dbb magazin 7-8/2024

dbb magazin Arbeitszeit | Flexible Modelle nach Maß Interview | Melanie Schlotzhauer, Vorsitzende der Arbeits- und Sozialministerkonferenz 75 Jahre Grundgesetz | Demokratie stärken – Zusammenhalt fördern 7/8 | 2024 Zeitschrift für den öffentlichen Dienst

STARTER 16 10 TOPTHEMA Arbeitszeit AKTUELL NACHRICHTEN dbb Bürgerbefragung 2024: Ist der Staat noch handlungsfähig? 4 dbb Bundesvorstand: Investitionen trotz Schuldenbremse 5 NACHGEFRAGT Waldemar Dombrowski, zweiter Vorsitzender des dbb: Verlässliche und streitbare Partner für die Verwaltungsmodernisierung 7 DIALOG 75 Jahre Grundgesetz: Demokratie stärken – Zusammenhalt fördern 8 FOKUS INTERVIEW Melanie Schlotzhauer, Vorsitzende der Arbeits- und Sozialministerkonferenz: Künstliche Intelligenz könnte ein kleiner Teil der Antwort auf den Fachkräfte- mangel sein 10 DOSSIER ARBEITSZEIT Arbeitswelt: Die Belastung am Arbeitsplatz nimmt zu 12 Symposium zur Arbeitszeit: Der öffentliche Dienst muss entlastet werden 14 Moderne Arbeitszeitmodelle: Wie wir fexibel arbeiten und konkurrenzfähig bleiben 16 Aktuelle Studienlage: Wie halten Sie es mit der Arbeitszeit? 20 Bundesbeamte: Arbeitszeitregelungen im Fokus 22 Wöchentliche Arbeitszeit im Beamtenbereich: Hoher Standard mit ärgerlichen Ausreißern 24 ONLINE Verwaltungsdigitalisierung: Die vertrackte Akte 26 INTERN JUGEND Parlamentarisches Sommerfest der dbb jugend: Viele Gäste, viel Input 33 FRAUEN Künstliche Intelligenz: Müll rein, Müll raus 34 SENIOREN Gespräch im Bundesseniorenministerium: Unterstützung für Pflegende gefordert 35 SERVICE Impressum 41 KOMPAKT Gewerkschaften 42 26 Schöne neue Arbeitswelt Im Jahr 2050 arbeiten die meisten Menschen nur noch rund zwölf Stunden pro Woche. KI, Robotik und Quantencomputer haben der Wirtschaft einen Jahrhundertimpuls gegeben; der Fachkräftemangel ist der Vollbeschäftigung gewichen. Facharbeiter schicken geleaste Roboter zur täglichen Doppelschicht. Verwaltungsbeamte laden eine AI-Kopie ihres Selbst in das Behördennetzwerk hoch, um dort automatisierte Verfahren abzuarbeiten. Ärztinnen und Ärzte überwachen maschinelle Operationen, die heute noch als unmöglich gelten. Einsatzkräfte steuern ein Netzwerk humanoider Roboter mit ethischem Bewusstsein, die selbstständig intervenieren, retten und helfen. Die Beschäftigten treffen sich an einem Präsenztag pro Woche, um zu planen und Innovationen anzustoßen. Die neu gewonnene Freizeit nutzen viele für soziale Projekte und ehrenamtliches Engagement. Ob es jemals so weit kommt? Heute gilt es, die Arbeitswelt mit Bordmitteln neu zu gestalten. Aktuellen Studien zufolge geht es vielen Beschäftigten dabei nicht primär um eine Reduzierung der Wochenarbeitszeit. Der Wunsch nach Flexibilisierung steht im Vordergrund. Jüngst hat sich die FDP für ein Ende des starren Acht-Stunden-Tags eingesetzt und für eine Wochenhöchstarbeitszeit plädiert. Dieser und viele weitere Vorschläge werden kontrovers diskutiert – es ist Bewegung in die Arbeitszeitdebatte gekommen. Der öffentliche Dienst wird als größter Arbeitgeber Deutschlands eine Schlüsselrolle bei der Neugestaltung von Arbeit spielen. Die Gewerkschaften werden sich zu Wort melden und bereits in der Einkommensrunde 2025 für die Beschäftigten von Bund und Kommunen erste Impulse für die Zukunft der Arbeitszeitgestaltung setzen. br 30 Model Foto: Colourbox.de AKTUELL 3 dbb magazin | Juli/August 2024

NACHRICHTEN dbb Bürgerbefragung 2024 Ist der Staat noch handlungsfähig? 70 Prozent der Bürgerinnen und Bürger halten den Staat für überfordert. Nur noch 25 Prozent glauben, dass er seine Aufgaben erfüllen kann. Dieses Umfrageergebnis markiert einen neuen Tiefpunkt des Vertrauens in staatliche Institutionen. Der negative Trend der vergangenen Jahre setzt sich immer weiter fort. Überfordert ist der Staat demnach vor allem mit der Asyl- und Flüchtlingspolitik, der Bildungspolitik sowie der inneren Sicherheit. Das hat die 18. dbb Bürgerbefragung ergeben, die das Meinungsforschungsinstitut forsa durchgeführt hat. Die Befragten unterscheiden dabei klar zwischen den staatlichen Institutionen und ihren Beschäftigten: Auch 2024 belegen die Berufe des öffentlichen Dienstes wieder die Topplätze im Berufe-Ranking, allen voran die Feuerwehrmänner und -frauen. „Während wir jedes Jahr neue Negativrekorde über schwindendes Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Handlungsfähigkeit ihres Staates melden, steigt gleichzeitig das Ansehen der Beschäftigten. Der positive Trend beim Beamtenimage und im Berufe-Ranking kann den seit Jahren anhaltenden Verfall staatlichen Ansehens und institutioneller Autorität allerdings nicht aufhalten. Dafür ist die Politik verantwortlich und nur sie kann Abhilfe schaffen“, kommentierte der dbb Bundesvorsitzende Ulrich Silberbach die Ergebnisse am 26. Juni 2024 in Berlin. Soziales und Digitalisierung im Fokus Die wichtigsten Aufgaben des Staates sind aus Sicht der Befragten die Aufrechterhaltung der sozialen Gerechtigkeit, die Verbesserung der Infrastruktur, die Modernisierung und Digitalisierung des öffentlichen Dienstes sowie die Stärkung der Bundeswehr. Das Thema Klimaschutz und erneuerbare Energien ist im Prioritäten-Ranking der Bevölkerung im vergangenen Jahr deutlich zurückgefallen. Silberbach: „Was mich wirklich schockiert, ist, dass inzwischen 77 Prozent der Ostdeutschen, 90 Prozent der AfD-Wähler und 85 Prozent der FDP-Wähler unseren Staat für überfordert halten, und ich habe nicht den Eindruck, dass die Verantwortlichen daraus die richtigen Schlüsse ziehen. Wir brauchen keine neuen Staatssekretäre oder Sonderbeauftragte, keine Arbeitsgruppen und Symbolpolitik.“ Notwendig seien wirksame Investitions- und Modernisierungsprogramme bei den Themen Bildung und innere Sicherheit sowie ein konsequenter Neuansatz in der Migrationspolitik“, so Silberbach weiter. „Stichworte sind hier besser Steuerung und intensivere Förderung. Die Entscheider in Bund, Ländern und Gemeinden sollten einfach mal direkt die Kolleginnen und Kollegen in den Ämtern und Dienststellen ihres Zuständigkeitsbereiches fragen. Da sitzen die Fachleute, die die praktischen Erfahrungen haben und genau wissen, wie wir die Überforderung unseres Staates überwinden können.“ _ Im Auftrag des dbb beamtenbund und tarifunion hat forsa Gesellschaft für Sozialforschung und statistische Analysen mbH untersucht, wie der öffentliche Dienst und seine Leistungen von den Bürgerinnen und Bürgern in der Bundesrepublik wahrgenommen werden. Die Erhebung fand im Mai 2024 statt. Online befragt wurden 2 001 repräsentativ ausgewählte Bürgerinnen und Bürger ab 14 Jahren. Die Auswahl der Befragten erfolgte offline nach einem systematischen Zufallsverfahren, das sicherstellt, dass sich ein Spiegelbild der Gesamtbevölkerung in Deutschland ergibt. Die Bürgerbefragung 2024 im Download: t1p.de/buergebefragung2024. ▶ Die Datengrundlage dbb Bürgerbefragung Öffentlicher Dienst 2024 Foto: Colourbox.de Einschätzungen, Erfahrungen und Erwartungen der Bürger dbb Chef Ulrich Silberbach (links) und forsa-Geschäftsführer Peter Matuschek stellten die Ergebnisse der Bürgerbefragung am 26. Juni 2024 in Berlin vor. © Marco Urban 4 AKTUELL dbb magazin | Juli/August 2024

