dbb magazin 9/2024

dbb magazin Krankenhäuser | Reform im Gegenwind Interview | Kerstin von der Decken, Vorsitzende der Gesundheitsministerkonferenz Reportage | Gesundheitskioske: Bürgernahe Versorgung to go in Gefahr 9 | 2024 Zeitschrift für den öffentlichen Dienst

STARTER 4 8 TOPTHEMA Gesundheitspolitik AKTUELL TARIFPOLITIK Einkommensrunde 2025 für Bund und Kommunen: Regionalkonferenzen starten im September 4 Beschäftigte des Bundes: Verhandlungen zur Tarifpflege 6 INTERVIEW Kerstin von der Decken, Vorsitzende der Gesundheitsministerkonferenz 8 FOKUS GESUNDHEITSPOLITIK Finanzierung der Krankenhäuser: Reform im Gegenwind 10 REPORTAGE Gesundheitskioske: Bürgernahe Versorgung to go in Gefahr 13 STUDIE Häusliche Pflege: Hohe Belastung führt zu Erwerbsminderung 16 VORGESTELLT Ronald McDonald Haus Berlin: Eine Oase in Ausnahmesituationen 18 ONLINE Elektronische Patientenakte: Digitalisierungsprojekt in Quarantäne 24 INTERN JOB-PORTRAIT Der Lokführer: Mit launigen Durchsagen durch Berlin und Brandenburg 26 MITBESTIMMUNG Betriebsverfassungsrecht: Der tarifliche Regelungsvorbehalt im BetrVG 28 RECHT Im Dienst beleidigt: So handeln Sie richtig 30 SERVICE BEAMTE Serie zur Beihilfe: Wie bekomme ich mein Geld zurück? 40 Impressum 41 KOMPAKT GEWERKSCHAFTEN 44 13 Zerreißprobe für das Gesundheitssystem Das Gesundheitssystem in der Bundesrepublik wird immer teurer, die Ausgaben sind in den vergangenen 20 Jahren kontinuierlich gestiegen. Wurden 2002 nach Angaben des Statistischen Bundesamtes noch etwa 225 Milliarden Euro ausgegeben, stieg die Summe bis 2022 auf rund 497,7 Milliarden. Zwar sind darin die Kosten für die Bekämpfung der Coronapandemie enthalten, die den Gesundheitsbereich besonders in den Jahren 2020 und 2021 erheblich mit Tests, Impfungen, Krankenhausaufenthalten und anderen Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie belastet haben. Allein im Jahr 2020 schlug das mit rund 50 Milliarden Euro zusätzlich zu Buche. Dennoch sind die Trends deutlich: Demografische Faktoren führen zu höheren Kosten, da ältere Menschen tendenziell mehr medizinische Versorgung benötigen. Auch medizinischer Fortschritt ist nicht zum Nulltarif zu haben, neue Technologien und Behandlungsmöglichkeiten erhöhen die Gesamtkosten. Die Bundesregierung muss gegensteuern. Eine umfassende Reform der Krankenhausfinanzierung, ein Vorhaltebudget, das die finanzielle Abdeckung der vorgehaltenen Kapazitäten sicherstellen soll, sowie die Weiterentwicklung des bestehenden Systems der Fallpauschalen sollen die Finanzierung ambulanter Leistungen in Kliniken verbessern. Außerdem fordern Länder und Kommunen eine dauerhafte Kofinanzierung durch den Bund, um den Investitionsstau in den Krankenhäusern aufzulösen. In Anbetracht der Kostenexplosion sind Reformen dringend notwendig. Dennoch kommen nicht alle Vorschläge der Reform gut an. Kritiker befürchten besonders im Klinikbereich Verschlechterungen der Versorgungsleistungen. Und sobald Klinikzusammenlegungen und Spezialisierungen im Raum stehen, hat das auch Folgen für die Beschäftigten. Ferner besteht die Gefahr einer Zentrierung der Versorgung in großen Krankenhäusern, was ein weiter wachsendes Versorgungsgefälle zwischen Stadt und Land zur Folge hätte. Auf der Zielgeraden der Reformen ist also Augenmaß gefragt, damit die Last gerecht auf alle Schultern verteilt wird. br 24 Foto: Evgeniy Sergeev/Colourbox.de AKTUELL 3 dbb magazin | September 2024

TARIFPOLITIK Einkommensrunde 2025 für Bund und Kommunen Regionalkonferenzen starten im September Bevor die Gewerkschaften am 9. Oktober 2024 ihre Forderungen für die Einkommensrunde für die Beschäftigten von Bund und Kommunen formulieren, wird der dbb die Mitglieder seiner Fachgewerkschaften wieder zu Regionalkonferenzen einladen. Im Frühjahr bin ich regelmäßig auf das Format angesprochen worden, mit dem wir 2023 die Einkommensrunde im Länderbereich vorbereitet hatten. Sinn dieser Konferenzen war und ist die offene Diskussion darüber, was wir wollen, aber auch darüber, was wir können. Beides gehört untrennbar zusammen“, sagt dbb Tarifchef Volker Geyer und betont, dass auch die Einkommensrunden des kommenden Jahres „kein Selbstläufer werden. Das mag nach einer alten Leier klingen, es ist aber leider topaktuell. Und das ist nicht nur so, weil das Thema Arbeitszeit mit Macht in den Vordergrund drängt. Auch eine angemessene lineare Einkommenserhöhung wird nur zu erreichen sein, wenn es uns gelingt, den geschlossenen und massiven Auftritt des vergangenen Jahres zu wiederholen oder gar noch zu steigern.“ So werde das Thema Arbeitskampf auf den Regionalkonferenzen eine Rolle spielen. Weiter möchte der dbb beim Thema Arbeitszeit nicht mit ungefähren Wunschvorstellungen an den Start gehen, sondern mit Optionen, die die Vielfalt des öffentlichen Dienstes sowie die unterschiedlichen Möglichkeiten und Notwendigkeiten der vielen Hundert Berufsbilder berücksichtigen. „Das geht nicht ‚top down‘, das müssen wir uns gemeinsam erarbeiten.“ Schon beim Arbeitszeitsymposium im Juni 2024 in Köln hatte der dbb einen ersten Aufschlag zum Thema gemacht. „Natürlich wird Arbeitszeit am Tariftisch zu bearbeiten sein. Es geht aber auch darum, grundsätzlich über die Gestaltung von Arbeitszeit nachzudenken. Deshalb firmierte die Veranstaltung unter dem Titel ‚Arbeitszeit neu gedacht‘ und berücksichtigte auch die Meinung von Vertreterinnen und Vertretern von Bund, TdL und VKA“, resümiert Geyer. Dabei sei es nicht um „richtig“ oder „falsch“ gegangen, sondern darum, wie die Belastung der Beschäftigten dbb Tarifchef Volker Geyer auf der Regionalkonferenz 2023 in Hamburg. Demonstration mit Umzug und Kundgebung in Nürnberg 2022: Auch 2025 darf sich die Arbeitgeberseite auf bunte und laute Aktionen des dbb freuen. © Anestis Aslanidis © Kerstin Seipt 4 AKTUELL dbb magazin | September 2024

