dbb magazin 7-8/2024

Ebenso werde eine geistig-moralische Wende im Verständnis der Demokratie benötigt: „Denn ohne starken, handlungs- und durchsetzungsfähigen Staat ist alles andere nichts, sind auch alle Grundrechte nichts wert. Das heißt, auch die Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes steht und fällt mit der – vorhandenen oder fehlenden – Autorität des Staates, der sie durchzusetzen hat.“ Dabei sei das Grundgesetz in seiner Qualität bis heute unverändert. Es sei jedoch immer nur so stark, wie es mit Leben gefüllt werde. „Auch die Weimarer Verfassung ist nicht an ihrem Wortlaut gescheitert, sondern an fehlenden Gelingensbedingungen“, mahnte von Lucke. Wenn nach der aktuellen Bürgerbefragung des dbb nur noch 27 Prozent der Menschen an die Handlungsfähigkeit des Staates glaubten und die anderen zwei Drittel täglich in ihrer Wahrnehmung eines schwachen Staates bestätigt würden, sei das gefährlich für die Demokratie, zumal die Politikverachtung mittlerweile eine bisher nicht gekannte Dimension erreicht habe. „Seit 1990 sind wir davon ausgegangen, dass die Demokratie sicher ist. Dann gab es eine starke Tendenz des ,privat vor Staat‘, die letztlich zur Ausdünnung von Institutionen und Infrastrukturen geführt hat. Heute müssen wir uns wieder ernsthaft fragen, was unser Gemeinwesen braucht, um zu funktionieren.“ Mit Blick auf die Debatte um ein mögliches Verbot der AfD stellte von Lucke klar, dass die Partei zuallererst inhaltlich bekämpft werden muss. Weiter seien die Institutionen – zum Beispiel auch die Universitäten – gut beraten, ihre Würde wieder unmissverständlich gegenüber Grenzüberschreitungen zu verteidigen, statt sich, wie zum Teil geschehen, auf die Seite derjenigen Studierenden zu stellen, die demokratische Prinzipien aushebeln wollten. Tiefgreifende Veränderungen Auch für Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, ehemalige Bundesjustizministerin und ehrenamtliche Antisemitismusbeauftragte des Landes Nordrhein-Westfalen, liegen die Probleme nicht im Verfassungstext, sondern in der Verfassungswirklichkeit in Deutschland. Verrohung, Enthemmung und Radikalisierung in der Gesellschaft haben aus ihrer Sicht vor allem zwei Ursachen: „Einerseits eine tiefgreifende Veränderung im Parteiensystem. Erstmals sind extrem rechte Parteien wie die AfD flächendeckend in den Parlamenten vertreten. Das hat zu einer weiteren Zuspitzung und Enthemmung der innenpolitischen Debatten geführt. Außerdem hat sich ein tiefgreifender Vertrauensverlust in die Handlungsfähigkeit der staatlichen Institutionen breitgemacht.“ Dagegen vorzugehen, sei eine Hauptverantwortung der heute agierenden Politikerinnen und Politiker. „Sie müssen in Wort und in Tat klar und nachhaltig sein. Außerdem müssen wir beim staatlichen Handeln – schon aus finanziellen Gründen – Prioritäten setzen und uns auf die wirklich wichtigen Aufgaben konzentrieren, die zuständigen Stellen dann aber auch in die Lage versetzen, sie zu erledigen“, so Leutheusser-Schnarrenberger. „Konflikt und Debatte gehören zur Entscheidungsfindung. In den aktuellen Debatten gibt es aber eine Verhärtung und ein Lagerdenken, in dem immer nur die eigene Seite recht hat. Dieser Weg führt in die Radikalisierung, nicht zum Kompromiss.“ Bei allen Debatten über Veränderungen am Grundgesetz selbst riet die ehemalige Bundesjustizministerin zur Vorsicht: „Jede Änderung kann dann in Zukunft auch nur mit Zweidrittelmehrheit wieder rückgängig gemacht werden.“ Die Regelungen zu Amtszeit und Anzahl der Richter und Senate am Bundesverfassungsgericht, die bisher nur durch einfaches Gesetz geregelt sind, würde Leutheusser-Schnarrenberger gleichwohl trotzdem lieber direkt im Verfassungstext verankert wissen. „Die jüngsten Versuche, vor allem in Ungarn und Polen, haben uns gezeigt, wie gefährlich es für die Unabhängigkeit der höchsten Gerichte werden kann, wenn solche Strukturfragen politisiert und von einfachen Parlamentsmehrheiten verändert werden können“, warnte die Liberale. Ulrich Silberbach beschrieb die Verfassung zwar als „stabil und gut“, gab jedoch zu bedenken, dass es nicht nur personell an denjenigen mangele, die „die oft und gerne geforderte Härte des Gesetzes gegen Feinde der demokratischen Grundordnung umsetzen“. Die Kolleginnen und Kollegen bedürften zudem eines klaren Bekenntnisses seitens der Politik. „Wenn die Bundesministerin des Innern als oberste Dienstherrin in diesem Kontext das Disziplinarrecht für Beamtinnen und Beamte verschärft, statt die Kolleginnen und Kollegen vor Übergriffen zu schützen, trägt das nicht unbedingt zu mehr Vertrauen bei.“ Neben Personalmangel trage auch die unzureichende Verwaltungsdigitalisierung zum Vertrauensverlust bei, „nicht nur der Bürger gegenüber den Institutionen. Auch die Beschäftigten selbst sind zum Teil verunsichert und unzufrieden.“ Generellen Reformbedarf bezüglich des Grundgesetzes sah Silberbach allerdings nicht. Dessen Artikel müssten jedoch mit Leben gefüllt und umgesetzt werden können, und das habe ebenso mit der personellen und materiellen Ausstattung des öffentlichen Dienstes zu tun wie mit dem Diskurs über Zusammenleben, Demokratie und Institutionen, der „wieder in der Mitte der Gesellschaft stattfinden muss“. _ „Ohne starken, handlungs- und durchsetzungsfähigen Staat ist alles andere nichts.“ Albrecht von Lucke „Es hat sich ein tiefgreifender Vertrauensverlust in die Handlungsfähigkeit der staatlichen Institutionen breitgemacht.“ Sabine Leutheusser-Schnarrenberger © Tobias Koch © Tobias Tanzyna AKTUELL 9 dbb magazin | Juli/August 2024

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