dbb Bundesvorstand Investitionen trotz Schuldenbremse Auf der Sommersitzung des dbb Bundesvorstandes am 17. Juni 2024 in Warnemünde standen neben den „Klassikern“ Dienstrecht und Tarifpolitik, innere Sicherheit, Bildung, KI und Digitalisierung die großen finanzpolitischen Zusammenhänge im Zentrum der Beratungen. Die Mitglieder des Bundesvorstandes diskutierten mit Heiko Geue (SPD), Finanzminister von Mecklenburg-Vorpommern, über die Zukunft der Schuldenbremse. Laut Geue steht Deutschland vor einer durchgreifenden Staatsmodernisierung: „Anders lassen sich die Auswirkungen des demografischen Wandels gar nicht bewältigen. Die zweite Hälfte der 20er-Jahre wird dabei noch viel einschneidender sein als die vergangenen Jahre. Die ‚Best Ager‘ verlassen den öffentlichen Dienst in Scharen. Ohne massive Zukunftsinvestitionen und aktives Changemanagement werden die Politiker und Dienstherren diese Herausforderung nicht bewältigen können.“ Hierfür gab es Unterstützung von dbb Chef Ulrich Silberbach, der darauf hinwies, dass der Sanierungsverzicht von heute das Staatsversagen von morgen nach sich ziehe: „Aber die Kolleginnen und Kollegen brauchen nicht nur eine nachhaltigere materielle und finanzielle Ausstattung. Sie brauchen auch die wirklich wirksame Rückendeckung und Solidarität der Politik, und zwar nicht nur in Sonntagsreden, sondern in ihrem Berufsalltag.“ Es werde auch über Reformen an der Schuldenbremse zu reden sein, so Geue: „Wir benötigen dafür aber eine Staatsmethodik für die Beurteilung der einzelnen Investitionen, die sicherstellt, dass es wirklich Zukunftsinvestitionen sind und am Ende mehr dabei herauskommt als nur die Summe von Schulden und Tilgung.“ Außerdem sollte jede Lockerung frühestens am 1. Januar 2026 in Kraft treten, damit das Thema Schuldenbremse aus dem bevorstehenden Bundestagswahlkampf herausgehalten werden könne. „Dann könnten alle Parteien endlich sachlich über die Frage diskutieren und nicht mit Rücksicht auf eine mögliche zukünftige eigene Regierungsbeteiligung.“ Viel Applaus bekam der Schweriner Finanzminister vom dbb Bundesvorstand auch für die Ankündigung, sich intensiv für die Schaffung eines „Besoldungskorridors Nord“ einsetzen zu wollen. Damit soll die Einkommensentwicklung für Beamtinnen und Beamte in Schleswig-Holstein, Hamburg und Mecklenburg-Vorpommern besser aufeinander abgestimmt und möglichst mittelfristig einander angenähert werden. Dietmar Knecht, dbb Landesvorsitzender in Mecklenburg-Vorpommern, erinnerte daran, dass Geue damit eine langjährige Forderung des dbb aufgreife: „Wir begrüßen die angekündigte Initiative des Finanzministers, möglichst einheitliche Besoldungsbedingungen an Ost- und Nordsee sowie an der Elbe anzustreben und dem ruinösen Besoldungsföderalismus entgegenzutreten.“ _ Der Finanzminister von Mecklenburg-Vorpommern, Heiko Geue, sprach vor dem dbb Bundesvorstand. © Bert Scharffenberg (2) Der dbb hat den ehemaligen zweiten Vorsitzenden des dbb und Fachvorstand Beamtenpolitik, Friedhelm Schäfer, in Anerkennung seiner Verdienste um die Gewerkschaftsarbeit des dbb und den öffentlichen Dienst mit der gold-silbernen Ehrennadel ausgezeichnet. Schäfer, der seine Ämter Ende 2023 aus gesundheitlichen Gründen niedergelegt hatte, nahm die Auszeichnung auf der Sitzung des dbb Bundesvorstandes am 17. Juni 2024 in Warnemünde entgegen. Der gebürtige Niedersachse ist seit 1973 Mitglied der Deutschen Steuer-Gewerkschaft (DSTG) und war von 2001 bis 2017 Vorsitzender des Landesbundes NBB Niedersächsischer Beamtenbund und Tarifunion und danach bis 2023 zweiter Vorsitzender und Fachvorstand Beamtenpolitik des dbb. Ehrennadel für Friedhelm Schäfer AKTUELL 5 dbb magazin | Juli/August 2024

die Kürzungen erheblich gefährdet“, Kürzungen würden sich negativ auf Bau- und Sanierungsprojekte auswirken. Gefährdet wären das vom Minister favorisierte Brücken-Modernisierungsprogramm, der Unterhaltungsbetrieb ebenso wie Neubauprojekte. „Aber nicht nur das. Auch für die weiterhin drängende Fachkräftegewinnung wäre das Gift: Wir suchen an allen Stellen nach Personal – vom Straßenwärter bis zum Ingenieur – und werden in den kommenden Jahren einen steigenden Bedarf an Fachkräften haben. Wir stellen schon bei den vorhandenen Kolleginnen und Kollegen eine spürbare Verunsicherung fest. Wie sich eine solche Diskussion auf potenzielle Bewerberinnen und Bewerber auswirkt, ist dann nicht schwer zu erraten.“ Eine funktionierende Infrastruktur sei von überragender Bedeutung, so Geyer: „Gerade aufgrund der teilweise gravierenden Probleme in den anderen Verkehrssektoren darf die Funktionsfähigkeit der Autobahn GmbH nicht leichtfertig infrage gestellt werden. Die Autobahnen sind Verkehrsträger Nummer eins in Deutschland und damit das Rückgrat der deutschen Wirtschaft. Für die anstehenden Aufgaben – ich nenne hier nur das Stichwort ‚Brückensanierung‘ – brauchen wir entsprechendes Personal. Ich erwarte deshalb von der Bundesregierung ein klares Bekenntnis zur Autobahn GmbH – inklusive einer aufgabengerechten Finanzierung.“ _ dbb Bundeshauptvorstand Waldemar Dombrowski ist neuer dbb Fachvorstand Beamtenpolitik Der dbb Bundeshauptvorstand hat Waldemar Dombrowski zum zweiten Vorsitzenden und Fachvorstand Beamtenpolitik des dbb beamtenbund und tarifunion gewählt. Der dbb Bundeshauptvorstand ist das höchste Entscheidungsgremium des dbb zwischen den Gewerkschaftstagen. Durch die Wahl von Waldemar Dombrowski am 6. Juni 2024 in Berlin ist die Bundesleitung des gewerkschaftlichen Dachverbandes wieder vollständig. Die Nachwahl war notwendig geworden, weil dbb Vize Friedhelm Schäfer, der seit 2017 amtiert hatte, seine Ämter Ende 2023 aus gesundheitlichen Gründen niedergelegt hatte. Der dbb Bundesvorsitzende Ulrich Silberbach erklärte nach der Abstimmung in Berlin: „Ich freue mich sehr auf die Zusammenarbeit mit Waldemar Dombrowski. Der Fachvorstand Beamtenpolitik trägt im dbb eine große Verantwortung, denn er vertritt die Interessen von über 900 000 bei unseren Mitgliedsgewerkschaften organisierten Beamtinnen und Beamten. In Waldemar Dombrowski werden sie einen kompetenten und kämpferischen Repräsentanten haben. Heute möchte ich mich aber auch bei Friedhelm Schäfer für die intensive und vertrauensvolle Zusammenarbeit während der vergangenen sieben Jahre bedanken.“ Dombrowski ist seit 2002 Bundesvorsitzender der vbba – Gewerkschaft Arbeit und Soziales und Vorsitzender der Geschäftsführung in der Agentur für Arbeit Bad Hersfeld/Fulda. Der neue zweite Vorsitzende benannte die aus seiner Sicht wesentlichen Herausforderungen: „Der demografische Wandel und der Fachkräftemangel werden weiter Fahrt aufnehmen. Umso wichtiger ist es, die Attraktivität des öffentlichen Dienstes im Allgemeinen sowie des Berufsbeamtentums im Besonderen zu stärken.“ _ Bundeshaushalt 2025 Betrieb und Fachkräftegewinnung bei der Autobahn GmbH in Gefahr Bundesverkehrsminister Volker Wissing plant, die Mittel für die Autobahn GmbH extrem zu kürzen. Der dbb warnt vor den Folgen für die Personalrekrutierung und den Autobahnbetrieb. Weil der Ampelkoalition im Streit um den Bundeshaushalt 2025 immer noch viele Milliarden Euro fehlen, plant Bundesverkehrsminister Volker Wissing nach Medienberichten, nun die Mittel für die Autobahn GmbH erheblich zu kürzen. Der dbb Fachvorstand Tarifpolitik Volker Geyer, der auch stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender der Autobahn GmbH ist, zeigte sich bei der Sitzung des Aufsichtsrats am 18. Juni 2024 alarmiert: „Der gesamte Autobahnbetrieb ist durch Foto: Colourbox.de 6 AKTUELL dbb magazin | Juli/August 2024