2. September 2024: Düsseldorf 3. September 2024: Hamm/Westfalen 5. September 2024: Fulda 9. September 2024: Nürnberg 24. September 2024: Mannheim 30. September 2024: Berlin 1. Oktober 2024: Hamburg Der dbb organisiert die Einladung zu den Regionalkonferenzen zentral. Eine individuelle Anmeldung ist leider nicht möglich. Zeitplan für die Regionalkonferenzen abgebaut und der öffentliche Dienst gleichzeitig attraktiv für zukünftige Beschäftigte gestaltet werden kann, ohne seine Funktionsfähigkeit infrage zu stellen. „Für mich heißt das, dass wir in den nächsten Wochen und Monaten zweigleisig fahren müssen. Wir brauchen intelligente Modelle, die attraktiv für unsere Beschäftigten sind. Und wir brauchen die Kraft, sie in den Einkommensrunden des nächsten Jahres mit Nachdruck zu fordern und durchzusetzen“, so Geyer weiter. Dabei komme den Regionalkonferenzen eine zentrale Bedeutung zu: „Wenn es uns wieder gelingt, mit Hunderten von Multiplikatorinnen und Multiplikatoren aus unseren Fachgewerkschaften ins Gespräch zu kommen, besteht die Chance, die Bedeutung der Einkommensrunden 2025 auch in die Verwaltungen und Betriebe zu tragen.“ _ Pflegeassistenzausbildung Niveauabsenkung bringt keine Fachkräfte Die bundeseinheitliche Ausbildung für Pflegeassistenzkräfte soll kommen, ein Gesetzentwurf liegt vor. Der dbb ist nicht mit allen Details einverstanden. Grundsätzlich sind es gute Nachrichten, dass die Bundesregierung endlich das Wirrwarr von unzähligen landesspezifischen Ausbildungsvorgaben beenden möchte“, sagte Volker Geyer, Fachvorstand Tarifpolitik und dbb Vize, am 22. August 2024 in Berlin. „Und es ist unbestritten, dass sich die Personalsituation in der Kranken- und stationären Altenpflege verbessern muss. Allerdings muss das mit einem hohen Maß an Qualität und Professionalität einhergehen. Was das betrifft, ist der Gesetzesentwurf aus Sicht des dbb enttäuschend.“ Die Pflegeassistenzausbildung soll laut Entwurf 18 Monate dauern, die Pflegehilfeausbildung zwölf Monate. Geyer: „Das ist zu kurz, um die erforderlichen Qualifikationen zu vermitteln. Es ist vorprogrammiert, dass die ohnehin stark belasteten Bestandskräfte in die Bresche springen müssen. Fachkräftemangel lässt sich nicht durch Niveauabsenkung lösen!“ Weiterhin sieht der Gesetzesentwurf vor, die Assistenz- und Hilfsausbildung auch für Menschen ohne Schulabschluss zu öffnen. „Das ist ein komplett falscher Ansatz“, kritisiert Geyer. „Wir sehen die Gefahr, dass das Gesetzesvorhaben die besonders in der Pflege so wichtige Fachlichkeit aufweicht. Die Praxisanleitung, die durch Lücken in der Schulbildung sicherlich nicht einfacher wird, bereitet uns schon jetzt große Sorgen, weil das Personal diese nebenbei erledigen muss. Hier brauchen wir klare Freistellungsregelungen, damit Ausbildungsqualität und Empathie nicht auf der Strecke bleiben.“ Aus Sicht des dbb seien darüber hinaus eine auf Schichtdienste abgestimmte Kinderbetreuung, mehr Flexibilität bei den Arbeitszeiten und ein besserer Arbeitsschutz nötig. Das könne dazu beitragen, die angespannte Personalsituation zu entspannen und Ausfälle, Berufsaufgaben sowie vorzeitige Ruhestandseintritte zu verhindern. _ © Getty Images/Unsplash.com AKTUELL 5 dbb magazin | September 2024

Trauer um Walter Spieß Der dbb trauert um Walter Spieß, der am 24. Juli 2024 im Alter von 77 Jahren in Pfungstadt verstorben ist. Walter Spieß war 24 Jahre lang Vorsitzender des dbb Hessen. Über viele Jahre war er Mitglied des Bundesvorstands und des Bundeshauptvorstands des dbb beamtenbund und tarifunion. Seit 2012 war er Träger der silbernen Ehrennadel des dbb. Walter Spieß war ein angesehener Fachmann für das Dienstrecht in Hessen; insbesondere die Entwicklung des Personalvertretungsrechts hat er in seiner Amtszeit entscheidend mitgeprägt. Unzählige Mandatsträgerinnen und Mandatsträger in den Personalräten profitierten von dem Wissen, das er ihnen in seinen Seminaren vermittelte. Auch in seiner Heimatgewerkschaft DSTG Hessen erwarb er sich überragende Verdienste und wurde zum Ehrenmitglied ernannt. Als überzeugter Verfechter des öffentlich-rechtlichen Rundfunks engagierte er sich seit 2001 zudem im Rundfunkrat beim Hessischen Rundfunk sowie seit 2007 im Programmbeirat der ARD. In seinem zurückhaltenden Auftreten und in seiner Bescheidenheit war Walter Spieß stets ein großes Vorbild. Der dbb wird ihm ein ehrendes Andenken bewahren. Beschäftigte des Bundes Verhandlungen zur Tarifpflege Der dbb und der Bund haben Verhandlungen zur sogenannten Tarifpflege aufgenommen. Dabei prüfen die Tarifvertragsparteien die Tarifverträge, die mit dem Bund abgeschlossen wurden, auf Anpassungsbedarf. Die nächste Einkommensrunde mit den Arbeitgebern von Bund und Kommunen beginnt Anfang des Jahres 2025. Jedoch besteht regelmäßig auch außerhalb der Einkommensrunden vielfältiger Anpassungsbedarf in den Tarifverträgen, um diese an aktuelle Entwicklungen anzupassen und praxistauglich zu halten. Der dbb fordert die Arbeitgeber daher regelmäßig zur Tarifpflege auf, um auch außerhalb der großen Verhandlungsrunden im Gespräch zu bleiben. Im Vorfeld der Tarifpflege mit dem Bund haben die betroffenen dbb Mitgliedsgewerkschaften zahlreiche Themen übermittelt, die der dbb in die Verhandlungen eingebracht hat. Im Mittelpunkt der Tarifpflege steht aktuell die Entgeltordnung Bund. Ziel des dbb ist es, die Entgeltordnung so weiterzuentwickeln, dass die Tätigkeiten der Kolleginnen und Kollegen in ihrer Wertigkeit zutreffend abgebildet werden und der Bund als Arbeitgeber attraktiv und konkurrenzfähig bleibt. Neben weiteren Bereichen sind unter anderem folgende Tätigkeitsmerkmale in der Diskussion: Meisterinnen und Meister, Rechnerinnen und Rechner von Bezügen, Beschäftigte beim Bundesamt für Logistik und Mobilität, nautische Beschäftigte, Beschäftigte in Gesundheitsberufen, Beschäftigte in Bäderbetrieben, Wächterinnen und Wächter, Beschäftigte in Küchen. Teilweise zeichnen sich bereits Einigungen ab. In vielen Bereichen gibt es jedoch noch Gesprächsbedarf. Die Verhandlungen werden über den Sommer fortgesetzt. _ Foto: Colourbox.de © Friedhelm Windmüller 6 AKTUELL dbb magazin | September 2024

