Bühnenbau weniger Holz- und Stoffbespannung und mehr Stahlbau verwendet, schildert Kühn die Entwicklung. Die Ansprüche an Bühnenbilder hätten sich verändert, weil sich die Sehgewohnheiten der Zuschauer durch Kino und Videospiele verändert haben. „Oper muss auch optisch was bieten“, weiß Kühn so wie alle anderen im Haus. Zudem würde, anders als in den Achtzigerjahren, vor allem in Originaldekorationen geprobt, und die seien komplexer, technisch anspruchsvoller und physisch schwerer geworden. All das kostet mehr Zeit im Auf- und Abbau – und auch mehr Kraft. Auszubildende dringend gesucht Junge Menschen würden sich das mit der Bewerbung um eine Ausbildungsstelle an der Oper unter diesen Umständen – Schichtbetrieb, ausgreifende Arbeitszeiten und körperliche Belastung – zweimal überlegen. Es herrsche „ein krasser Arbeitskräftemangel“, der sich für Kühn auch daraus erklärt, dass sehr viele Menschen bei der Eröffnung des Hauses sehr jung eingestellt worden waren, gemeinsam altern, an Kondition verlören und peu à peu das Haus in Richtung Rente verließen. Seeger ist für die Auszubildenden verantwortlich und erlebt, wie vor allem die Arbeitszeiten immer wieder potenzielle Bewerber abschrecken. In den nächsten zehn Jahren wird es im Bereich Technik und Werkstätten der gesamten Staatstheater 107 Altersaustritte geben. Das ist fast ein Drittel der Belegschaft dort. Technische Aushilfen, mit denen die Personalengpässe vorübergehend gedeckt werden könnten, sind kaum zu finden. Rothe, der Kaufmännische Geschäftsführer, will dieser Überalterung insbesondere mit der Ausbildungsoffensive “plus25” begegnen, aber auch mit Stellen aus dem Demografiepool des Freistaates Sachsen. In den kommenden zehn Jahren würden jährlich anstatt zwei nun zehn Auszubildende je Ausbildungsjahrgang aufgenommen. Diese Azubis auch zu finden, das sei schwierig. Die Personalabteilung sucht zum Beispiel auf Ausbildungsmessen nach geeigneten Bewerbern. Der Fachkräftemangel ist im gesamten Haus zu spüren. An Operninszenierungen arbeiten mehr als 80 Fachleute aus über 20 Gewerken mit, erzählt Pressereferent Oliver Bernau beim Rundgang durch die Theaterwerkstätten. „Kostüme, Perücken, Requisiten, Dekorationen, ja selbst die Schuhe – das sind alles Spezialanfertigungen.“ Besonders dringlich ist die Situation in der Rüstkammer, einem labyrinthischen Ort, wo Metallrequisiten und Waffen aller Art hergestellt und gelagert werden. Leiter Ralf Seurich sucht nach Leuten, die erst ein Praktikum und dann eine Ausbildung zum Metallschlosser oder zum Waffenschmied machen möchten. Die Werkstatt ist ein Paradies für Bastelenthusiasten. Sorgfältig geplantes Privatleben Kühn hat gelernt, seine Arbeit – „Man ist ein Stück weit mit dem Haus verheiratet“ – mit seinem Privat- und Familienleben zu vereinbaren. „Man muss es sehr gut planen“, sagt er. Der Rest der Familie muss die unsteten Arbeitszeiten akzeptieren können, „Omas oder Opas müssen bei der Kinderbetreuung unterstützen“ und das Ganze „klappt nur, wenn die Partnerin zu normalen Zeiten arbeitet“. Dekorateur Kühn ist Mitglied des Personalrats und der Vereinigung der Rundfunk-, Film- und Fernsehschaffenden, der Mediengewerkschaft VRFF, und fordert, wie überall im Tarifgebiet Ost, die Angleichung der Arbeitszeiten an das Tarifgebiet West. Auch das könnte helfen, den Job attraktiver zu machen. „Theater ist wie ein Mikrokosmos“, sagt Oliver Bernau, nachdem er die Gäste auch durch den Theatermalsaal, die Möbel- und die Kulissenwerkstatt geführt hat. Damit jede Vorstellung „glatt durchlaufen“ kann, muss jeder „mit Begeisterung dabei sein“, unterstreicht er. Jedem im Haus, ob Kaufmännischem Geschäftsführer, Kulissenmaler oder Pförtnerin, ist diese Begeisterung anzumerken. Über einen Wechsel des Arbeitsplatzes hat auch Jens Kühn trotz der Strapazen nie ernsthaft nachgedacht. Er schätzt die Gemeinschaft, in der er arbeitet, und die Arbeit selbst. Die sei nie langweilig. „Es ist ein extrem interessanter Beruf. Bei vielen Opern arbeite ich schon an der dritten oder vierten Inszenierung mit!“ ada Nirgendwo ist Oper lebendiger: Schätzungen zufolge geht rund ein Drittel aller Opernaufführungen weltweit in Deutschland über die Bühne; die Zahl von mehr als 80 Opernhäusern ist international unübertroffen, ebenso die Zahl der Uraufführungen. Die meisten Opernaufführungen verzeichnet Berlin mit seinen drei unterschiedlich profilierten Opernhäusern. Die Region mit dem regsten Opernleben ist vielleicht die Metropolenregion Mitteldeutschland mit den Städten Dresden, Leipzig, Halle, Chemnitz und Erfurt. Im Durchschnitt kostet die Eintrittskarte für eine Opernvorstellung in Deutschland 40 Euro. Die tatsächlichen Kosten liegen aber weitaus höher – bei durchschnittlich 250 Euro, ermittelte der Spiegel im Jahr 2022. Die Differenz zwischen Ticketpreis und tatsächlichen Kosten wird aus den Kulturfördertöpfen von Bund, Ländern und Kommunen bestritten. Oper in Deutschland FOKUS 17 dbb magazin | Juni 2024

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