NACHGEFRAGT Waldemar Dombrowski © Jan Brenner Drei Fragen an Waldemar Dombrowski, zweiter Vorsitzender des dbb Verlässliche und streitbare Partner für die Verwaltungsmodernisierung Was hat Sie zur Kandidatur für das Amt des dbb Fachvorstand Beamtenpolitik motiviert? Vor allem die große und komplexe Aufgabe in anspruchsvollen, herausfordernden Zeiten. Mit Blick auf die multiplen Krisen, denen die Bundesrepublik derzeit begegnen muss, möchte ich dazu beitragen, das Berufsbeamtentum zu stabilisieren und proaktiv weiterzuentwickeln – nicht zuletzt, weil es nach wie vor die „Kernmarke“ des dbb ist. Ich sehe der Aufgabe mit Freude entgegen, denn ich kann mit einem kompetenten und vielfältigen dbb Team arbeiten, das die anstehenden Aufgaben meistern wird. Auch die vertrauensvolle und erfolgreiche Zusammenarbeit mit dem dbb Bundesvorstand, dem ich seit 2002 angehöre, möchte ich in neuer Funktion engagiert fortsetzen. Und letztlich möchte ich etwas zurückgeben: Als ich meine Kandidatur vor sieben Jahren aus zwingenden, familiären Gründen unmittelbar vor dem Bundesgewerkschaftstag zurückziehen musste, habe ich von Kolleginnen und Kollegen Verständnis und persönlichen Zuspruch erfahren. In dieser speziellen Situation, nämlich der Vakanz auf der Position des Fachvorstandes Beamtenpolitik, war es mir deshalb besonders wichtig, Verantwortung zu übernehmen. Das klingt, als hätten Sie sich einiges vorgenommen. Womit fangen Sie an? Angesichts des demografischen Wandels und des zunehmenden Fachkräftemangels werden wir alles dafür tun, die Attraktivität des öffentlichen Dienstes und die des Berufsbeamtentums zu verbessern. Dazu gehört es, der Politik, den Institutionen und der Wirtschaft unsere praktische Relevanz für die Sicherung unserer Demokratie und unseres Wirtschaftsstandortes noch nachdrücklicher anzubieten und die Modernisierung der Verwaltung voranzutreiben. Allen Beteiligten muss klar sein, dass dafür nicht nur faire und attraktive Rahmenbedingungen unabdingbar sind, sondern auch verlässliche, aber gleichsam streitbare Partner. Bei den Bundesbeamtinnen und -beamten stehen natürlich die überfällige Umsetzung einer amtsangemessenen und verfassungskonformen Alimentation und die Rückführung der Wochenarbeitszeit ganz oben auf der Agenda. Weiter erfordert der wachsende Personalmangel eine kluge Weiterentwicklung des Beamten- und Laufbahnrechts, um die Attraktivität des Berufsbeamtentums gegenüber Karrieren in der Wirtschaft zu steigern. Innerhalb des Dachverbandes – und das dürfte niemanden überraschen – setze ich auf eine gute, offene Kommunikation und enge Zusammenarbeit mit unseren Fachgewerkschaften und Landesbünden. Wenn wir unsere breit gefächerten fachlichen Kompetenzen ausspielen und Synergien konsequent nutzen, bin ich zuversichtlich, mit der dbb Familie wichtige Akzente für die Zukunft des öffentlichen Dienstes zu setzen. Stichwort Zukunft: Das Berufsbeamtentum hat in Deutschland eine mehr als 200-jährige Tradition. Was macht es für 2024 besonders zeitgemäß und wo sehen Sie Modernisierungspotenzial? Das Berufsbeamtentum hat sich als solches bewährt und ist nicht ohne Grund fest in unserer Verfassung verankert. Gegenwärtig steht unsere Demokratie von außen und innen unter enormem Druck. Wir leben in einer Zeit der Umbrüche, was auch technologische und wirtschaftliche Aspekte umfasst. Das alles geht an der Gesellschaft nicht spurlos vorüber. Bürgerinnen und Bürger sehen die Risiken der Zeit sehr klar, das hat auch die jüngste Forsa-Umfrage des dbb deutlich gemacht. Vor diesem Hintergrund ist das Berufsbeamtentum als stabile, neutrale und unabhängige Konstante in der bundesrepublikanischen Geschichte noch nie so wertvoll gewesen wie heute. Es garantiert gleichermaßen Sicherheit, Bildung und Daseinsvorsorge – unabhängig von der jeweils gewählten Regierung. Beim Beamten- und Laufbahnrecht müssen wir deshalb eine kluge Weiterentwicklung im Fokus behalten, bei der die erforderlichen Qualitätsstandards ebenso berücksichtigt werden wie notwendige Flexibilisierungskomponenten. Es muss mehr denn je auch im Interesse der Dienstherren liegen, dass wir die Kompetenzen, Erfahrungen und Talente unserer Kolleginnen und Kollegen in den Verwaltungen und Behörden noch stärker für die Weiterentwicklung des öffentlichen Dienstes nutzen. _ AKTUELL 7 dbb magazin | Juli/August 2024