INTERVIEW Kerstin von der Decken, Vorsitzende der Gesundheitsministerkonferenz Eine funktionierende Grund- und Notfallversorgung muss auch in der Fläche gewährleistet sein Mit der viel diskutierten Krankenhausreform soll unter anderem eine „Vorhaltefinanzierung“ eingeführt werden. Bleibt damit eine qualitativ hochwertige Versorgung auch in ländlichen Gebieten gewährleistet? Die Fusion kleiner Krankenhäuser spricht schließlich nicht gerade dafür, dass die Reform dem Sicherstellungsauftrag ausreichend Rechnung trägt. Wir setzen uns als Länder genau dafür ein, die Gesundheitsversorgung auch in ländlichen Regionen zu sichern. Es ist ein immer wieder erklärtes Ziel der Bundesregierung, die Grund- und Notfallversorgung flächendeckend – und damit auch im ländlichen Raum – zu sichern. Aber das Bundeskabinett hat einen Gesetzesentwurf beschlossen, der dieses Ziel bislang verfehlt. Ihre Frage ist daher sehr berechtigt. Ein Kernpunkt der Klinikreform soll der von Ihnen angesprochene Wandel in der Vergütungssystematik werden. Nach den ursprünglichen Plänen sollte ein Teil der Finanzierung fallzahlunabhängig erfolgen. Erreicht werden sollte damit zum einen, dass gerade kleine Kliniken in der Fläche, die wir für die Notfallversorgung brauchen, wirtschaftlich überleben. Bei ihnen entstehen Kosten einfach, weil sie da sind, um im Notfall helfen zu können – ähnlich wie bei der Feuerwehr. Erreicht werden sollte zum anderen, Fehlanreize für eine möglicherweise unnötige Mengenausweitung der Leistungen zu reduzieren. Das war die gemeinsame Idee der Vorhaltevergütung. Der Bundesgesundheitsminister nutzt diesen Begriff zwar weiterhin ausdauernd, aber in dem vorgelegten Gesetzesentwurf ist die Vorhaltevergütung doch weiter fallzahlabhängig, wenn auch indirekt. Hinzu kommen zu starre Rahmenvorgaben, die von kleinen Kliniken kaum erfüllbar sind. Daher ist die Sicherung kleiner Kliniken und damit auch der Gesundheitsversorgung in der Fläche in der Tat sehr fraglich, sollten im weiteren Verfahren keine Änderungen mehr erfolgen. Die Länder haben im Bundesrat eine umfangreiche, ausschließlich fachlich begründete Stellungnahme mit Verbesserungen eingebracht, übrigens völlig unabhängig von jeglichen politischen „Farben“. Und es gibt von den Abgeordneten der regierungstragenden Fraktionen auch positive Signale, diese konstruktiv zu prüfen. Mir ist dabei wichtig, dass allen Beteiligten bei der häufig irreführenden Qualitätsdebatte klar ist, dass im Notfall Erreichbarkeit ein essenzielles Qualitätsmerkmal darstellt! Das ist unabhängig davon, dass für planbare Operationen jeder gerne bereit ist, weitere Wege zum Spezialisten in entsprechenden Zentren auf sich zu nehmen. Bei hochkomplexen planbaren Eingriffen wird es zu Zusammenlegungen von Angeboten kommen, und das ist vor dem Hintergrund begrenzter Ressourcen auch sinnvoll. Aber daneben brauchen wir eine funktionierende Grund- und Notfallversorgung weiterhin nicht nur in Großstädten, sondern auch in der Fläche. In dem vorgelegten Gesetzesentwurf ist die Vorhaltevergütung doch weiter fallzahlabhängig, wenn auch indirekt. Prof. Dr. Kerstin von der Decken ist Ministerin für Justiz und Gesundheit des Landes Schleswig-Holstein. © Frank Peter 8 AKTUELL dbb magazin | September 2024

Die gesetzliche Krankenversicherung wird teurer. Eine aktuelle DAK-Studie geht von einem Beitragssprung von 16,3 auf 19,3 Prozent bis 2034 aus. Insgesamt könnten die Sozialbeiträge um bis zu 7,5 Prozent steigen. Die DAK fordert deshalb einen „Stabilitätspakt“ für die gesetzliche Krankenversicherung. Wäre das eine Lösung oder nur eine Umverteilung der Kosten? Das kommt darauf an, was mit dem Wort Stabilitätspakt gemeint ist. Die Kostensteigerung der Beiträge ist eine enorme Herausforderung, und die Bundesregierung ist hier gefordert, Anforderungen an unser Gesundheitssystem und die Finanzierbarkeit miteinander in Einklang zu bringen. Aber wir erleben stattdessen den aus meiner Sicht ungerechtfertigten Versuch, alte und neue Belastungen ausschließlich durch Beitragszahlende finanzieren zu lassen. Der mit der Krankenhausreform des Bundes einhergehende Transformationsfonds ist ein Beispiel für eine neue Belastung. In den gemeinsam mit den Ländern verabschiedeten Eckpunkten sollte der Transformationsfonds noch von Bund und Ländern getragen werden. Davon hat sich die Bundesregierung in ihrem Gesetzesentwurf verabschiedet und sieht stattdessen die Finanzierung durch Länder und Beitragszahlende vor. Das geht aus Ländersicht so nicht, und das haben wir in unserer Stellungnahme deutlich gemacht. Ein Beispiel für eine alte Belastung ist, dass alle Beitragszahlerinnen und Beitragszahler weiterhin versicherungsfremde Leistungen, wie die Leistungen für Bürgergeldempfängerinnen und -empfänger, mitfinanzieren. Auch das entspricht nicht der Logik unserer Krankenversicherung. Der Bund ist gefordert, die Finanzierung von solchen gesamtgesellschaftlichen Aufgaben auf mehr Schultern zu verteilen. Natürlich sind es auch Bürgerinnen und Bürger, die dafür Steuern zahlen müssen, aber es führt eben nicht zu so einer einseitigen Steigerung zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung. Medizin wird auch global betrachtet immer kostspieliger. Individualisierte Therapien etwas kosten nicht selten sechsstellige Summen, die das Gesundheitssystem zu überfordern drohen. Wie kann die Preisexplosion bei Arzneimitteln eingedämmt werden, ohne Forschung, Entwicklung und Versorgung zu gefährden? Die Kosten für Arzneimittel stellen nur einen geringen Anteil an den Gesamtkosten unserer Gesundheitsversorgung dar. Wir dürfen also nicht annehmen, dass hier ein maßgebliches Sparpotenzial wäre, wenn wir zugleich eine angemessene Arzneimittelversorgung erwarten. Wir haben mit den Engpässen bei Antibiotika oder auch fiebersenkenden Mitteln für Kinder bereits deutlich erlebt, wie labil unser System derzeit ist und wie abhängig wir von Dritten sind. Wir müssen daher auch in Europa wieder gute Bedingungen schaffen, die zuverlässige europäische Forschungs- und Herstellungskapazitäten ermöglichen. Ja, das geht mit entsprechenden Ausgaben für Arzneimittel einher. Aber dem ist die Dämpfung der Kosten für sonstige medizinische Behandlungen wie OP-Notwendigkeit, Arztbesuche oder sogar Pflege gegenüberzustellen. Viele der innovativen Arzneimittel führen zur kompletten Heilung oder geringerer Mortalität und schnellerer Wiedereingliederung auch ins Arbeitsleben. Daneben müssen wir es grundsätzlich schaffen, durch Prävention oder frühzeitige Intervention Erkrankungen, wie beispielsweise Adipositas, Hypertonie oder Diabetes mellitus, wirksamer zu begegnen. Das erhöht nicht nur die Lebensqualität, sondern hilft auch, Kosten zu sparen. Für die beihilfeberechtigten Beamten und Versorgungsempfänger ist die Gebührenordnung für Ärzte als Abrechnungsgrundlage maßgeblich. Diese ist seit vielen Jahren reformbedürftig. Ist hier zeitnah mit einer Novelle zu rechnen? Nach den Informationen meiner Kollegin aus dem für die Thematik federführenden Finanzministerium sind die Gespräche zwischen der Bundesärztekammer und unter anderem dem Verband Privater Krankenversicherungen weit fortgeschritten. Es gibt offenbar Anzeichen, dass mit einer gemeinsamen Novellierungsempfehlung vielleicht noch in diesem Jahr gerechnet werden kann. Für die Umsetzung müsste das Bundesgesundheitsministerium diese dann in einer entsprechenden Verordnung auf den Weg bringen – aber ich empfehle, dazu auch die direkt Beteiligten zu fragen. Viele Bürgerinnen und Bürger hegen Datenschutzbedenken gegenüber der elektronischen Patientenakte. Mangelt es bei der Einführung an Aufklärungsarbeit? Die historischen Erfahrungen in Deutschland – auch in Ostdeutschland – mögen eine Erklärung sein, warum bei uns Datenschutzbedenken häufig tief verwurzelt sind. Im internationalen Vergleich bietet die Datenschutz-Grundverordnung der Europäischen Union jedoch ein wirklich hohes Schutzniveau, dem auch die elektronische Patientenakte in Deutschland gerecht werden muss. Ja, es besteht ein Bedarf an verstärkter Aufklärungsarbeit. Alle Beteiligten müssen dabei auch im positiven Sinne die großen Vorteile der Digitalisierung im Gesundheitswesen mitdenken und kommunizieren. Das wird, wie in anderen Lebensbereichen auch, mit erheblichen Erleichterungen für jeden Einzelnen einhergehen, wenn es entsprechend gut gemacht ist. Noch ein Punkt in „eigener Sache“: Gewerkschaften wie der dbb und andere Verbände kritisieren, dass ihre Möglichkeiten zur Mitgestaltung in der Gesundheitspolitik mit kurzen Fristen für Stellungnahmen und häufigen Richtungswechseln erschwert werden. Was kann getan werden, um die Einbeziehung der Zivilgesellschaft in die Gesetzgebungsprozesse zu verbessern? Da sprechen Sie mir aus der Seele, das geht den Bundesländern nicht anders. Im Bundesgesundheitsministerium sollte wieder ein Bewusstsein einkehren, dass die Beteiligten eben nicht nur Lobbygruppen sind. Natürlich vertreten sie ihre Interessen, aber sie haben auch eine ganze Menge Wissen, Erfahrung und Fachkompetenz. Diese zu nutzen, kann nur von Vorteil sein, auch wenn gegebenenfalls am Ende eine andere Entscheidung gefällt wird. _ Der Bund ist gefordert, die Finanzierung von gesamtgesellschaftlichen Aufgaben auf mehr Schultern zu verteilen. AKTUELL 9 dbb magazin | September 2024

