EUROPA Wahl-Echo 2024 Was die Europawahlen für die EU bedeuten Nach den Europawahlen sind die Kräfteverhältnisse im Europaparlament für die nächsten fünf Jahre geklärt. Obwohl rechte und europaskeptische Parteien zugelegt haben, behalten moderate Kräfte deutlich die Oberhand. Auf Fragen wie den Klimaschutz, Verbraucherrechte sowie Wettbewerbs- und Industriepolitik wird das konkrete Auswirkungen haben. Das Wahlergebnis hat einerseits die Kontinuität in der politischen Landschaft Europas bestätigt. 189 (+7) Sitze für die christdemokratische EVP, 136 (−18) für die sozialdemokratische S&D, 74 (−34) für die liberale Renew−Gruppe – eine im Vergleich zur vergangenen Legislaturperiode gerupfte, aber nach wie vor deutliche Mehrheit der moderaten Kräfte im 750 Sitze zählenden Europaparlament. Dazu weitere proeuropäische Stimmen aus anderen Parteien wie den Grünen. Dieses Ergebnis spiegelt eine anhaltende Unterstützung für die europäische Integration und Zusammenarbeit in der Gesellschaft wider. Auch die stabile Wahlbeteiligung – 51 Prozent im Vergleich zu 50,5 Prozent bei den Wahlen im Jahr 2019 – deutet auf Kontinuität in der Unterstützung der europäischen Integrationsidee hin. Dennoch fällt auf: Die europaskeptischen und antieuropäischen Parteien um die EKR und ID sowie formell unabhängige MdEP gewinnen rund 50 Sitze hinzu. Das bedeutet eine Polarisierung innerhalb des Elektorats und weist darauf hin, dass ein wachsender Teil der Bevölkerung die künftige Richtung Europas infrage stellt. Auch die im Vergleich zu nationalen Parlamentswahlen niedrige Wahlbeteiligung kann nicht befriedigen. Zuallererst deutet die Fortsetzung einer proeuropäischen Mehrheit prinzipiell jedoch auf ein günstiges Umfeld hin, um europäische Politikvorhaben generell so voranzutreiben, wie es in den vergangenen fünf Jahren geschehen ist. Es gibt keine Debatte um ein Zurückschrauben der Kompetenzen oder gar ein Ende der EU. Genauso wenig ist allerdings zu erwarten, dass proeuropäische Stimmen gehört werden, die EU mit einem EU-Konvent und einer Reform der europäischen Verträge strukturell deutlich weiter zu integrieren. Es wäre die erste Reform der EU seit dem Vertrag von Lissabon vor 15 Jahren. Die europäischen Föderalisten wissen, dass eine Neuverhandlung der EU-Verträge eine Büchse der Pandora öffnen würde und ihrer Sache nicht dienlich wäre, solange Staaten wie Ungarn oder Italien europaskeptisch regiert werden und in etlichen Ländern der EU europaskeptische Parteien stark sind. Eine punktuelle weitere Integration der EU mit Bordmitteln der bestehenden EU-Verträge wäre indes unter Umständen denkbar. Mit sogenannten „Passerelle“- oder „Übergangs“-Klauseln kann der Ministerrat etwa einstimmig entscheiden, in bestimmten Politikfeldern künftig nach dem Mehrheitsprinzip abzustimmen. Dies betrifft unter anderem die Steuerpolitik und weite Teile der Außenpolitik der EU, aber auch ihre Sozialpolitik. Bislang werden politische Entscheidungen in Politikfeldern der Einstimmigkeit oftmals im Ministerrat durch einzelne Regierungen blockiert. Noch differenzierter könnten die Auswirkungen der Wahlen auf die Tagespolitik der EU sein. In einem Europaparlament, in dem es traditionell weniger Fraktionszwang gibt und Koalitionsloyalität weniger strikt als in nationalen Parlamenten gelebt wird, werden es Konservative, Sozialdemokraten und Liberale schwerer haben als zuvor, Mehrheiten zu formen. Bereits jetzt zeigt sich dies in einer der ersten grundlegenden Entscheidungen, die im Europaparlament anstehen. Im Vorfeld der Wiederwahl von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (EVP) durfte darüber spekuliert werden, ob die Stimmen einer Koalition aus Christdemokraten, Sozialdemokraten und Liberalen für die erforderliche absolute Mehrheit reichen würden, oder ob die Wiederwahl durch zu viele Gegenstimmen aus der eigenen Parteienfamilie gefährdet wäre. Im Ergebnis erreichte von der Leyen am 18. Juli 2024 die absolute Mehrheit. Es zeigt sich, wie wichtig es ist, bei Europawahlen abzustimmen. Europawahlen sind mehr als ein Bekenntnis zu einem historischen Friedensprojekt und zur Demokratie. Weil die EU konkrete gesetzgeberische Kompetenzen hat, sind Europawahlen politisch grundlegend relevant. Allerdings gilt immer: Kompromisse sind alles. Die Europäische Kommission, das Europaparlament mit seinen diversen politischen Parteien und freigeistigen Abgeordneten, der Ministerrat mit seinen Vertretern aus 27 Mitgliedstaaten – sie alle sind Räder im europäischen Entscheidungsfindungsprozess, der vielschichtige Interessen zusammenbringt. Sie alle wollen gehört werden und haben Einfluss. Dennoch oder gerade deshalb sind die EU und ihre Institutionen viel näher und durchlässiger, als wir gemeinhin glauben. Klaus Heeger Klaus Heeger ist Generalsekretär der Europäischen Union der Unabhängigen Gewerkschaften CESI. © CESI 2024 32 INTERN dbb magazin | Juli/August 2024
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