DIALOG 75 Jahre Grundgesetz Demokratie stärken – Zusammenhalt fördern Am 23. Mai 2024 hat das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland sein 75. Jubiläum gefeiert. Es bildet die Basis für unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung. Doch deren Erhalt ist keine Selbstverständlichkeit. Zunehmende Angriffe auf die Demokratie und das verstärkte Aufkommen von Hass, Hetze und Gewalt zeugen davon, dass die Gesellschaft wieder näher zusammenrücken muss, um Grundrechte zu bewahren und das Grundgesetz gegen antidemokratische Angriffe zu verteidigen. Ulrich Silberbach und Moderatorin Juliane Hielscher Der dbb Bundesvorstand hat auch mit Blick auf dieses Jubiläum das Positionspapier „Demokratie stärken – Zusammenhalt fördern“ beschlossen. Der dbb Bundesvorsitzende Ulrich Silberbach erklärt die Hintergründe: „Der Zusammenhalt in der Gesellschaft droht auseinanderzubrechen, Populismus und Extremismus sind auf dem Vormarsch. Politische Konflikte werden immer unversöhnlicher ausgetragen; es wird schwieriger, Kompromisse zu finden.“ Ein wesentliches Problem sieht der dbb Chef in der Erosion des Vertrauens in Politik und Verwaltung: „Wenn der Staat und seine Institutionen an Akzeptanz verlieren, ist das Wasser auf die Mühlen von Extremisten.“ Rücksichtslosigkeit und Gewalt würden zunehmen. Beleidigungen und „Hatespeech“ seien längst nicht mehr nur auf den digitalen Raum beschränkt. „Auch körperliche Übergriffe werden mehr – gerade auf Repräsentanten des Staates, darauf weisen wir schon lange hin“, so Silberbach. Dem entgegenzutreten sei eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe: „Ich bin fest überzeugt, dass wir immer wieder für die Demokratie kämpfen müssen. Alle demokratischen Kräfte sind deshalb gut beraten, sich demokratiefeindlichen Entwicklungen entgegenzustellen.“ Die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes und die Mitglieder des dbb seien dabei besonders gefordert, denn „die freiheitlich-demokratische Grundordnung und das Bekenntnis zu ihr stellen die Handlungsgrundlage für unsere gewerkschaftspolitische Arbeit und ebenso für die Arbeit der Beschäftigten des öffentlichen Dienstes dar.“ Gegen schwindendes Vertrauen in den Staat helfe eine konsequente Stärkung des öffentlichen Dienstes. „Er ist Garant für rechtsstaatliche und sichere Verhältnisse und in vielfältiger Weise sowohl Dienstleister als auch Multiplikator für den gesellschaftlichen Zusammenhalt.“ dbb dialog digital „Einigkeit und Recht und Freiheit: 75 Jahre Grundgesetz“ Am 3. Juni 2024 diskutierte Ulrich Silberbach im Webtalk „dbb dialog digital“ mit dem Titel „Einigkeit und Recht und Freiheit: 75 Jahre Grundgesetz“ mit der ehemaligen Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger und dem Juristen und Politikwissenschaftler Albrecht von Lucke. Wie stärken wir Demokratie, gesellschaftlichen Zusammenhalt und rechtsstaatliche Institutionen? Welche Rolle spielt der öffentliche Dienst für die freiheitlich-demokratische Grundordnung? Albrecht von Lucke konstatierte den Institutionen in seinem Einführungsimpuls eine dramatische Vertrauenskrise. Anschläge auf Polizisten, überlastete Gerichte sowie zunehmende Angriffe auf Politiker und sogar Wahlhelfer zeigten deutlich, dass die Demokratie Schaden nimmt, wenn die drei staatlichen Gewalten – Judikative, Exekutive und Legislative – jetzt nicht massiv gestärkt werden: „Was wir brauchen, ist eine Neuauflage des Pakts für den Rechtsstaat und vor allem endlich dessen vorbehaltlose finanzielle und personelle Unterfütterung.“ In einem Staat, der die Handlungsfähigkeit verliere, der seine Bürger, Beschäftigten und Politiker nicht mehr schützen könne, erodieren die Menschen- und Bürgerrechte langsam, aber sicher. „Letztlich bekommen wir es dann mit einem Autoritätsverlust des Staates zu tun, in dem die Macht der Straße Überhand gewinnt und dem Staat an die Wurzel geht.“ © Jan Brenner 8 AKTUELL dbb magazin | Juli/August 2024

Ebenso werde eine geistig-moralische Wende im Verständnis der Demokratie benötigt: „Denn ohne starken, handlungs- und durchsetzungsfähigen Staat ist alles andere nichts, sind auch alle Grundrechte nichts wert. Das heißt, auch die Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes steht und fällt mit der – vorhandenen oder fehlenden – Autorität des Staates, der sie durchzusetzen hat.“ Dabei sei das Grundgesetz in seiner Qualität bis heute unverändert. Es sei jedoch immer nur so stark, wie es mit Leben gefüllt werde. „Auch die Weimarer Verfassung ist nicht an ihrem Wortlaut gescheitert, sondern an fehlenden Gelingensbedingungen“, mahnte von Lucke. Wenn nach der aktuellen Bürgerbefragung des dbb nur noch 27 Prozent der Menschen an die Handlungsfähigkeit des Staates glaubten und die anderen zwei Drittel täglich in ihrer Wahrnehmung eines schwachen Staates bestätigt würden, sei das gefährlich für die Demokratie, zumal die Politikverachtung mittlerweile eine bisher nicht gekannte Dimension erreicht habe. „Seit 1990 sind wir davon ausgegangen, dass die Demokratie sicher ist. Dann gab es eine starke Tendenz des ,privat vor Staat‘, die letztlich zur Ausdünnung von Institutionen und Infrastrukturen geführt hat. Heute müssen wir uns wieder ernsthaft fragen, was unser Gemeinwesen braucht, um zu funktionieren.“ Mit Blick auf die Debatte um ein mögliches Verbot der AfD stellte von Lucke klar, dass die Partei zuallererst inhaltlich bekämpft werden muss. Weiter seien die Institutionen – zum Beispiel auch die Universitäten – gut beraten, ihre Würde wieder unmissverständlich gegenüber Grenzüberschreitungen zu verteidigen, statt sich, wie zum Teil geschehen, auf die Seite derjenigen Studierenden zu stellen, die demokratische Prinzipien aushebeln wollten. Tiefgreifende Veränderungen Auch für Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, ehemalige Bundesjustizministerin und ehrenamtliche Antisemitismusbeauftragte des Landes Nordrhein-Westfalen, liegen die Probleme nicht im Verfassungstext, sondern in der Verfassungswirklichkeit in Deutschland. Verrohung, Enthemmung und Radikalisierung in der Gesellschaft haben aus ihrer Sicht vor allem zwei Ursachen: „Einerseits eine tiefgreifende Veränderung im Parteiensystem. Erstmals sind extrem rechte Parteien wie die AfD flächendeckend in den Parlamenten vertreten. Das hat zu einer weiteren Zuspitzung und Enthemmung der innenpolitischen Debatten geführt. Außerdem hat sich ein tiefgreifender Vertrauensverlust in die Handlungsfähigkeit der staatlichen Institutionen breitgemacht.“ Dagegen vorzugehen, sei eine Hauptverantwortung der heute agierenden Politikerinnen und Politiker. „Sie müssen in Wort und in Tat klar und nachhaltig sein. Außerdem müssen wir beim staatlichen Handeln – schon aus finanziellen Gründen – Prioritäten setzen und uns auf die wirklich wichtigen Aufgaben konzentrieren, die zuständigen Stellen dann aber auch in die Lage versetzen, sie zu erledigen“, so Leutheusser-Schnarrenberger. „Konflikt und Debatte gehören zur Entscheidungsfindung. In den aktuellen Debatten gibt es aber eine Verhärtung und ein Lagerdenken, in dem immer nur die eigene Seite recht hat. Dieser Weg führt in die Radikalisierung, nicht zum Kompromiss.“ Bei allen Debatten über Veränderungen am Grundgesetz selbst riet die ehemalige Bundesjustizministerin zur Vorsicht: „Jede Änderung kann dann in Zukunft auch nur mit Zweidrittelmehrheit wieder rückgängig gemacht werden.“ Die Regelungen zu Amtszeit und Anzahl der Richter und Senate am Bundesverfassungsgericht, die bisher nur durch einfaches Gesetz geregelt sind, würde Leutheusser-Schnarrenberger gleichwohl trotzdem lieber direkt im Verfassungstext verankert wissen. „Die jüngsten Versuche, vor allem in Ungarn und Polen, haben uns gezeigt, wie gefährlich es für die Unabhängigkeit der höchsten Gerichte werden kann, wenn solche Strukturfragen politisiert und von einfachen Parlamentsmehrheiten verändert werden können“, warnte die Liberale. Ulrich Silberbach beschrieb die Verfassung zwar als „stabil und gut“, gab jedoch zu bedenken, dass es nicht nur personell an denjenigen mangele, die „die oft und gerne geforderte Härte des Gesetzes gegen Feinde der demokratischen Grundordnung umsetzen“. Die Kolleginnen und Kollegen bedürften zudem eines klaren Bekenntnisses seitens der Politik. „Wenn die Bundesministerin des Innern als oberste Dienstherrin in diesem Kontext das Disziplinarrecht für Beamtinnen und Beamte verschärft, statt die Kolleginnen und Kollegen vor Übergriffen zu schützen, trägt das nicht unbedingt zu mehr Vertrauen bei.“ Neben Personalmangel trage auch die unzureichende Verwaltungsdigitalisierung zum Vertrauensverlust bei, „nicht nur der Bürger gegenüber den Institutionen. Auch die Beschäftigten selbst sind zum Teil verunsichert und unzufrieden.“ Generellen Reformbedarf bezüglich des Grundgesetzes sah Silberbach allerdings nicht. Dessen Artikel müssten jedoch mit Leben gefüllt und umgesetzt werden können, und das habe ebenso mit der personellen und materiellen Ausstattung des öffentlichen Dienstes zu tun wie mit dem Diskurs über Zusammenleben, Demokratie und Institutionen, der „wieder in der Mitte der Gesellschaft stattfinden muss“. _ „Ohne starken, handlungs- und durchsetzungsfähigen Staat ist alles andere nichts.“ Albrecht von Lucke „Es hat sich ein tiefgreifender Vertrauensverlust in die Handlungsfähigkeit der staatlichen Institutionen breitgemacht.“ Sabine Leutheusser-Schnarrenberger © Tobias Koch © Tobias Tanzyna AKTUELL 9 dbb magazin | Juli/August 2024