GESUNDHEITSPOLITIK Finanzierung der Krankenhäuser Reform im Gegenwind Die Krankenhausreform ist trotz anhaltender Kritik auf der Zielgeraden des Gesetzgebungsverfahrens und soll Anfang 2025 in Kraft treten. Das Projekt ist ebenso ambitioniert wie umstritten, soll es doch den Spagat zwischen zukunftssicherer Finanzierung der Gesundheitsversorgung und gleichbleibender Qualität der Leistungen schaffen. Für Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach ist das sperrig klingende Krankenhausversorgungsverbesserungsgesetz (KHVVG) ein dringend notwendiges Instrument, um die kränkelnde Krankenhausfinanzierung zu gesunden. Die Ziele der besser als „Gesetz zur Verbesserung der Versorgungsqualität im Krankenhaus und zur Reform der Vergütungsstrukturen“ bekannten Novelle: Behandlungsqualität sichern und steigern, flächendeckende medizinische Versorgung gewährleisten, Effizienz erhöhen und Entbürokratisierung vorantreiben. Zur ersten Lesung des Gesetzes hat der Bundesgesundheitsminister vor dem Deutschen Bundestag am 27. Juni 2024 ein flammendes Plädoyer für die Reform gehalten. Dabei diagnostizierte er Überkapazitäten und Ineffizienz im System Krankenhaus: Deutschland habe die höchste Dichte an Krankenhausbetten in Europa, wobei jedes dritte Bett leerstehe. Viele Eingriffe, die stationär durchgeführt würden, könnten auch ambulant erfolgen, was eine effizientere Nutzung der Ressourcen mit sich brächte. Auch seien die Fallkosten stark gestiegen, der Gesamthaushalt für die Krankenhäuser betrage derzeit 100 Milliarden Euro. Gleichzeitig gebe es einen erheblichen Personalmangel, viele Schichten blieben unterbesetzt. Ferner müsse das Ungleichgewicht in der Finanzierung neu tariert werden, denn während private Träger hohe Gewinne erwirtschafteten, arbeiteten viele Häuser defizitär, besonders in ländlichen Gebieten. „Wir haben ein System, wo die Versorgung bürokratisch ist, wo es so ist, dass junge Menschen, die im Krankenhaus arbeiten, in der Pflege oder im Krankenhaussektor, zum Teil von der Bürokratie erdrückt werden. […] Wir brauchen mehr Spezialisierung, wir brauchen weniger Bürokratie und wir brauchen eine sichere Finanzierung für die Häuser, die wir dringend benötigen, insbesondere im ländlichen Raum“, so Lauterbach. Als Schlüssel für die Reform rückte der Minister die Abschaffung der Fallpauschalen in den Fokus: Insgesamt sei die Ökonomie zu weit gegangen. Mit der Abschaffung des Systems der Fallpauschalen komme „die lang erwartete, dringend benötigte Entbürokratisierung. […] 10 FOKUS dbb magazin | September 2024

Wir prüfen derzeit jeden einzelnen Fall, ob er so hätte belegt werden müssen. Diese Kultur des Misstrauens zerstört unsere Versorgung. Das ist Gift, das stößt junge Menschen ab. Wir brauchen weniger Ökonomie.“ Vielstimmige Kritik Die geplante Krankenhausreform steht im Kreuzfeuer der Kritik aus Politik und Fachverbänden. Einige Beispiele: Nach Auffassung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) verkennt das Bundesgesundheitsministerium die reale Versorgungssituation. Die geplanten sektorenübergreifenden Versorgungszentren, in denen auch hausärztliche Versorgung stattfinden soll, seien nicht praktikabel, weil es bereits einen Mangel an Hausärzten gebe. Der Hausärzteverband (HÄV) befürchtet in diesem Zusammenhang eine „Verstationärung“ der Versorgung und kritisiert, dass Gelder, die für die Versorgung in den Praxen benötigt werden, in ineffiziente Krankenhausstrukturen umgeleitet werden sollen. Der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-SV) hat die Universität Hamburg ein Gutachten erstellen lassen, das Teile der Reform als verfassungswidrig einstuft. Insbesondere die geplanten Änderungen in der Finanzierung und bei den Qualitätsstandards könnten demnach rechtliche Probleme verursachen. Die Liste der Kritiker ließe sich noch weiter fortführen. Zwar sieht auch die Politik die Notwendigkeit einer Krankenhausreform, ist sich über deren Ausgestaltung jedoch alles andere als einig. Alle 16 Bundesländer haben sich gegen die Reformpläne ausgesprochen. Die Kritik: Die versprochene Auswirkungsanalyse fehle, was zu einer Reform im Blindflug führen könnte. Zudem sei die geplante Vorhaltefinanzierung unzureichend, da sie weiterhin fallabhängig ist und kleine Krankenhäuser benachteiligen könnte. Die Vorsitzende der Gesundheitsministerkonferenz (GMK), Kerstin von der Decken, zeigte sich von den bisherigen Ergebnissen der gemeinsamen Arbeit an der Reform enttäuscht. In einem Brief an Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach fordern die Länder deshalb eine umfassendere und transparentere Planung: Die bisherigen Ergebnisse aus der Redaktionsgruppe für die Krankenhausreform entsprächen nicht dem gemeinsam beschlossenen Eckpunktepapier vom 10. Juli 2023. Verfassungsbruch mit Ansage? Nicht nur der GKV-Spitzenverband hegt verfassungsrechtliche Bedenken. Auch auf der Länderseite gibt es Zweifel. Einige Bundesländer, darunter Bayern, Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg, haben ein Gutachten vorgelegt, das die Reform als potenziell verfassungswidrig einstuft. Weiter könne eine Verabschiedung des Gesetzes ohne Zustimmung des Bundesrates rechtliche Probleme verursachen – der Bundesgesundheitsminister hatte angekündigt, das Gesetz so zu formulieren, dass der Bundesrat nicht zustimmen muss. Den Ländern bliebe dann nur die Möglichkeit, im Nachhinein gegen das Gesetz zu klagen. Auch der dbb hatte im April 2024 schriftlich Stellung zum KHVVG genommen. Darin begrüßt er zwar die Intention des Gesetzentwurfes, die stationäre Versorgung nachhaltig zu reformieren und die Finanzierung stärker am Bedarf auszurichten. Jedoch dürfe eine derart grundlegende Reform nicht übers Knie gebrochen werden. „Die Länder fühlen sich in ihren Kompetenzen beschnitten und die Krankenhäuser fürchten Schließungen.