INTERVIEW Melanie Schlotzhauer, Vorsitzende der Arbeits- und Sozialministerkonferenz Künstliche Intelligenz könnte ein kleiner Teil der Antwort auf den Fachkräftemangel sein Viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wünschen sich flexiblere Arbeitszeiten; erste politische Vorstöße zur Flexibilisierung stehen im Raum. Welche Wege können dafür eingeschlagen werden? Auch ich nehme das Bedürfnis von vielen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern wahr, zeitlich flexibler arbeiten zu können. Für viele Familien wäre es eine Erleichterung bei der Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben, wenn sie nicht jeden Tag um Punkt neun Uhr anwesend sein müssten, sondern besser auf spontan eintretende Situationen, beispielsweise in der Kita oder Schule, reagieren können. Gleitzeit ist bisher keine Selbstverständlichkeit und hinzu kommt, dass in vielen Berufen ein zeitlich bestimmter Arbeitsbeginn unerlässlich ist. Arbeitszeitrecht ist immer und zuallererst Gesundheitsschutz. Die gesetzlich vorgeschriebenen Ruhezeiten und täglichen Höchstarbeitszeiten dienen dazu, dass Beschäftigte sich zwischen den jeweiligen Arbeitsphasen erholen können. Dies sollte auch bei einer möglichen Reform des Arbeitszeitrechts weiterhin an oberster Stelle stehen. Reformvorschläge betreffen etwa die Einführung einer wöchentlichen Höchstarbeitszeit statt der bisherigen täglichen, sodass das „Wochenbudget“ flexibel und individuell über die Arbeitstage verteilt werden kann. Hier ist eine Reform mit Augenmaß gefragt. Flexibilisierte Arbeitszeitregelungen können aber auch zu Missbrauch führen, wenn Arbeitgeber Flexibilität mit Mehr- und Wochenendarbeit verwechseln oder Homeoffice mit permanenter Erreichbarkeit gleichsetzen. Wie können Beschäftigte davor geschützt werden? Flexible Arbeitszeiten sollten an den Bedürfnissen der Beschäftigten ausgerichtet sein und nicht zu ihrer zusätzlichen Belastung führen. Der Gesundheitsschutz sollte, wie gesagt, weiterhin leitend sein. Schnell vor dem Schlafengehen noch mal eine halbe Stunde E-Mails checken und beantworten, darf nicht die Regel werden. Ich erwarte, dass regelmäßige Ruhezeiten weiterhin ein Melanie Schlotzhauer ist Senatorin für Arbeit, Gesundheit, Soziales, Familie und Integration der Freien und Hansestadt Hamburg. © Senatskanzlei/Daniel Reinhardt 10 FOKUS dbb magazin | Juli/August 2024

wesentlicher Bestandteil des Arbeitszeitgesetzes bleiben, um Raum für die notwendige Erholung zu lassen. Laut Koalitionsvertrag sollen Beschäftigte in geeigneten Tätigkeiten einen Erörterungsanspruch über mobiles Arbeiten und Homeoffice erhalten. Wann ist mit einer gesetzlichen Regelung zu rechnen und wie könnte sie aussehen? Mobile Arbeit gehört inzwischen bei bis zu einem Viertel der Beschäftigten zu ihrer Arbeitsrealität, obwohl viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus rein faktischen Gründen überhaupt nicht mobil arbeiten können. Die, die es können, dürfen schon jetzt mit einem entsprechenden Wunsch an ihren Arbeitgebenden herantreten. Bisher lässt die angekündigte Regelung weiter auf sich warten. Der Bund ist hier am Zug. Grundsätzlich sollten Unternehmen zeitweises Homeoffice nur aus betrieblichen Gründen ablehnen oder einschränken können. Ein Erörterungsanspruch wäre damit ein erster Schritt, um den Wunsch der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer offiziell anmelden und das Unternehmen zu einer Positionierung bewegen zu können. Nach der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes vom 14. Mai 2019 und dem Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 13. September 2022 steht übrigens noch ein neues Gesetz zur Arbeitszeiterfassung aus … Die Pflicht zur Erfassung der gesamten Arbeitszeit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ist inzwischen höchstrichterlich sowohl auf europäischer als auch auf Bundesebene festgestellt. Ich erwarte, dass der Bund diese Pflicht und besonders die Aufzeichnungsmodalitäten zeitnah auch gesetzlich verankert. Die Arbeitgebenden sind angehalten, zur Aufzeichnung ein objektives, verlässliches und zugängliches System einzurichten. Hierzu und zu weiteren arbeitszeitlichen Regelungen gibt es auf Bundesebene weiterhin Abstimmungsbedarf. Dennoch ist die Rechtsprechung bereits heute verbindlich zu beachten und in den Betrieben umzusetzen. Stichwort Arbeitsschutz: 2019 hatte die ASMK die Einführung einer jährlichen Mindestbesichtigungsquote von fünf Prozent der im jeweiligen Bundesland vorhandenen Betriebe mit Zielkorridor bis 2026 vereinbart. Die Vorgaben wurden im Arbeitsschutzkontrollgesetz fixiert. Gibt es überhaupt genug Personal für mehr Kontrollen? Wie viele Branchen ist auch der öffentliche Dienst von einem Fach- und Arbeitskräftemangel betroffen. Hinzu kommt, dass nun alle Länder zusätzliches Personal benötigen. Die Leistungsfähigkeit des deutschen Arbeitsschutzsystems hängt neben der anforderungsgerechten Umsetzung der Arbeitsschutzvorgaben durch die Arbeitgebenden maßgeblich von der Beratung und Überwachung der Betriebe durch die staatlichen Arbeitsschutzbehörden ab. Das hat die Coronapandemie eindrucksvoll gezeigt. Aus diesem Grund ist die Stärkung der staatlichen Arbeitsschutzaufsicht ein wichtiges Ziel und spiegelt sich im Arbeitsschutzkontrollgesetz wider. Hinzu kommt, dass es nicht nur um zusätzliches Personal, sondern auch um die Optimierung der Prozesse der Arbeitsschutzaufsicht geht. Die Anzahl der Betriebsbesichtigungen sinkt seit Jahren. Hier kann durch Aufgabenkritik und Digitalisierung vieler Prozesse der Anteil der Betriebsbesichtigungen bei gleichbleibendem Personal erhöht werden. Das Elterngeld ist seit seiner Einführung nie erhöht worden. Wird es seiner Intention, Eltern nach der Geburt ihres Kindes finanziell abzusichern, überhaupt noch gerecht? Die Elterngeldhöhe ist sowohl in der niedrigsten als auch in der höchsten Einkommensstufe nicht mehr angemessen, um entsprechend der vom Gesetzgeber ursprünglich intendierten Lohnersatzfunktion zu wirken. Hierzu müssen die Mindest- und Höchstbeträge grundsätzlich auch in regelmäßigen Abständen angepasst werden. Hamburg hat in Anlehnung an die Weiterentwicklung anderer Lohnersatz- und Sozialleistungen eine Überprüfung der Mindest- und Höchstsätze in einem zweijährigen Abstand vorgeschlagen. Der Vorschlag wurde im Rahmen der Koalitionsverhandlungen auf Bundesebene bereits im Jahr 2021 eingebracht und fand Berücksichtigung im Koalitionsvertrag. Eine Umsetzung konnte allerdings aufgrund der Beanspruchungen des Bundeshaushaltes bisher nicht erfolgen. Im Gegenteil: Es wurden beim Elterngeld sogar Einsparungen für die Bezieherinnen und Bezieher hoher Einkommen vorgenommen. Die Spielräume sind daher leider sehr eng. Wir werden das Thema weiterhin im Blick behalten und wieder aufgreifen, sobald realistische Umsetzungsoptionen bestehen. Bitte werfen Sie zum Schluss einen Blick in die Glaskugel: Wie werden Digitalisierung und KI Arbeitswelt und Verwaltung verändern? Die Transformation der Arbeitswelt durch die Digitalisierung ist eine der aktuellen Megatrends am Arbeitsmarkt. Wir sind bereits mittendrin in der fortschreitenden Digitalisierung. Bei KI stehen wir noch am Anfang, sodass Umbrüche durch Software wie ChatGPT, aber auch durch Erfindungen wie den Pflegeroboter zeitnah noch viel stärker in das Bewusstsein aller Menschen rücken werden. Darin besteht auch die Chance auf den Ersatz beziehungsweise die teilweise Abnahme einfacherer und anstrengender Tätigkeiten durch Digitalisierung und KI. Und es könnte auch ein kleiner Teil der Antwort auf den bereits bestehenden Fachkräftemangel in vielen Branchen sein. Ich kann aber auch nachvollziehen, dass es in diesem Zusammenhang Vorbehalte und Ängste gibt. Hier werden eine konsequente Weiterbildung und Qualifizierung aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer unerlässlich sein, um sie fit für die Arbeitswelt von heute und morgen zu machen. _ „Arbeitszeitrecht ist immer und zuallererst Gesundheitsschutz.“ „Die Elterngeldhöhe ist sowohl in der niedrigsten als auch in der höchsten Einkommensstufe nicht mehr angemessen.“ FOKUS 11 dbb magazin | Juli/August 2024

DOSSIER ARBEITSZEIT Arbeitswelt Die Belastung am Arbeitsplatz nimmt zu Vor allem Beschäftigte im Staatsdienst sind inzwischen einer hohen psychischen Belastung ausgesetzt. Die Hauptursachen: Schichtdienst, Arbeitsverdichtung, Gewalterfahrungen. Eine Sonderabfrage im Rahmen der dbb Bürgerbefragung 2024 enthüllt alarmierende Details. Ein Grund für dieses Ergebnis liegt natürlich in den betreffenden Berufsbildern. In Schulen und Kitas, bei der Polizei, im Gesundheits- und Pflegedienst oder in der Eingriffsverwaltung sind psychische Belastungen ein Riesenthema. Zum Teil bringt das der Job mit sich. Was sich da in den vergangenen Jahren aber an Verrohung der Sprache, an Gewaltbereitschaft und Rücksichtslosigkeit in unserer Gesellschaft ausgebreitet hat, baden vorwiegend die Kolleginnen und Kollegen im öffentlichen Dienst aus“, analysiert der dbb Bundesvorsitzende Ulrich Silberbach die Ergebnisse des Sonderteils „Zukunft der Arbeit“ der dbb Bürgerbefragung 2024 (siehe Seite 4 in dieser Ausgabe). Hinzu kämen die Belastungen, die sich durch den wachsenden Personalmangel und ständig neue Aufgaben und Bürokratie im öffentlichen Dienst ergeben: „Arbeitsverdichtung, Überstunden, Doppelschichten. Das macht die Leute krank!“ Während in der Privatwirtschaft 37 Prozent der Beschäftigten angeben, „eher stark“ und elf Prozent „sehr stark“ psychisch belastet zu sein, sind es bei den Beamtinnen und Beamten 49 beziehungsweise 21 Prozent. Was die Gründe für psychische Belastungen betrifft, geben 43 Prozent derjenigen, die sich aufgrund ihrer beruflichen Tätigkeit stark psychisch belastet fühlen, an, dies sei aufgrund von Überstunden und Mehrarbeit der Fall. 36 Prozent begründen die psychische Belastungssituation mit Unstimmigkeiten im Kollegi- Psychische Belastung durch die berufliche Tätigkeit Es fühlen sich durch ihre aktuelle berufliche Tätigkeit psychisch belastet sehr stark eher stark weniger stark/ gar nicht % % % Erwerbstätige insgesamt 14 41 45 Männer 13 42 43 Frauen 14 39 46 18- bis 34-Jährige 11 43 44 35- bis 44-Jährige 14 36 49 45- bis 54-Jährige 14 45 40 55 Jahre und älter 15 38 46 Erwerbstätige ohne öffentlich Beschäftigte 11 37 51 Beschäftigte im öffentlichen Dienst: insgesamt 20 41 37 Tarifbeschäftigte 20 37 42 Beamte 21 49 29 Männer 16 43 40 Frauen 24 41 35 18- bis 34-Jährige 17 43 38 35- bis 44-Jährige 21 39 40 45- bis 54-Jährige 23 42 35 55 Jahre und älter 21 42 36 Basis: abhängig Beschäftigte; an 100 Prozent fehlende Angaben = „weiß nicht“ Psychische Belastung durch die berufliche Tätigkeit Es fühlen sich durch ihre aktuelle berufliche Tätigkeit psychisch belastet sehr stark eher stark weniger stark/ gar nicht % % % Erwerbstätige insgesamt 14 41 45 Männer 13 42 43 Frauen 14 39 46 18- bis 34-Jährige 11 43 44 35- bis 44-Jährige 14 36 49 45- bis 54-Jährige 14 45 40 55 Jahre und älter 15 38 46 Erwerbstätige ohne öffentlich Beschäftigte 11 37 51 Beschäftigte im öffentlichen Dienst: insgesamt 20 41 37 Tarifbeschäftigte 20 37 42 Beamte 21 49 29 Männer 16 43 40 Frauen 24 41 35 18- bis 34-Jährige 17 43 38 35- bis 44-Jährige 21 39 40 45- bis 54-Jährige 23 42 35 55 Jahre und älter 21 42 36 Basis: abhängig Beschäftigte; an 100 Prozent fehlende Angaben = „weiß nicht“ Psychische Belastung durch die berufliche Tätigkeit Model Foto: Colourbox.de 12 FOKUS dbb magazin | Juli/August 2024