© Erdacht mit KI (3) Das führt zu großer Verunsicherung bei den Bürgerinnen und Bürgern. Zudem darf das Personal keinesfalls zum Spielball von Rationalisierungen durch die Förderung von Klinikzusammenlegungen werden. Denn das verunsichert wiederum die Beschäftigten und ist für die Maßnahmen gegen Fachkräftemangel absolut kontraproduktiv“, sagte dbb Chef Ulrich Silberbach am 29. April 2024. Der dbb habe sich zwar positiv zu den vorgesehenen Spezialisierungen einzelner Krankenhäuser geäußert, da sie die Versorgungsqualität erhöhen. Wichtig sei aber, den Spielraum für Ausnahmen zu reduzieren, beispielsweise für die nachzuweisenden Mindestfallzahlen bei komplexen Eingriffen. „Das würde sonst dem ursprünglichen Qualitätsversprechen zuwiderlaufen“, so Silberbach. „Wir sind froh, dass die fallzahlunabhängige Finanzierung nun endlich kommt, damit ausreichend Betten und Leistungen zur Verfügung stehen. Das nimmt wirtschaftlichen Druck von den Kliniken, der bisher häufig auf den Rücken der Patienten und des Personals abgeladen wurde“, erklärte Silberbach. Ein großer Erfolg für den dbb sei die Ausweitung der vollständigen Refinanzierung der tarifvertraglichen Entgeltsteigerungen auf alle Krankenhausbeschäftigten. Der dbb hatte das lange gefordert. „Damit ist endlich auch die Problematik der Definition der ‚Pflege am Bett‘ vom Tisch“, unterstrich Silberbach. Unausgewogene Maßnahmen Gleichwohl seien die zur Finanzierung des Strukturwandels vorgesehene Maßnahmen unausgewogen und die Finanzierung überwiegend zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) aus Sicht des dbb der falsche Weg. Bei einer so grundlegenden Reform der medizinischen Versorgung müssten alle Akteure angemessen finanziell beteiligt werden. In diesem Zusammenhang kritisiert der dbb, dass sich die Ausgestaltung der individuellen Vorhaltebudgets der Krankenhäuser jeweils an Leistungskomponenten, aber weder an der regionalen Versorgungssituation noch an der Bevölkerungsstruktur oder medizinisch-technischen Kriterien orientiert. Die ebenfalls im Gesetzentwurf vorgesehenen Neuregelungen zur Förderung von Konzentrationsprozessen in der stationären Versorgung bewertet der dbb ebenfalls nicht nur positiv. Zwar ermöglichen die Vereinbarungen über künftige Ausrichtung und Tausch oder Verlagerung von Leistungsgruppen Spezialisierungen, die dem Patientenwohl dienen. Kritisch sei jedoch die Addition der Fallzahlen der betroffenen Träger, weil die eigentlich für die Zusicherung der entsprechenden Leistungsgruppe vorgesehene Mindestfallzahl nicht durch Addition erreicht wird, sondern jeweils im eigenen Haus erfolgen muss. „Hier wird also eigentlich sinnvolle Effizienz im Sinne von Verschlankung der Versorgungsinfrastruktur auf Kosten möglicher Qualitätsrisiken billigend in Kauf genommen“, heißt es in der Stellungnahme. Im Hinblick auf die flächendeckende Versorgungsinfrastruktur sieht der dbb künftig gesetzlich vorgegebene Maximalentfernungen oder -fahrzeiten zum nächstgelegenen Grundversorger kritisch: „Unabhängig vom Eingriff des Bundes in die Verantwortlichkeiten der Länder können pauschale Vorgaben nicht den regionalen Gegebenheiten Rechnung tragen und laufen der ursprünglich intendierten besseren Versorgung in der Fläche entgegen.“ Auch dürfe nicht die GKV allein mit den Zuschlägen für bedarfsnotwendige Kliniken im ländlichen Raum belastet werden, denn auch dort würden Privatversicherte behandelt. „Gesundheitsinfrastruktur ist Teil der Daseinsvorsorge und somit eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.“ Aus Sicht des dbb muss die Finanzierung der Neuordnung der Krankenhauslandschaft auf starke Schultern verteilt werden. So heißt es in der Stellungnahme: „Der Bund darf sich trotz Haushaltsmisere nicht um seinen Beitrag drücken. Neben Steuermitteln für den Gesundheitsfonds müssen auch die privaten Krankenversicherungen ihren Beitrag leisten, schließlich profitieren auch ihre Versicherten von einer künftig besseren Versorgungslandschaft.“ Weiter kritisiert der dbb, dass bei vielen positiven Vorhaben wie der vollständigen Tarifrefinanzierung, der Einführung von Vorhaltepauschalen und Leistungsgruppen sowie der Einbindung der Kurzzeitpflege in die sektorübergreifende Versorgung viele Fragen ungeklärt blieben. Es bestehe die Gefahr einer Zentrierung der Versorgung in großen Krankenhäusern und damit verbunden einem weiter wachsenden Versorgungsgefälle zwischen Stadt und Land. Die Finanzierung der Reform zum großen Teil aus Mitteln des Gesundheitsfonds sei unausgewogen und werde mit ziemlicher Sicherheit Auswirkungen auf die Beitragssätze haben. br/krz 12 FOKUS dbb magazin | September 2024