um oder mit den Vorgesetzten. Bei 15 Prozent sind die Arbeitszeiten, bei zwölf Prozent das Arbeitsaufkommen beziehungsweise der Leistungsdruck und bei zehn Prozent die psychisch belastende Arbeit Grund für die Belastung. Acht Prozent begründen ihr Belastungsgefühl mit einer allgemein herausfordernden Arbeit oder Aufgaben, der damit verbundenen Verantwortung oder Komplexität der Aufgaben. Zeitflexibilisierung gewünscht Folgerichtig hat die Befragung zum Thema Arbeitszeit ergeben, dass die Beschäftigten in Deutschland dem Thema „Entlastung durch Arbeitszeitverkürzung und -flexibilisierung“ generell positiv gegenüberstehen. Insgesamt wünschen sich 72 Prozent der Befragten (77 Prozent im öffentlichen Dienst) eher einen zeitlichen als einen finanziellen Ausgleich für Überstunden und Mehrarbeit. Beschäftigte in der Privatwirtschaft und Angestellte im öffentlichen Dienst wünschen sich zudem häufiger eine Vier-Tage-Woche oder zusätzliche Urlaubstage; Beamtinnen und Beamte primär eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit. Silberbach: „Kein Wunder, sie arbeiten im Schnitt ja auch länger als andere Berufsgruppen. Bundesbeamte seit 2006 zum Beispiel 41 Stunden pro Woche. Das ist eine himmelschreiende Ungerechtigkeit, die durch nichts mehr begründet ist, außer durch die Ignoranz der Dienstgebenden. Die psychisch am stärksten belasteten Gruppen haben die höchsten Arbeitszeiten. Wer da den Zusammenhang nicht sieht und für Entlastung sorgt, ist entweder blind oder rücksichtslos.“ Es gibt aber auch positive Tendenzen, etwa im Bereich Zeitkonten: Mehr als 65 Prozent aller Befragten können ein sogenanntes Arbeitszeitkonto einrichten: 55 Prozent können dies als „Kurzzeitkonto“ führen, mit Ausgleich von Plus- oder Minusstunden innerhalb eines bestimmten Zeitraums von zum Beispiel einem Jahr. 19 Prozent können dies auch als „Langzeitkonto“ zum langfristigen Ansparen von Arbeitszeit, für eine Auszeit („Sabbatical“) oder einen vorzeitigen Berufsausstieg führen. Ein Arbeitszeitkonto können insbesondere Gewerkschaftsmitglieder sowie Tarifbeschäftigte im öffentlichen Dienst führen. Mehr Ausgleich schaffen Was die Arbeitszeit betrifft, wünscht sich jeder dritte abhängig Beschäftigte mehr Urlaubstage (33 Prozent), eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit (31 Prozent) oder ein Langzeitkonto zur Ansparung von Arbeitszeit (31 Prozent). Etwa jeder Vierte würde sich eine Vier-Tage-Woche (28 Prozent), die Möglichkeit des mobilen Arbeitens (23 Prozent) oder die Möglichkeit, Urlaub flexibel nach Bedarf zu nehmen (22 Prozent) wünschen. Die Wahlmöglichkeit „Freizeit statt Geld“ hätten gerne 16 Prozent; Zehn Prozent wünschen sich eine flexible Teilzeitregelung. Mehr Urlaubstage wünschen sich insbesondere die 45- bis 54-Jährigen und eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit eher die unter 45-Jährigen als die über 45-Jährigen. Eine Vier-Tage-Woche klingt überdurchschnittlich häufig für die unter 35-Jährigen attraktiv. Die abhängig Beschäftigten der freien Wirtschaft und die Tarifbeschäftigten im öffentlichen Dienst wünschen sich häufiger als Beamte mehr Urlaubstage oder eine Vier-Tage-Woche. Beamte hingegen haben überdurchschnittlich häufig den Wunsch nach einer Verkürzung der Wochenarbeitszeit. Dabei wünschen sich im öffentlichen Dienst beschäftigte Frauen häufiger als die Männer mehr Urlaubstage, die Möglichkeit des mobilen Arbeitens oder eine Vier-Tage-Woche. Eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit oder eine Vier-Tage-Woche wünschen sich überdurchschnittlich häufig die im öffentlichen Dienst Beschäftigten unter 45-Jährigen, während die über 45-Jährigen sich eher als die jüngeren Befragten ein Langzeitkonto zur Ansparung von Arbeitszeit wünschen. _ 10 dbb Bürgerbefragung „Öffentlicher Dienst 2024“ Von denjenigen, die sich aufgrund ihrer beruflichen Tätigkeit stark psychisch belastet fühlen, geben 43 Prozent an, dies sei aufgrund von Überstunden und Mehrarbeit der Fall. 36 Prozent begründen die psychische Belastungssituation mit Unstimmigkeiten im Kollegium oder mit den Vorgesetzten. Bei 15 Prozent sind die Arbeitszeiten, bei 12 Prozent das Arbeitsaufkommen bzw. der Leistungsdruck, bei 10 Prozent die (psychisch) belastende Arbeit Grund für die psychische Belastung. 8 Prozent begründen ihr Belastungsgefühl mit einer allgemein herausfordernden Arbeit bzw. Aufgaben, der damit verbundenen Verantwortung oder Komplexität der Aufgaben. Gründe der psychischen Belastung durch die berufliche Tätigkeit Erwerbstätige insgesamt Erwerbstätige ohne öffentlich Beschäftigte Beschäftigte im öffentlichen Dienst % % % Überstunden, Mehrarbeit 43 41 53 Unstimmigkeiten im Kollegium oder mit den Vorgesetzten 36 34 34 Arbeitszeiten, z. B. Schicht- oder Wechselschichtdienst, Nachtschichten 15 13 18 Arbeitsaufkommen, -pensum, Leistungsdruck 12 14 16 (psychisch) belastende Arbeit 10 8 13 (allg.) Herausfordernde Arbeit/Aufgaben, Verantwortung, Komplexität 8 8 7 etwas anderes 11 12 13 Basis: abhängig Beschäftigte, die sich durch ihre aktuelle berufliche Tätigkeit psychisch belastet fühlen; Mehrfachnennungen möglich Die Mehrheit (72 %) derjenigen, die regelmäßig Überstunden bzw. Mehrarbeit leisten, würden sich wünschen, dass diese durch einen zeitlichen Ausgleich, also Stundenabbau bzw. Freizeitausgleich, ausgeglichen werden würden. Etwa ein Viertel derjenigen, die Überstunden leisten, würden dafür gerne einen finanziellen Ausgleich erhalten. Gewünschter Ausgleich von Überstunden Es würden sich wünschen, dass Überstunden bzw. Mehr- arbeit idealerweise ausgeglichen werden durch einen finanziellen Ausgleich zeitlichen Ausgleich % % Erwerbstätige insgesamt 25 72 Erwerbstätige ohne öffentlich Beschäftigte 27 69 Beschäftigte im öffentlichen Dienst: insgesamt 20 77 Tarifbeschäftigte 16 82 Beamte 25 68 Männer 24 71 Frauen 16 80 18- bis 34-Jährige 20 76 35- bis 44-Jährige 21 72 45- bis 54-Jährige 19 78 55 Jahre und älter 18 80 Basis: abhängig Beschäftigte, die regelmäßig Überstunden oder Mehrarbeit leisten; an 100 Prozent fehlende Angaben = „weiß nicht“ 21 dbb Bürgerbefragung „Öffentlicher Dienst 2024“ Die abhängig Beschäftigten der freien Wirtschaft und die Tarifbeschäftigten im öffentlichen Dienst wünschen sich häufiger als Beamte mehr Urlaubstage oder eine Vier-TageWoche. Beamte hingegen haben überdurchschnittlich häufig den Wunsch nach einer Verkürzung der Wochenarbeitszeit. Wünsche für die Arbeitszeit II Wenn sie sich hinsichtlich ihrer Arbeitszeit etwas wünschen könnten, wäre das folgendes: Erwerbstätige insgesamt Erwerbstätige ohne öffentlich Beschäftigte Beschäftigte im öffentlichen Dienst: insgesamt Tarif- beschäftigte Beamte % % % % % mehr Urlaubstage 33 37 28 32 22 Verkürzung der Wochenarbeitszeit 31 27 38 34 45 Langzeitkonto zur Ansparung von Arbeitszeit, z. B. für eine Auszeit ("Sabbatical") oder einen vorzeitigen Berufsausstieg) 31 31 35 37 31 Vier-Tage-Woche 28 24 31 34 25 mobile Arbeit/Homeoffice 23 20 25 24 27 Möglichkeit, Urlaub flexibel nach Bedarf zu nehmen 22 22 22 21 23 Wahlmöglichkeit "Freizeit statt Geld" 16 14 16 17 15 flexible Teilzeit-Regelungen 10 10 11 11 10 etwas anderes 7 8 5 5 5 weiß nicht / keine Angabe 8 9 7 6 8 Basis: abhängig Beschäftigte; Prozentsumme größer 100, da Mehrfachnennungen möglich Wünsche für die Arbeitszeit II Gewünschter Ausgleich von Überstunden Gründe der psychischen Belastung durch die berufliche Tätigkeit FOKUS 13 dbb magazin | Juli/August 2024

Symposium zur Arbeitszeit Der öffentliche Dienst muss entlastet werden Dem Staat fehlen über 550 000 Beschäftigte. Deshalb müsse der öffentliche Dienst attraktiver werden, fordert der dbb – auch beim Thema Arbeitszeit. Auf dem Symposium „Arbeitszeit neu denken“ diskutierten Gewerkschafter, Arbeitgebende und Experten am 25. Juni 2024 in Köln die tarifpolitische Dimension der Arbeitszeit. Egal in welchen Bereich der öffentlichen Daseinsfürsorge wir schauen: Der Mangel an Personal ist eklatant“, sagte der dbb Fachvorstand Tarifpolitik, Volker Geyer, und kritisierte, dass die Beschäftigten trotz Fachkräftemangels immer mehr neue Aufgaben übernehmen müssen. Die Belastung steige. Deshalb sei es unabdingbar, neue Wege zu gehen, um die Funktionsfähigkeit des Staates auch künftig zu sichern. Geyer weiter: „Eine Aufgabenkritik, Bürokratieabbau und konsequente Digitalisierung sind notwendig. Klar ist aber auch: Das wird nicht reichen. Damit die Kolleginnen und Kollegen gesund und motiviert bleiben und neue Fachkräfte gewonnen werden können, müssen die Arbeitsbedingungen verbessert werden. Das Argument ‚sicherer Arbeitsplatz‘, mit dem der Staat lange punkten konnte, ist angesichts des derzeitigen allgemeinen Arbeitskräftemangels deutlich entwertet worden. Für mich ist deshalb klar: Neben der Bezahlung muss der öffentliche Dienst auch bei den Arbeitszeiten attraktiver werden. Ohne individuelle Entlastung, auch durch mehr Flexibilität, wird es nicht gehen.“ Bei dem Symposium suchte der dbb gezielt den Austausch mit Arbeitgebenden und Wissenschaft. Geyer erklärte: „Wir benötigen eine Diskussion, wie sich Arbeitszeit neu denken lässt. Und wir sollten im öffentlichen Dienst damit beginnen, bevor wir wieder den Zwängen und dem engen Rahmen von Tarifverhandlungen ausgesetzt sind.“ Dafür müsse das Rad nicht neu erfunden werden, Entlastung lasse sich auf vielen Wegen erreichen. „Oft wird es einfach darum gehen, vorhandene Überlegungen und Modelle aus anderen Bereichen daraufhin zu prüfen, ob sie für den öffentlichen Dienst tauglich sind. Zwar wird es keine ‚One-fits-all-Lösung‘ geben. Doch verschiedene Berufsbilder, unterschiedliche Anforderungen, aber auch die Erwartungen der Beschäftigten im öffentlichen Dienst werden es notwendig machen, dass wir eine Johanna Nold: Arbeitszeitmodelle müssen Jobprofile berücksichtigen. © Friedhelm Windmüller (5) 14 FOKUS dbb magazin | Juli/August 2024

Lösungsvielfalt erarbeiten. Dafür stehen wir als dbb bereit und das werden wir von den Arbeitgebenden auch einfordern.“ Fundierte Fachvorträge Um die Diskussion über Arbeitszeitmodelle auf einer soliden Faktenbasis zu diskutieren, hatte der dbb für wissenschaftliche Expertise gesorgt. Über „Gesundheitliche Anforderungen an moderne Arbeitszeitregelungen aus wissenschaftlicher Sicht“ referierte Johanna Nold von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA). Sie untermauerte unter anderem die Tatsache, dass es bei Arbeitszeitmodellen je nach Jobprofil unterschiedliche Ansätze brauche. „Arbeitsabläufe und Arbeitszeiten sind immer unter Berücksichtigung der mit der Tätigkeit verbundenen physischen und psychischen Belastung zu beurteilen“, so die wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Gruppe „Arbeitszeit und Flexibilisierung“ der BAuA. Dr. Norbert Huchler, Arbeitssoziologe beim Institut für sozialwissenschaftliche Forschung München, machte in seinem Vortrag unter anderem deutlich, dass der bestehende Arbeits- und Fachkräftemangel einer Arbeitsverkürzung nicht entgegenstehe und widersprach damit einem beliebten Argument der Arbeitgebendenseite. Vielmehr sei es notwendig, Arbeit zu gestalten, um etwa neuen Belastungskonstellationen gerecht zu werden. So gesehen sei eine Arbeitszeitverkürzung auch eine Chance für eine Humanisierung der Arbeit. Auf die Publikumsfrage, ob eine solche Arbeitsgestaltung denn in allen Bereichen etwa des öffentlichen Dienstes möglich sei, stellte Huchler klar: „In jeder Arbeit liegen Potenziale!“ Länder und Kommunen zögern noch Als Ausdruck der gelebten Sozialpartnerschaft auch abseits von Tarifverhandlungen hatte der dbb zudem die Arbeitgebendenseite eingeladen, damit diese ihre Position in die Debatte einbringen kann. Markus Geyer, Geschäftsführer der Tarifgemeinschaft deutscher Länder (TdL), sieht angesichts des grundsätzlichen Arbeits- und Fachkräftemangels einen problematischen Wettbewerb zwischen Privatwirtschaft und öffentlichem Dienst: „Arbeitszeitreduzierungen in einzelnen Branchen führen immer zu einer Art der Kannibalisierung, weil die Betriebe sich das Personal gegenseitig abwerben.“ Diskutierten unter der Moderation von Juliane Hielscher: Volker Geyer, Markus Geyer und Niklas Benrath (von links). Dr. Norbert Huchler: In jeder Arbeit liegen Potenziale! Hermann-Josef Siebigteroth: Mehr Mut wagen. Denkbar sei dies etwas im Gesundheitssektor bei Krankenhäusern einerseits und der freien Pflege andererseits. Niklas Benrath, Hauptgeschäftsführer der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA), sieht durch Arbeitszeitverkürzungen mindestens kurzfristig die Leistungsfähigkeit des öffentlichen Dienstes gefährdet: „Nach Arbeitszeitreduzierung leidet als Erstes die Qualität der Daseinsfürsorge.“ Als Beispiel nannte er ausgedünnte beziehungsweise eingestellte Buslinien im ländlichen Raum nach einer Arbeitszeitverkürzung für die Busfahrerinnen und Busfahrer. Bei der anschließenden Diskussion gab es aus dem Publikum viel Widerspruch gegen die Positionen der Arbeitgebendenseite. Neben vielen Beispielen aus der Praxis wurden auch grundsätzliche Erwartungen der Beschäftigten formuliert. „Wir müssen mutiger sein und einfach mal Dinge ausprobieren“, fasste Hermann-Josef Siebigteroth als stellvertretender Vorsitzender der dbb Bundestarifkommission und Bundesvorsitzender der VDStra. – Fachgewerkschaft der Straßen- und Verkehrsbeschäftigten ebenfalls im Publikum, die Positionen zusammen. Diesen Mut und den Schwung der Diskussion will dbb Tarifchef Volker Geyer auch mit in die Diskussionen vor der Einkommensrunde 2025 mit Bund und Kommunen nehmen. Die endgültige Forderung soll dann im Oktober 2024 präsentiert werden. Für Geyer steht unabhängig davon bereits fest: „Wir brauchen intelligente Lösungen, bei denen die Beschäftigten selbstbestimmt entscheiden können.“ _ FOKUS 15 dbb magazin | Juli/August 2024

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