REPORTAGE Gesundheitskioske Bürgernahe Versorgung to go in Gefahr Cagla Kurtcu leitet die Gesundheitskioske in Hamburg und kümmert sich als Advanced Practice Nurse um die Patienten. Süßigkeiten und Tabak – typische Waren, die man in einem Kiosk kaufen kann. Im Gesundheitskiosk gibt es die sicher nicht. Einblicke in ein Konzept, das aktuell politisch auf der Kippe steht, obwohl es laut Träger sehr erfolgreich ist und seine Kosten mittelfristig einspielt. Eigentlich sollte es um die Mutter gehen, die einen Schlaganfall hatte: Sie schafft es einfach nicht, ungesunde Lebensgewohnheiten abzulegen, zu groß der Stress. In der Beratung stellt sich heraus: Ihr Sohn leidet unter Autismus. Bisher hat niemand eine entsprechende Diagnose gestellt. Das medizinische Personal vermittelt den Kontakt zu einer sozialen Einrichtung, welche die Mutter entlastet, damit sie sich fortan auch um ihre eigene Gesundheit kümmern kann. Heute geht es ihr besser. „Das ist ein Beispiel für eine Erfolgsstory, wir spüren die Dankbarkeit und Erleichterung, wenn wir den Menschen helfen können“, sagt Cagla Kurtcu, die Leiterin des Gesundheitskiosks. Die Idee hinter dem Konzept: eine niedrigschwellige Beratung schaffen und die Prävention verbessern, und das vor allem in sozioökonomisch benachteiligten Bezirken. Gesundheitskioske arbeiten an der Schnittstelle zwischen Medizin und Sozialarbeit, vermitteln bei Bedarf zu Fachärzten oder zur Suchtberatung. Beratungsgespräche mit medizinisch geschultem Personal, mal den Blutdruck messen, medizinische Nachsorge – all das gehört zu den Dienstleistungen. Die Mitarbeitenden sprechen mehrere Sprachen und haben interkulturelle Kompetenzen. Sie überwinden Sprachbarrieren, wenn etwa Menschen mit Migrationshintergrund die Diagnose ihres Arztes nicht richtig verstanden haben. Oder unterstützen, wie im Falle eines blinden Mannes, der aufgrund seiner Sehbehinderung nicht in der Lage war, die Nachsorge einer Operation alleine zu bewerkstelligen. Zu finden sind die Gesundheitskioske dort, wo viel Publikumsverkehr herrscht. „So können wir unsere Zielgruppe am besten erreichen“, erklärt Kurtcu. „Die Leute können spontan vorbeikommen.“ Dass es funktioniert, lässt sich an der hohen Frequenz ablesen, mit der Ratsuchende den Kiosk betreten. Direkt und ohne Hemmschwelle Ein Montagvormittag, das Einkaufszentrum im Hamburger Stadtteil Bramfeld: Die Rolltreppe hinunter, vorbei am Supermarkt, rechts befindet sich ein Bäcker. Viel ist nicht los, eine ältere Dame war gerade einkaufen, die Tüten vorne im Korb ihres Rollators. Gegenüber vom Bäcker verharrt sie vor einem Bildschirm, liest aufmerksam: „Treppensteigen, Fenster putzen oder ein Spaziergang: Kommen Sie dabei schnell außer Atem? Dahinter kann eine (chronische) Erkrankung der Lunge stecken. Sind Sie betroffen?“ Prompt wechselt die Anzeige, weiter geht es im Text: „Nichtraucher sein lohnt sich! …“ Der Bildschirm gehört zum Gesundheitskiosk, der in einem Häuschen untergebracht ist, mitten im Einkaufszentrum. Wer durch die Schiebetüren geht, steht an einem großen Tresen, wie man ihn aus Arztpraxen kennt. Dahinter, im Zimmer mit den großen Scheiben, teils mit milchigem Sichtschutz beklebt, findet gerade eine Beratung statt. Ganz hinten eine Wand, zahlreiche Broschüren in der Halterung, zu diversen gesundheitlichen Themen: Ernährung, Herz-Kreislauf, Sucht. FOKUS 13 dbb magazin | September 2024

Aktuell gibt es bundesweit insgesamt sieben Gesundheitskioske; zwei in Essen, jeweils einen in Aachen, Köln und Solingen sowie zwei Hauptstandorte in Hamburg: in Billstedt – und eben hier in Bramfeld. „Die medizinische Versorgung geht meist dorthin, wo das Geld ist“, sagt Alexander Fischer, Geschäftsführer der Trägergesellschaft der Hamburger Gesundheitskioske. Mit anderen Worten: in wohlhabendere Bezirke. Dies führe dazu, dass es in den ärmeren Bezirken lediglich eine ausgedünnte Versorgungsstruktur gibt, wo die Arztpraxen im Hinblick auf Sprache und Kultur komplexeren einem Patientenklientel gegenüberstehen. „Eine Folge sind sehr lange Wartezeiten“, erklärt Fischer. „Und daraus folgt wiederum, dass Patienten Krankheiten verschleppen, in die Notaufnahme gehen und stationär abwandern.“ Letzteres ist mit hohen Kosten verbunden und nicht im Sinne einer guten medizinischen Versorgung. Vor diesem Hintergrund hat die in der Region ansässige Ärzteschaft die Initiative ergriffen und 2017 im Hamburger Stadtteil Billstedt den ersten Gesundheitskiosk ins Leben gerufen. Die AOK Rheinland/Hamburg war von Anfang an mit im Boot, außerdem weitere Krankenkassen und die Stadt Hamburg. Die Finanzierung erfolgte zunächst über den Innovationsfonds des Bundes. Nach der dreijährigen Förderphase zog der verantwortliche Innovationsausschuss ein positives Fazit – und empfahl, das Konzept des Gesundheitskiosks in die Regelversorgung zu übertragen. Heißt: es in einen gesetzlichen Rahmen zu gießen. Doch das ist bis heute nicht passiert. Von ursprünglich fünf beteiligten Krankenkassen ist außer der AOK nur noch eine weitere dabei. Warum ist die AOK noch an Bord und übernimmt aktuell die Finanzierung? „Schlicht und einfach, weil wir von dem Konzept überzeugt sind“, sagt Matthias Mohrmann, stellvertretender Vorstandsvorsitzender der AOK Rheinland/Hamburg. Es sei leider so, dass nicht alle Menschen dieselben Gesundheitschancen haben. Wer sozioökonomisch benachteiligt ist, leide öfter unter chronischen Erkrankungen und habe eine geringere Lebenserwartung. „Als gesetzliche Krankenkasse sehen wir es als unseren Auftrag, Versorgung gerechter zu gestalten und damit für mehr Chancengleichheit zu sorgen“ – es gehe darum, dass alle Patientinnen und Patienten mit ihrer Erkrankung den richtigen Weg finden. Das System sinnvoll ergänzen Im Gesundheitskiosk können sich die Mitarbeitenden Zeit nehmen, sie vermitteln zu den geeigneten Stellen. Mohrmann: „Das ist sinnvoll, bevor jemand wie eine Flipperkugel durchs Gesundheitssystem irrt und schlimmstenfalls niemals ankommt.“ Die regionale Ärzteschaft sei für diese Form der Entlastung sehr dankbar. Ist die Behandlung erfolgt, koordiniert der Gesundheitskiosk gegebenenfalls die Nachsorge und steht bei Fragen als Ansprechpartner zur Verfügung. Dinge, für die im stressigen Praxisbetrieb oft keine Zeit bleibt. „Der Gesundheitskiosk ist keine Parallelstruktur, sondern eine sinnvolle Ergänzung des bestehenden Systems“, betont Alexander Fischer. Alle Ärztinnen und Ärzte könnten mit dem Gesundheitskiosk zusammenarbeiten, darauf liege der Fokus; es gehe nicht darum, Patientinnen und Patienten abzuwerben. Auch andere Länder, unter anderem Skandinavien, hätten mit dem Konzept Praktikantin Morsal Hosseini und die ausgebildete Pflegefachkraft Frida Schindler empfangen die Patienten. AOK-Vorstand Matthias Mohrmann wünscht sich die Verankerung der Gesundheitskioske im Sozialgesetzbuch. Raum ist in der kleinsten Hütte: Das Ambiente präsentiert sich offen und modern. 14 FOKUS dbb magazin | September 2024

bereits gute Erfahrungen gemacht. „Ich hoffe sehr, dass wir die Gesundheitskioske in die Regelversorgung bekommen. Es wäre fatal, ein funktionierendes System jetzt einfach aufzugeben.“ Doch das könnte passieren – wenn es so kommt, will die AOK Rheinland/Hamburg die bestehenden Gesundheitskioske dennoch weiter finanzieren. Aktuell befindet sich das sogenannte Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetz (GVSG) im parlamentarischen Verfahren. Die Gesundheitskioske waren Teil des Entwurfs, sind es derzeit aber nicht mehr. Das hat verschiedene Gründe: Gesundheitsminister Karl Lauterbach, grundsätzlich Sympathisant des Konzepts, hatte medienwirksam verkündet, in ganz Deutschland 1 000 Gesundheitskioske eröffnen zu wollen. „Das hat der Sache nicht genützt“, erklärt Mohrmann. Der Minister habe das Projekt in eine finanzielle Dimension gehoben, in die es gar nicht gehört. Bei jährlichen Kosten in Höhe von 400 000 Euro pro Kiosk ergebe sich eine enorme Summe. „Dabei sind nach unserer Einschätzung bundesweit 50 bis 100 Gesundheitskioske ausreichend“, so der AOK-Vorstand. Zwar hatte Lauterbach die Zahl zwischenzeitlich wieder nach unten korrigiert; das konnte die FDP Medienberichten zufolge allerdings nicht überzeugen. Die Liberalen halten das Konzept für zu teuer und ineffizient. „Das Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetz liegt vor allem bei den Punkten richtig, die nicht mehr erwähnt werden – und auch nicht mehr reinverhandelt werden. Namentlich die Gesundheitskioske, für die weder Geld noch Bedarf ist“, wird Andrew Ullmann, gesundheitspolitischer Sprecher der FDP, in einer Pressemitteilung zitiert. „Anstelle der Gesundheitskioske wäre es angebracht, die Apotheken im Bereich der Erstversorgung zu stärken.“ Noch lässt sich die Idee retten Dass der GVSG-Entwurf endgültig ist, sieht Mohrmann – im Gegensatz zu FDP-Politiker Ullmann – anders: „Theoretisch besteht durchaus die Möglichkeit, dass wir die Gesundheitskioske im parlamentarischen Verfahren wieder ins Gesetz bekommen, dafür ist es ja da“, sagt er. Ähnlich hat sich auch Gesundheitsminister Lauterbach geäußert. Offene Fragen bestehen auch im Hinblick auf die Finanzierung. Laut Entwurf – der nun vorerst vom Tisch ist – sollten die gesetzlichen Krankenkassen 74,5 Prozent der Kosten zahlen, die privaten 5,5 und die Kommunen 20 Prozent. Dazu hatte der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen (GKV) erklärt: „Die mit den Gesundheitskiosken verbundene Zielsetzung, die gesundheitliche Chancengleichheit zu stärken, ist auch ein wichtiges Anliegen der Krankenkassen, die sich bereits heute umfassend um ihre Versicherten kümmern“ – die zum damaligen Zeitpunkt geplante Ausgestaltung der Gesundheitskioske sei hingegen im Kern kommunale Sozialarbeit, heißt es. Deshalb müssten sie primär von den Kommunen und nicht, wie ursprünglich vorgesehen, primär aus den Krankenkassenbeiträgen der gesetzlich Versicherten und ihrer Arbeitgebenden bezahlt werden. „An der Kostenverteilung ließe sich sicher noch schrauben“, sagt AOK-Vorstand Mohrmann. Im Fall der beiden Essener Gesundheitskioske sei es bereits so, dass die Kommune 50 Prozent der Kosten trage. Insgesamt wäre der Optimalfall, dass die Politik die Gesundheitskioske und gleichzeitig eine Kostenbeteiligung der anderen Sozialleistungsträger im Sozialgesetzbuch verankert. Dann wären alle Krankenkassen im Boot, die Finanzierung gesichert und ein klarer gesetzlicher Auftrag gegeben. Mohrmann mit Blick auf das parlamentarische Verfahren: „Hoffen wir das Beste!“ Das hofft auch Cagla Kurtcu, die auf weitere Erfolge des Gesundheitskiosks blickt: Da gibt es den übergewichtigen Jugendlichen, der kurz davor war, Medikamente zu schlucken, um abzunehmen, es dann aber nach der Beratung doch nicht musste. Die Mittdreißigerin, die Blutdruckdrucksenker nahm, sie aber nach einer Ernährungsumstellung wieder absetzen konnte. Und nicht zuletzt die junge, alleinerziehende Mutter, ihr Kind am Rande der Unterernährung. Auch für sie hat der Gesundheitskiosk diverse Hilfen in die Wege leiten können. Als Dank habe die junge Frau gesagt: „Ich bete jeden Abend für den Gesundheitskiosk.“ cdi Alexander Fischer, Geschäftsführer der Trägergesellschaft der Gesundheitskioske, sieht in dem Konzept viele Vorteile. Mittendrin: Der Gesundheitskiosk befindet sich im Basement des Einkaufszentrums. © Jan Brenner (7) FOKUS 15 dbb magazin | September 2024

STUDIE Häusliche Pflege Hohe Belastung führt zu Erwerbsminderung Eine aktuelle Befragung des AOK-Bundesverbandes zeigt: Häusliche Pflege hat für viele Erwerbstätige direkte Auswirkungen auf das Arbeitsleben. Fast jede vierte Hauptpflegeperson im Alter zwischen 18 und 65 Jahren hat die Erwerbstätigkeit aufgrund der Übernahme von häuslicher Pflege reduziert oder ganz aufgegeben. Paradox ist, dass nur wenige Pflegende Entlastungsleistungen beantragen, obwohl sie sich mehr Unterstützung wünschen. Pflegende Angehörige wenden für die Versorgung zu Hause nach wie vor viel Zeit auf: Im Jahr 2013 gaben die Befragten 43 Wochenstunden an, 2023 lag diese Zahl bei 49 Stunden pro Woche für pflegende Tätigkeiten wie Körperpflege, Ernährung, Medikamentenstellung und Hilfe in der Nacht. Diese hohe zeitliche Belastung ist auch mit Blick auf die Erwerbstätigkeit relevant: Lediglich 46 Prozent der Hauptpflegepersonen im erwerbsfähigen Alter üben eine Tätigkeit in Vollzeit aus. Von denen in Teilzeit gibt rund die Hälfte an, die Arbeit aufgrund der Pflegeverpflichtungen reduziert zu haben, 28 Prozent haben ihre Erwerbstätigkeit aus diesem Grund sogar ganz aufgegeben. Das sind zentrale Ergebnisse einer nach Pflegegraden repräsentativen Umfrage des Instituts Forsa für den Monitor 2024 des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO). Für die Studie befragte das WIdO im August und September 2023 rund 1 000 Hauptpflegepersonen im häuslichen Setting. Da eine Vorgängerbefragung des WIdO aus dem Jahr 2019 vorliegt, sind Aussagen zur Entwicklung der Situation von pflegenden Angehörigen im Zeitverlauf möglich. Mit einem Versichertenanteil von etwa 50 Prozent unter den Pflegebedürftigen ist die AOK nach eigenen Angaben die größte Pflegekasse Deutschlands. Der Druck steigt „Die Belastungen, die aus der Pflege- und Betreuungsarbeit entstehen, waren und bleiben hoch“, sagt Dr. Antje Schwinger, Leiterin des Forschungsbereichs Pflege im WIdO. „Abzulesen ist dies am wöchentlichen Stundenvolumen sowie am Belastungsscore. Jeder vierte Befragte gab und gibt an, hoch belastet zu sein und die Pflegesituation ‚eigentlich gar nicht mehr‘ oder ‚nur unter Schwierigkeiten‘ bewältigen zu können.“ Als Maß zur Ermittlung der Belastung wird die sogenannte „Häusliche-Pflege-Skala“ (HPS) zugrunde gelegt, die anhand von zehn Fragen unter anderem zur körperlichen Erschöpfung, Lebenszufriedenheit und psychischen Belastung vergleichbare Werte liefert. Sowohl für 2019 als auch für 2023 ergab die HPS-Skala für knapp 26 Prozent der befragten Pflegepersonen eine hohe Belastung. Am stärksten betroffen sind Haushalte, in denen Menschen mit Demenzerkrankung oder einem Pflegegrad ab drei betreut werden. „Die Umfrage legt nahe, dass der hohe zeitliche Aufwand von durchschnittlich 49 Wochenstunden direkte Auswirkungen auch auf die Erwerbsarbeit hat und eine Work-Life-Care-Balance für viele schwer zu erreichen ist“, sagt Schwinger. 52 Prozent derjenigen in Teilzeit sagten, dass sie die Arbeitszeit im Beruf aufgrund der Übernahme von Pflege reduziert hätten, und 28 Prozent der nicht erwerbstätigen pflegenden Angehörigen gaben an, vor der Übernahme der Pflege erwerbstätig gewesen zu sein. Insgesamt waren 46 Prozent der befragten Pflegepersonen im erwerbsfähigen Alter in Vollzeit beschäftigt und 37 Prozent in Teilzeit. 18 Prozent gaben an, nicht erwerbstätig zu sein. Das Vereinbarkeitsproblem trifft dabei überwiegend Frauen, denn sie stellen mit 67 Prozent den Großteil der Hauptpflegepersonen im erwerbstätigen Alter. Der WIdOmonitor 2024 fragte auch nach den vom Gesetzgeber geschaffenen Entlastungsangeboten für eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Pflege. Die Mehrheit der Befragten kennt diese Angebote zwar, hat sie aber bislang kaum in Anspruch genommen. So haben nur drei Prozent von der Möglichkeit Gebrauch © Getty Images/Unsplash.com 16 FOKUS dbb magazin | September 2024

gemacht, sich bis zu sechs Monate vollständig oder teilweise von der Arbeit freistellen zu lassen. 73 Prozent der Befragten ist das Angebot aber bekannt. Das Anrecht, in einer akuten Pflegesituation bis zu zehn Tage bei Bezug von Lohnersatzleistungen der Arbeit fernzubleiben, haben mit 13 Prozent etwas mehr Personen in Anspruch genommen, hier kennt allerdings nur etwa die Hälfte (55 Prozent) der befragten erwerbstätigen Hauptpflegepersonen ihren Leistungsanspruch. Steigende Kosten Neben dem zeitlichen Aufwand entstehen bei der häuslichen Pflege auch Kosten. In der Befragung von 2023 gaben weniger als die Hälfte (45 Prozent) der Teilnehmenden an, es seien Kosten für Leistungen wie den Pflegedienst oder die Tagespflege entstanden, die nicht von der Pflegekasse übernommen oder erstattet wurden. 2019 war dieser Anteil mit 39 Prozent etwas geringer. Die mittlere Höhe der Zuzahlungen ist zwischen 2019 und 2023 gestiegen: 2019 lag der Eigenanteil noch bei rund 200 Euro, 2023 belief er sich auf 290 Euro. Am meisten ausgegeben wurde 2023 im Schnitt für Pflegedienste (325 Euro pro Monat) und Tagespflege (299 Euro), am wenigsten für Kurzzeit- und Verhinderungspflege (103 Euro beziehungsweise 87 Euro). Die Varianz der finanziellen Belastungen ist jedoch erheblich. Die Befragung zeigt unter anderem, dass Haushalte, in denen Menschen mit Demenz oder einem höheren Pflegegrad leben, überproportional hinzuzahlen. Ein höheres Haushaltseinkommen geht hingegen nicht mit dem Hinzukaufen von mehr Dienstleistungen einher. Schwinger: „Insgesamt zeigt sich trotz des etwas gestiegenen Anteils derer, die Zuzahlungen leisten müssen, und trotz leicht gestiegener Kosten für die Zuzahlungen im Vergleich zu 2019 in der häuslichen Pflege eine deutlich geringere finanzielle Belastung als in der vollstationären Pflege. Hier lagen die nach Wohndauer gestaffelten Zuschläge 2023 im Mittel bei 874 Euro.“ Die Mehrheit der Pflegebedürftigen nutzt jedoch weiterhin die vorhandenen Unterstützungsleistungen nur wenig. So gaben 32 Prozent der Befragten an, den Pflegedienst genutzt zu haben, 34 Prozent die Verhinderungspflege und jeweils acht Prozent die Tages- und Kurzzeitpflege. Allein der Entlastungsbetrag für niedrigschwellige Angebote wird von jedem Zweiten genutzt (49 Prozent). Antje Schwinger zu den Ursachen: „Hauptgrund für die Nichtinanspruchnahme von Unterstützungsleistungen durch pflegende Angehörige ist laut Umfrage, dass die zu pflegende Person nicht von Fremden versorgt werden möchte. Fehlende Angebote vor Ort werden dagegen nur von einer Minderheit als Ursache genannt und auch Kostengründe spielen lediglich für rund jeden Fünften eine Rolle.“ Mehr Unterstützung gewünscht Gleichzeitig wünschten sich diejenigen, die die Angebote nutzen, mehr davon: Mehr Hilfe bei der „Körperpflege, Ernährung und Mobilität“ wünschten sich 2023 62,5 Prozent, 2019 waren es noch 49 Prozent. 2023 wünschten sich 59 Prozent „Hilfe bei der Führung des Haushalts“, 2019 sagten dies nur 50 Prozent. Insgesamt wünschten sich besonders die nach HPS-Skala als hoch belastet eingestuften Pflegehaushalte mehr Entlastung (91 Prozent gaben dies an); dies betrifft auch solche, in denen Angehörige mit Demenz (69 Prozent) oder einem Pflegegrad größer als zwei (68 Prozent) versorgt werden. Schwinger: „Die Situation in der ambulanten Pflege ist weiterhin nicht zufriedenstellend – allerdings nicht insgesamt, sondern in Bezug auf Haushalte mit spezifischen Bedarfskonstellationen. Fragen nach Bedarfsgerechtigkeit, Zielgenauigkeit und Entlastungswirkungen von ambulanten Pflegeleistungen müssen auf der Reformagenda priorisiert werden.“ Die AOK-Vorstandsvorsitzende Dr. Carola Reimann möchte die Barrieren, die dazu führen, dass Unterstützungsleistungen nicht abgerufen werden, abbauen. „Trotz Ausweitung gezielter vom Gesetzgeber geschaffener Möglichkeiten zur Entlastung von pflegenden Angehörigen gehen Angebot und Nachfrage weit auseinander. Der WIdOmonitor zeigt beispielsweise, dass nur drei Prozent von der Option Gebrauch gemacht haben, sich bis zu sechs Monate vollständig oder teilweise von der Arbeit freistellen zu lassen, obwohl die Mehrheit der Befragten ihren Anspruch kennt. Wir müssen besser verstehen, welche Hürden zur Inanspruchnahme weiterhin bestehen oder ob das Angebot die tatsächlichen Bedürfnisse der Angehörigen nicht adäquat abholt.“ Überdies öffne es der Altersarmut in der nächsten Generation der zu Pflegenden Tür und Tor, wenn pflegende Angehörige, die überwiegend Frauen sind, ihre Arbeitszeit reduzieren oder ganz aufhören zu arbeiten. Gleichzeitig fehlten diese Menschen heute auf dem ohnehin schon engen Arbeitsmarkt, unter anderem auch in der beruflichen Pflege. „Was wir brauchen, sind neue Angebote für eine wirklich funktionierende Work-Life- Care-Balance. Denkbar sind hier die Einführung von Hauspflegegemeinschaften, der Ausbau von Nachbarschaftshilfe und bürgerlichem Engagement sowie die Schaffung besserer Beratungsangebote, damit die Haushalte, die sich mehr Entlastung wünschen, diese auch schnell, zielgerichtet und ohne bürokratische Hürden bekommen.“ _ Viele Senioren wünschen sich Pflege zu Hause statt im Pflegeheim. © Sandra Seitamaa/Unsplash.com FOKUS 17 dbb magazin | September 2024

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